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Bibliomanische FAB / [S_2]
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Am Feierabend rette ich mich, sagte Salvatore, in die
Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze ich
inmitten der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber
setze ich über auf eine Insel, und wenn ich die ersten
Sätze anfange zu lesen, so kommt es mir jedesmal vor,
als rudere ich weit auf das Wasser hinaus. Einzig dank
dieser allabendlichen Lektüre bin ich heute noch
halbwegs zurechnungsfähig. (W. G. Sebald: Schwindel.
Gefühle)
Am Feierabend rette ich mich, sagte Salvatore, in die
Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze
ich inmitten der Lärmflut der Redaktion, am Abend
aber setze ich über auf eine Insel, und wenn ich die
ersten Sätze anfange zu lesen, so kommt es mir
jedesmal vor, als rudere ich weit auf das Wasser
hinaus. Einzig dank dieser allabendlichen Lektüre bin
ich heute noch halbwegs zurechnungsfähig. (W. G.
Sebald: Schwindel. Gefühle)
Ich war fasziniert von Philip, der irgendwo im
Mittleren Westen eine Collegebibliothek leitete. "Er
hat viel von dir", sagte meine Mutter. "Eine Leseratte.
Hat seine Nase ständig in Büchern." Ich war ganz
bestimmt keine Leseratte, hatte es aber geschafft,
diesen Eindruck bei ihr zu erzeugen. Wenn ich gefragt
wurde, was ich den ganzen Nachmittttag über
getrieben hatte, sagte ich nie: "Ach, masturbiert",
oder: "Mir vorgestellt, wie es aussähe, wenn ich mein
Zimmer scharlachrot streichen würde." Stattdessen
sagte ich, ich hätte gelesen, wie das Buch hieß oder
woher ich es hatte, sondern sagte immer nur: "Na,
fein." (David Sedaris: Nachtprogramm, S. 67)
Als ich mich meinem Rätsel zuwandte, zog Becky ein
Taschenbuch hevor, so eins mit eingestanzter Schrift
auf dem Umschlag. Ich versuchte, den Titel zu erkennen,
aber sie drehte das Buch gleich näher zum Fenster. Wie
seltsam, daß man den Blick eines anderen auf sein Buch
oder seine Zeitschrift so deutlich spürt wie eine
Berührung. Und es funktioniert auch nur beim
geschriebenen Wort. (David Sedaris: Schöner wird's
nicht, S. 126)
In der ersten Nacht kann ich nicht einschlafen und stehe im Saal.
Da liegt nun mein Hausrat, Füllsel eines großen Möbelwagens, auf
dem spiegelblanken Parkett. Noch ist es eine einzige Wirrnis: aus
einer Barrikade vertrauter Schränke, Truhen, Kommoden wächst ein
Berg von Büchern, einem erstarrten Erdrutsch ähnelnd. Die fünf
beleibten Sessel, provisorisch weggeräumt, stehen an die Wand
gedrückt in gerader Reihe. Dort mokieren sie sich, das ist klar;
bilden eine Abwehrphalanx gegen das eingedrungene Neue - aber ihr
werdet euch schon vertragen und einen Kompromiß eingehen! (...)
Die Damaststores sind vorgezogen, es ist tiefste Nacht, jener
kälteste Moment des Lebens zwischen halb drei und halb vier; ich
stehe unter meinen Büchern; tot blinken die Deckel,
hieroglyphenhaft die wohlbekannten Titel. Intimstes steht oder
liegt da, nackt und vereinsamt unter der Bestrahlung. Zuweilen
webt ein Knistern durch den Raum: die aufeinander geschachtelten
Bücherbretter zirpen einander die Frage zu: "Ist dies endlich die
letzte Station?" (Willy Seidel: Alarm im Jenseits)
Was sollte ich tun? Lesen? Das hatte ich einmal
getan an einem ähnlich leeren Abend. Nie wieder!
Ich spürte den alten Unwillen meiner Knabenzeit
gegen Bücher, die Scham vor bloß erfundenem, gar
nicht gültigem Leben. Wenn etwas erfunden werden
mußte, wenn dieses zusammengeschusterte Leben gar
zu dürftig war, dann wollte ich selbst der
Erfinder sein, doch nicht auf Papier. (Anna
Seghers: Transit)
Als kleines Kind, als ganz kleines Kind,
bevor ich in die Schule kam und im ersten Jahr, in dem
ich in die Schule ging, war ich oft krank, und dabei
lernte ich verhältnismäßig früh lesen und dadurch auch
schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich, weil ich
allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle
möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte,
und manchmal schrieb ich auch drei Sätze, sozusagen zu
Abziehbildern. (Anna Seghers)
Anna Seghers: "Am allerliebsten schreibe ich auf einem
Schiff oder in einem ganz vollen Cafe, und das sind
zwei Möglichkeiten, die es bekanntlich in Berlin nun
mal nicht gibt. Warum ich das nun so gern habe? Weil
dann viele Menschen um mich herum sind, ich bin nicht
allein, aber diese vielen Menschen lassen mich in Ruhe,
sie kümmern sich nicht um mich. Wenn ich genug Ruhe
hätte hier in Berlin - leider habe ich das nicht, weil
jede Woche, jeder Tag mit neuen überflüssigen Sachen
kommt -, dann würde ich unbedingt jeden Tag, wie es
sich gehört, einige Stunden arbeiten. Meiner Meinung
nach brauche ich das, braucht das jeder schreibende
Mensch, weil man mit seinem Stoff und mit seinen
Fähigkeiten vertraut bleiben muß in jedem Beruf. Ich
frage mich manchmal, was würden denn die Ärzte sagen,
wenn man sie mitten aus einer Operation herausrufen
würde, Metallarbeiter oder ein Mensch am Hochofen!
Gerade mitten in dieser Arbeit müßte er Gott weiß wo
hingehen, ans Telefon, ich weiß nicht, weshalb."
(Christa Wolf: Ein Gespräch mit Anna Seghers)
Selten entstand in unserer Sprache ein dichterisches
Gesamtbild der Gesellschaft. Große, oft erschreckende,
oft für den Fremden unverständliche Einzelleistungen,
immer war es, als zerschlüge sich die Sprache selbst an
der gesellschaftlichen Mauer... Bedenkt die
erstaunliche Reihe der jungen, nach wenigen übermäßigen
Anstrengungen ausgeschiedenen deutschen Schriftsteller.
Keine Außenseiter und keine schwächlichen Klügler
gehören in diese Reihe, sondern die Besten: Hölderlin,
gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch
Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderrode, gestorben
durch Selbstmord, Kleist durch Selbstmord, Lenz und
Bürger im Wahnsinn. Das war hier in Frankreich die Zeit
Stendhals und später Balzacs. Diese deutschen Dichter
schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen
gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wundrieben.
Sie liebten gleichwohl ihr Land." (Anna Seghers; in:
Christa Wolf: Glauben an Irdisches)
"Auch wenn Shakespeare, Homer, Cervantes auferständen -
sie könnten den neuen Schriftstellern die
Unmittelbarkeit ihrer Grunderlebnisse nicht schenken."
In einer Zeit, da der "Besitz" einer bestimmten
literarischen Methode fast schon als Garantie für
künstlerisches Gelingen gilt, betont Anna Seghers den
unersetzlichen Wert der Unmittelbarkeit, verteidigt sie
die Ursprünglichkeit der Kunst, ihre Originalität und
Neuheit, das Wagnis des "Sehens", das jeder Künstler
allein und auf seine einmalige Weise auf sich nehmen
muß. Gegenüber einer Theorie, die den Schriftsteller in
die Rolle eines passiven Spiegels der objektiven
Realität zu drängen suchte, hebt Anna Seghers die
aktive Arbeit des Autors hervor, der ein Produkt seiner
Zeit, aber auch ein schöpferisches Subjekt ist, das den
Mut und die Verwantwortung finden muß, rücksichtslos
"auf die Realität loszusteuern", keine "Furcht vor
Abweichung" vom unmittelbaren Erlebnis zu haben, da
diese Furcht "entrealisierend" wirkt, aber auch nicht
auszuruhen auf dem "Vollbesitz der Methode" (Christa
Wolf: Glauben an Irdisches)
Da hat der Autor oft jahrelang mit seinem Werk gelebt,
sich in eine immer speziellere Sensibilität
hineingesteigert, sich zum Instrument seiner selbst
gesetzten Aufgabe gemacht und dabei das entstehende
Werk notwendig narzisstisch immer höher besetzen müssen
– und dann kommt so ein Sausack daher, liest die Sache
in ein paar Stunden ’runter und erledigt sie dann in
wenigen scharf geführten Hieben unter der brausenden
Schadenfreude der Umstehenden. Es kann Grässlicheres im
Seelenleben eines Menschen kaum geben.
Besonders rational geht es ja weder im kritischen
Gewerbe noch in den Reaktionen der betroffenen Künstler
zu. Autoren mögen zuweilen um sich schlagen, aber
Kritiker zielen nicht selten unter die Gürtellinie.
Dass Thomas Mann im Bett ein Flop sein könnte, das
deutete Alfred Kerr, der gern Thomas Manns Frau Katja
geheiratet hätte, mit taktloser Insistenz immer wieder
an. Wie zur Strafe auch dafür vollzog wiederum Karl
Kraus an ebendiesem Kerr eine metaphorische
Hinrichtung, nach der dieser ausdrücklich nur noch
sollte "röcheln" können. "Nur wer vernichten kann, kann
kritisieren", fasste Walter Benjamin die spezielle
deutsche Literaturstreitmanie seiner Zeit in ein
Gesetz.
Empfindlichkeit ist gar kein Ausdruck für das, was
zwischen Künstlern und Kritikern meistens herrscht.
Der Kampf ist unvermeidbar und auch deshalb
existenziell. Er berührt die Gemüter in Tiefen, aus
denen gefährliche Reaktionen erwachsen können.
Seit Luther aus dem Namen seines Gegners Dr. Eck
den Punkt entfernte und ihn so zu "Dreck" machte, ist
die Reihe unflätiger Streitereien unter Autoren und
ihren Kritikern nicht abgerissen. Die Heftigkeit der
Auseinandersetzungen ist dabei nationenübergreifend,
und sie zeigt sich in allen Genres der Kunst.
in Kritiker-Kollege lief einmal mit einer Schramme im
Gesicht herum, die jener George W. Bushs nach seinem
"Pretzel"-Unfall glich. Peter Handke habe ihn als
"Strafe für alle dummen und bösartigen Artikel in
unserer Zeitung" geschlagen, versicherte mit
Grabesstimme der Kollege, der die Wunde tagelang
sorgfältig am Leben erhielt. Thomas Mann schlug nicht
um sich, doch hielt er nächtliche Hasswellen sorgfältig
im Tagebuch fest. Goethe nannte einen seiner
literarischen Feinde ein "Arschgesicht". Als Herder ihm
zu seinem Drama "Die natürliche Tochter" erklärte "Dein
natürlicher Sohn ist mir lieber", brach der entrüstete
Goethe den Kontakt ab.
Zwar hat man das Recht, einen Leser aufzuschrecken,
ihn zu überrumpeln, ihn zum Nachdenken oder in
seinem tiefsten Innern zu einer Reaktion zu
veranlassen; man kann ihn natürlich auch kaltlassen,
an ihm vorbeigehen, ihn verfehlen oder ihm fehlen.
Niemals aber darf man ihn in die Irre führen, dazu hat
man kein Recht; niemals darf es geschehen, daß er
nicht mehr weiß, woran er ist, auf welchem Weg,
auch wenn er nicht weiß, wohin dieser Weg ihn führt.
(Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen, S. 78)
Als ich in den Regalen stöberte, habe ich plötzlich die
kartonierten gelben Bände der bei Rowohlt
erschienenen Werke von Faulkner entdeckt. Ich werfe
immer einen Blick auf die Bibliothek der Menschen,
bei denen ich eingeladen bin. Anscheinend bin ich
manchmal zu freimütig, zu beharrlich oder
inquisitorisch, man hat es mir vorgeworfen. Aber
Bibliotheken sind erregend, weil aufschlußreich.
Ebenso das Fehlen einer Bibliothek, das Fehlen von
Büchern in einem Lebensraum, der dadurch tödlich
wird. (Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen,
S. 79)
[Titus]
Kommt, räumt nun auf: Lavinia, geh mit mir
Ich folg dir in dein Zimmer, lese dir
Leidvolle Märchen vor aus alter Zeit.
Komm, Knabe, folge mir: dein Aug ist jung,
Und du sollst lesen, wenn sich meines trübt.
[William Shakespeare: Titus Andronicus]
Ich bliebe vor einem dieser Fenster stehen und sah ein
Regal voller Bücher, sogar ihr Geruch drang durch das
Fenster, der Geruch nach jahrealtem Staub und
vergilbtem Papier, vermutlich war es gerade die
Jahreszeit. in der die Bücher blühten, zusammen mit den
Zitrusbäumen, und vielleicht waren ihre Blüten weniger
auffallend, dafür aber beruhigender, und ich atmete den
bekannten Geruch ein, es war der gleiche Duft, der von
dem Buch aufstieg, das mir der Dekan gegeben hatte, und
plötzlich war ich sicher, daß dieses Haus voller Bücher
das Haus des Dekans war, hier spielte sich sein ruhiges
Leben ab, hier spazierte er von Buch zu Buch, und mich
packte die Lust, durch das große Fenster einzusteigen
und mich zwischen die Regale zu setzen, einem Stapel
Bücher auf den Tisch zu legen und darauf meinen müden,
kranken Kopf. (Zeruya Shalev: Liebesleben, S. 321f.)
Es wurde keine einzige Kultur entdeckt, in der das Leben des
Stammes nicht von Geschichtenerzählern nacherzählt wurde.
Unser elementares Verlangen nach erzählerischer Klarheit
zeigt sich übrigens auch darin, daß gewisse Formen der
Lügengeschichte oder des Ammenmärchens erfunden
wurden - unsinnige Darstellungen von Ereignissen, in denen
die Episoden ohne Form und Plan wiedergeben werden. Solch
schiere Willkür bringt uns zum Lachen. Manche modernen und
"postmodernen" Autoren haben im Ringen um Originalität
diese Form der Formlosigkeit aufgegriffen. (Roger Shattuck:
Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 120)
Die größte Schwierigkeit bietet dieses winzige Werk dann,
wenn man sich anschickt, es laut zu lesen; dies ist die wahre
Bewährungsprobe für Leser, Gedicht und Zuhörer. Welcher
Stimmklang wird dem Gedicht gerecht? "Die Feder hat so viele
Farben, aber eine Stimme hat nur eine." Diese ernüchternde
Feststellung, die Dickinson 1876 in einem Brief an Higginson
traf, sollte nicht als Aufforderung verstanden werden, das
Gedicht stumm zu lesen, sondern die wahre Klangfarbe einer
realen Stimme zu finden. (Roger Shattuck: Tabu. Eine
Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 165/66)
Stephane Mallarme beschrieb die Einstellung der Symbolisten
gegenüber der Sprache auf höchst prägnante Weise: Etwas
zu 'benennen' bedeutet, Dreiviertel des Genusses eines
Gedichts zu zerstören, der darin besteht, sich einer Sache
nach und nach zu nähern und sie allmählich zu erahnen. Das
Ideal ist die 'Andeutung'" ("Sur l'evolution litteraire", 1869).
Diese Äußerung verdient auch jenseits der symbolistischen
Doktrin Beachtung, Mallarme meint, es gibt Gefühle und
Geisteszustände, die so subtil sind, daß man sich ihnen am
besten indirekt nähert, durch klangliche und sinnhafte
Evokation. Wenn ich so klare, eindeutige Worte wie
beispielsweise "Verlegenheit" oder "Wut" verwende, reduziere
ich einen komplexen emotionalen Zustand auf ein Stereotyp,
auf eine vermeintlich allgemeingültige Begrifflichkeit und somit
auf eine Karikatur seiner selbst. Der Dichter Paul Valery zog
daraus die volle Konsequenz: "Etwas wirklich zu sehen
bedeutet, dessen Namen zu vergessen." Das aufregendste
Unterfangen der Sprache besteht darin, die Sprache nicht
mehr gemäß ihren gängigen Formen zu verwenden. Nichts
sollte allzu klar sein. Die Imagination braucht ein Milieu des
Geheimnishaften, in dem sie wirken kann. Dieselbe literarische
Unverfälschtheit schwebte auch Flaubert vor, als er sich
empört dagegen verwahrte, 'Madame Bovary' illustrieren zu
lassen. Das wäre schlimmer, als Namen zu nennen! (Roger
Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen
Wissens, S 152f.)
In ihrem innersten Wesen vermittelt die Literatur ein
schmerzliches Bewußtsein von dem Schleier des
Nichtwissens, der unsere persönlichsten Lebenserfahrungen
begleitet. In unvorhergesehenen Momenten mag das
Bewußtsein unsere Absichten durchkreuzen. Die Lebensnähe
eines Werkes läßt sich unter anderem daran messen, ob es
Intervalle von bedeutungsvollem Schweigen schaffen und
aushalten kann. Anton Tschechow wußte, daß die
eindringlichsten Augenblicken auf der Bühne wortlos sind.
(Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen
Wissens, S. 393)
Für mich ist das Arbeitszimmer meines Vaters mit den bis
zur Decke reichenden Bücheregalen, mit den
Butzenscheiben, durch die man im Hintergrund eines
mittelalterlichen Hofs das Atelier Delacroix' sah, das Urbild
eines Ortes geblieben, wo es sich gut leben läßt. (Georges
Simenon: Im Falle eines Unfalls, S. 64)
Es regnet. Es ist Sonntag. Ein grauer Nachmittag im
Spätherbst. Mein Radio ist leise gestellt. Ich liege
auf dem Bett und lese. Die Zeit ist stehengeblieben.
Ich empfinde ein tiefes Gefühl des Wohlseins. Ich mag
den Regen, der mich davon abhält, zum Spielen nach
draußen zu gehen. Ich erinnere mich nicht an die Titel
der Bücher oder an das Jahr, doch solche mit Büchern
verbrachten Augenblicke sind meine glücklichsten
Erinnerungen. Ich fing früh an zu lesen, weil mein
Vater eine große Bibliothek besaß. Sogar in meinem
Zimmer standen ernste Bücher. Sie machten mich
neugierig. Zuerst blätterte ich durch die Seiten auf
der Suche nach Abbildungen, dann sah ich die Worte an,
bis ich mit Hilfe meiner Eltern lesen lernte. Im Alter
von zehn war ich verliebt in Bücher. Meine Freunde
lasen auch. Und gefielen Western, Agentengeschichten,
Abenteuerromane, Comics. Diemeisten dieser Bücher waren
vor dem Krieg veröffentlicht worden, und der Nachschub
war begrenzt. Es war möglich, und die passierte
schließlich auch mir, alle in unserem Freundeskreis
vorhandenen Bücher gelesen zu haben. Sie konnten nicht
in Buchhandlungen erstanden oder aus Büchereien
entliehen werden. Wir bekamen die Bücher von älteren
Leuten. Dann reichten wir sie weiter. Es gab auch lange
Zeitabschnitte, in denen es nichts Neues zu lesen gab.
Ich mußte mich an die Bibliothek meines Vaters halten.
Ich las Zola, Dickens und Dostoevskij zuerst aus reiner
Langeweile. Dann hat es mich gepackt. "Oliver Twist"
mochte ich sehr. "Große Erwartungen" war noch schöner.
Thomas Manns "Zauberberg" war unmöglich zu lesen. Ich
mochte die ersplitsen Volksballaden und - gedichte,
andere Poesie ließ mich dagegen kalt. [...] Das
Bedürfnis zu lesen hat mich nie verlassen. Ich lese
immer noch jede Art von Bücher über jede Art von Thema.
Folglich weiß ich von vielerlei Dingen ein wenig. In
einer guten Bibliothek könnte ich leben und sterben,
aber ich habe keine besonders Achtung vor großer
Gelehrsamkeit. Mir ist die Silbenstecherei, zu der
Gelehrsamkeit neigt, verdächtig. Und doch scheint es
mir unmöglich, es könnte jemand nicht wissen wollen,
was in Büchern steht.
"Jemand hat behauptet, die Engländer seien die zehn
verschollenen Stämme. Und daß sie deshalb die Bibel so
sehr lieben. Kürzlich habe ich in der Fourth Avenue für
fünf Cents ein Buch gekauft, das beste, das ich je
gelesen habe. Es heißt "Spirituelle Ehen" Den Namen des
Autors weiß ich nicht mehr. Das Buch ist mir gestohlen
worden." "Wer stiehlt den so alte Bücher?" fragte Max.
"Die Leute stehlen alles. Freud hat sene gesamte
Theorie aus zwei Seiten der Gemara Berachot, Kapitel
ha-roch, gestohlen. Spinoza stahl aus dem Schir ha-
ischud, das in der Nacht von Jom Kippur rezitiert wird.
Ich habe eine Theorie, daß Geister existieren, deren
Aufgabe es ist, zu stehlen. Nachts lege ich ein Buch
auf meinen Tisch, und am Morgen ist es verschwunden.
Ich bin schon so weit, daß ich, wenn ich ein wirklich
gutes Buch entdeckt habe, es in einem U-Bahn-
Schließfach aufbewahre. Aber auch von dort wird es
gestohlen. (Isaac B. Singer: Meschugge, S. 32)
"Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich alles
durchgemacht habe, während des Krieges und auch hier in
Amerika, dann würden Sie das verstehen. Eine ganze Welt
ist vor meinen Augen zusammengebrochen. Aber Sie, mein
Lieblingsautor, erwecken sie wieder zum Leben." "Hast
du das gehört" rief May. "Das ist das größte Kompliment,
das ein Leser einem Schriftsteller machen kann." (Isaac
B. Singer: Meschugge, S. 41)
"Ist schon einmal ein Roman über jemanden wie mich
geschrieben worden, über Liebschaften und
Verstrickungen wie meine?" Verglichen mit meiner
Situation kam mir die erzählende Literatur, die ich
las, simplifizierend vor, ohne echte Komplikationen.
Soweit ich es beurteilen konnte, war niemand in diesen
Büchern so arm wie ich, ausgenommen vielleicht der
Protagonist in Hamuns Hunger. Er ließ sich aber nicht
auf Liebesaffären ein, er phantasierte nur. (Isaac B.
Singer: Meschugge, S. 78)
Was für ein Schriftsteller war ich denn? Ich hatte kein
einziges Buch veröffentlicht. Es war ein kalter, nasser
Tag. Gegen Abend begann es zu schneien. Ich ging die
Lesznostraße entlang, zitternd in meinem dünnen Mantel,
und stellte mir vor, ich hätte ein Werk geschrieben,
das die Welt auf das höchste erstaunen würde. Aber
womit könnte man die Welt noch in Erstaunen versetzen?
Mit keinem Verbrechen, keinem Elend, keiner sexuellen
Perversion und keinem Wahnsinn. (Isaac Bashevis Singer:
Schoscha, S. 24)
Ich spüre, wie gesagt, in Kafka
eine große Begabung, aber um ehrlich zu sein, sind die
literarischen Vorbilder dieser Generation nicht meine
Vorbilder, weder Kafka noch Joyce. Ich muß mir Mühe
geben, sie zu lesen, und ich finde Romane, die einem
Mühe bereiten, nicht gut. Wenn man vom 'Prozeß'
ungefähr fünfzig Seiten gelesen hat, weiß man, worauf
das Ganze hinausläuft. Ich weiß dann schon, daß wir nie
erfahren werden, worin das Verbrechen eigentlich
besteht, und deshalb bin ich von Kafka und Joyce nicht
so begeistert wie die meisten anderen Leute. Ich bin
nicht einmal von Proust besonders begeistert. Er hat
achtzehn Bände über seine Familie geschrieben, und das
ist zuviel. Ich meine, es sollte ein Gesetz geben, daß
Bücher nicht mehr als tausend Seiten haben dürfen. Ich
halte nichts von erzwungener Lektüre, wenn Studenten
von ihren Professoren zum Lesen gezwungen werden oder
wenn sie sich selber dazu zwingen müssen. Meiner
Meinung nach soll Literatur in erster unterhalten, und
deshalb ist die Quantität genauso wichtig wie die
Qualität. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)
Kunst muß uns Vergnügen bereiten, und weder Kommentare
noch Fußnoten sollten uns dieses Vergnügen erklären
wollen. Sicherlich gibt es ungebildete Leser, die an
Kitsch ihre Freude haben. Aber in meinen Augen ist die
Freude am Kitsch immer noch besser als der Masochismus
derjenigen Leser, die aus Pflichtbewußtsein lesen oder
weil sie auf einer literarischen Modewelle mitschwimmen
wollen. Gewiß, alle großen Autoren haben sich geplagt,
aber keiner von ihnen wollte, daß sich auch seine
Leser plagen müßten. Ganz im Gegenteil, sie wollten sie
beim Lesen ihre Sorgen vergessen lassen. Aber heute
gibt es eine ganze Menge Schriftsteller, denen es Spaß
macht, ihre Leser zu quälen. Sie wollen die Leute
verunsichern und langweilen. Sie weinen sich an der
Brust des Lesers aus, und das wird dann auch noch als
die Hauptaufgabe des sogenannten ernsthaften
Schriftstellers ausgegeben. Die wirklich großen
Künstler haben ihren Lesern aber nur Freude bereitet,
sogar mit ihren Tragödien. (Isaac Bashevis Singer: Ich
bin ein Leser; S. 35/36)
Als ich noch jung war, habe ich Bücher gelesen, ohne
mich darum zu kümmern, von wem sie waren. Es hat mich
nicht interessiert. Als ich zwölf war, habe ich Tolstoi
gelesen, aber ich hatte keine Ahnung, daß es Tolstoi
war. Ich wußte nicht einmal, daß es sich um eine
Übersetzung handelte. Mir war das auch einerlei. Mich
interessierte nur die Geschichte, nicht der Verfasser.
Den Namen Dostojewski konnte ich gar nicht aussprechen,
aber das war mir egal, denn ein richtiger Leser, vor
allem wenn er jung ist, kümmert sich andererseits wenig
um die Geschichte; ihn interessiert vor allem der
Autor. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich die
Leute so sehr für den Autor interessieren, daß die
Geschichte schon fast zweitrangig ist, und das ist
schlimm. Viele der heutigen Leser wären gern selber
Autoren. Deshalb interessiert es sie, wie ein Buch
gemacht ist und wer es gemacht hat. Aber der gute
Leser, der richtige Leser kümmert sich, wenn er jung
ist, nicht weiter darum, wer Tolstoi war und was er
war. Er will einfach das Buch lesen und seinen Spaß
daran haben. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser;
S. 38)
Kinder sind wunderbar, weil sie sich als Leser
nicht beeinflussen lassen. Ein Kind würde nie ein Buch
lesen, nur weil es von einem "berühmten Autor", also
einem Mann mit großem Prestige stammt. Die Tatsache,
daß etwas von Shakespeare geschrieben wurde, macht auf
ein Kind keinen Eindruck, Es sieht sich die Geschichte
an und beurteilt dann selbst, ob sie ihm gefällt oder
nicht. Mit Kritiken kann man einem Kind nicht
imponieren. Man kann nicht einfach sagen: "Das ist ein
großartiges Buch, denn der Kritiker Soundso hat
gesagt, daß es großartig ist." Kinder kümmern sich
nicht um Kritiker, denn sie sind selber Kritiker. Kein
Kind liest ein Buch deshalb, weil viel Reklame dafür
gemacht worden ist. Im Grunde sind Kinder viel
kritischere Leser als die Erwachsenen, die sich von
Experten, Kritikern und Reklame in der 'New York Times'
oder im Fernsehen beeindrucken lassen. Kindern kann man
in bezug auf Literatur nicht so leicht etwas vormachen
wie Erwachsenen. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein
Leser; S. 39)
Wenn die Leute sich ein Bild kaufen, muß es unbedingt
ein Picasso sein. Sie sind nur an dem Namen Picasso
interessiert. Manchmal gefällt das Bild dem Käufer gar
nicht, aber die Hauptsache ist ja, daß es von Picasso
stammt. Dieser Fluch liegt auch auf der Literatur. Wenn
Literatur und Kunst nur noch etwas für die ganz
"Gebildeten" sind und ein Personenkult entsteht, dann
ist das ein Zeichen dafür, daß die Kunst selbst kein
Interesse mehr findet und der Künstler eine Art von
Idol geworden ist. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein
Leser)
Der Mensch leidet mehr als jedes andere Wesen unter
Langeweile. Manchmal glaube ich, die Langeweile beginnt
schon im Mutterleib. Es sterben mehr Menschen vor
Langweile als wir ahnen. Die Aufgabe der Kunst ist es,
die Langeweile zu vertreiben und nicht, sie noch
schlimmer zu machen (was unfähige Autoren und Kritiker
aber häufig tun). Die Politiker haben ein sehr
einfaches Mittel gegen die Langeweile, nämlich den
Krieg oder die Revolution. Die Kunst dagegen soll für
eine weniger gefährliche Art von Spannung sorgen. Es
gibt keine Entschuldigung für Literatur, die nicht
unterhaltend ist oder dem Leser nicht hilft, der
Eintönigkeit des Lebens zu entfliehen. (Isaac Bashevis
Singer: Ich bin ein Leser)
Für eine Geschichte braucht man Figuren. Anstatt mir
nun welche auszudenken, rufe ich mir Personen ins
Gedächtnis, die mir im Lauf meines Lebens begegnet sind
und die in diese Geschichte passen würden. Manchmal
verbinde ich zwei Personen miteinander und mache eine
einzige Figur daraus. Oder ich nehme jemanden, den ich
in diesem Land kennengelernt habe, und versetze ihn
nach Polen, oder umgekehrt. Auf jeden Fall muß ich aber
ein Vorbild habe. Gute Maler benutzen ja auch Modelle.
Sie wissen, daß es in der Natur mehr Überraschendes
gibt, als unsere Phantasie je erfinden könnte. Wenn man
ein Vorbild heranzieht, eine Person, die man kennt,
dann nähert man sich bereits dadurch der Natur mit all
ihren Überraschungen, Absonderlichkeiten und
Eigenarten. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)
Sie sehen hin, und dann malen sie. Manchmal fragt man
sich: "Wozu sieht er sich diese Person zum tausendsten
Mal an? Er hat dieses Gesicht doch schon gesehen." Aber
das stimmt nicht. Jedesmal, wenn der Maler aufblickt,
sieht er etwas anderes, eine neue Variante. Und das ist
sehr wichtig. Ich finde, es ist ein großes Unglück, daß
die Literatur aufgehört hat, Modelle zu betrachten.
Manche Autoren sind dermaßen an irgendwelchen Ismen und
Ideologen und Theorien interessiert, daß sie glauben,
ein Modell könne dem kaum noch etwas hinzufügen. Dabei
sind all diese Theorien und Ideen im Nu überholt,
während das, was die Natur uns bietet, nie überholt
ist. Was die Natur erschafft, hat eine Hauch von
Ewigkeit an sich. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein
Leser; S. 20)
Es ist ungerecht, wenn Leute sich beschweren, daß ein
Autor sich wiederhole, denn wenn er sich nicht
wiederholte, würde er seinen elementaren Bedürfnissen
zuwiderhandeln. Jeder Autor muß über seinen eigenen
Themen schreiben, und diese hängen mit seinen zentralen
Leidenschaften zusammen, mit dem, was ihn beschäftigt
oder bedrückt. Daraus erklärt sich zum Teil der Reiz
eines Autors und das, was an ihm unverwechselbar ist.
(Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)
Ich glaube, es ist nicht gut, wenn sich ein Autor
hinsetzt und sagt: "Ich werde jetzt die Menschliche
Komödie oder die Menschliche Tragödie oder das Paradox
der Ehe oder was auch immer darstellen. Am besten
setzt man sich hin und schreibt so, wie einem im
Augenblick zumute ist, und später, wenn man ein Leben
lang gearbeitet hat, mag ja irgendein Kritiker
darangehen und alles einem übergeordneten Standpunkt
oder einer Philosophie zuordnen. Ein Autor sollte sich
aber nicht um so etwas kümmern. Er sollte über sein
eigenes Milieu und seine eigenen Leidenschaften
schreiben und nicht den Versuch machen, den "größten
Roman aller Zeiten" zu schreiben, den Universalroman,
der niemandem mehr etwas zu sagen übrigläßt. So etwas
ist ein törichter Ehrgeiz, denn in späteren
Generationen wird es viele, viele neue Talente geben,
die andere Ansichten und Leidenschaften haben und aus
anderen Milieus stammen. Was hat denn Proust getan? Er
hat seine Familie beschrieben, weiter nichts. Zu
behaupten, seine Familie verkörpere die ganze Welt, ist
eine maßlose Übertreibung. Das menschliche Leben ist
doch millionenfach reicher als alles, was uns ein
Schriftsteller, und sei er noch so bedeutend, jemals
geben kann. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser;
S. 91)
Ich zeigte meinem Bruder das erste Kapitel meines
Romans, und seine Reaktion war positiv. Abe Cahan, der
Herausgeber des "Forward" hatte es auch gelesen und
eine freundliche Bemerkung darüber gedruckt. Ich sollte
fünzig Dollar die Woche bekommen, so lange die
Fortsetzungen erschienen - für jemanden wie mich war
das eine phantastische Summe. Die Schriftsteller, die
bei Nescha Zimmer gemietet hatten, waren schon
eifersüchtig auf mich, aber ich wußte im Innersten, daß
etwas bei dieser Arbeit nicht stimmte. In mein
Notizbuch hatte ich mir die drei Charakterisitika
notiert, die ein Roman besitzen mußte, um erfolgreich
zu sein. 1. Er muß eine genaue und spannende Handlung
haben. 2. Der Verfasser muß den leidenschaftlichen
Wunsch haben, dieses Werk zu schreiben. 3. Der Autor
muß der Überzeugung sein, oder zumindest die Illusion
haben, der einzige zu sein, der dieses besondere Thema
behandeln kann. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in
Amerika, S. 303)
"Haben Sie nie für Erwachsene geschrieben", fragte ich, von der
Dringlichkeit in meiner Stimme peinlich berührt. Der Regen war jetzt
stetiger geworden. Es regnete nur noch gleichmäßig, ohne stärker zu
werden. "Ich habe auch auf diesem Gebiet gesündigt", gab sie zu,
"aber mir wurde bald klar, daß Literatur für Erwachsene nicht mein
Fach war. Ich habe nicht die nötige Geduld dafür. Aber für
Kinderbücher habe ich die Geduld. Es ist mir selbst ein Geheimnis,
da ich mir nicht so viel aus Kindern mache. Ich habe nicht einmal
welche. Ich bin geschieden." "Aha." "Wenigstens habe ich nicht das
Leben eines unschuldigen Kindes ruiniert." (Isaac B. Singer: Old
Love. Geschichten von der Liebe)
Ich gehe an den Regalen in der Bibliothek vorbei. Die
Bücher kehren mir den Rücken zu. Nicht wie Menschen, um
mich abzuweisen, sondern einladend, um sich
vorzustellen. Buchmeter um Buchmeter, die ich niemals
werde lesen können. Und ich weiß: Was sich hier
anbietet, das ist Leben, das sind Zusätze zu meinem
eigenen Leben, die darauf warten, in Gebrauch genommen
zu werden. Aber so rasch, wie die Tage verfliegen,
bleiben die Möglicheiten liegen - verlassen. Eines
dieser Bücher könnte ausreichen, um mein Leben ganz und
gar zu verändern. Wer bin ich jetzt? Wer wäre ich dann?
(Simen Skjonsberg: Der grausame Genuß - Texte über die
Geheimnisse des Lesens)
Was das deftige Lesepensum angeht, war es aber so, daß das Talent
meiner Mutter, der verhinderten Musentochter, in mir viel stärker
durchkam als der großväterliche Einfluß. Ich habe einfach das
praktiziert, was sie der Umstände halber nicht hatte tun können.
Ich glaube ja, daß Lesen, zumindest wie ich es von jung auf geübt
hatte, der Versuch ist, den Text Zeile für Zeile und Wort für
Wort innerlich zu vertonen und zu verfilmen. Wenn man richtig
liest, löst man einen innerlichen kreativen Prozeß aus. Die
meisten Leser inzensieren einen Film. Weswegen es überhaupt kein
Wunder ist und mediengeschichtlich konsequent, daß der Roman des
18. und 10. Jahrhunderts in die Erzählkino-Kultur des 20.
Jahrhunderts übergegangen ist. (Peter Sloterdijk)
Diesen Fehler machte sie immer wieder in ihren
Beziehungen zu Männern: sie unterstellte ihnen aus
ihrer eigenen Vorliebe für Literatur und Literaten, daß
auch sie literarisch interessierte Frauen bevorzugten.
Und es kam ihr nie in den Sinn, daß Männer, auch
Literaten, wenn sie überhaupt Frauen mögen, nicht
Literatinnen, sondern eben Frauen haben wollen.
(Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten,
S. 105)
Dichter lasen ihre Gedichte, jeder zwei, und fanden
Beifall. Manche dieser Dichter sollten scheitern und
in wenigen Jahren schon im Niemandsland der Kneipen
von Soho verschwinden, wo sie dann zu den bekannten
Versagern des literarischen Lebens zählten. Einige
vielseitig Begabte strauchelten rechtzeitig, weil es
ihnen an Ausdauer fehlte, sie gaben auf und nahmen
eine Beschäftigung in der Werbung oder im Verlagswesen
an und haßten von da ab Literaten mehr als alles andere.
(Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten)
"Warum schreiben Sie?" Doch noch ein dickes Ende! So oft
hatte ich mir schon vorgenommen, endlich mal eine kurze,
plausible Antwort auf diese stets wiederkehrende Frage aller
Fragen zu finden - nie war mir das bisher gelungen. Ich
verstand, offen gesagt, nicht einmal richtig den Sinn dieser
Frage. So blieb es auch diesmal nur wieder bei einem
Gestammel, das aber wohlwollend quittiert wurde. Ernsthaft
schien wohl niemand eine richtige Antwort darauf zu
erwarten. Das war mehr ein Spiel. Und mit meinem nach
längerem Hin und Her ans Licht gebrachten Resultat, daß
man das so genau wohl gar nicht sagen könne, war man
allgemein einverstanden, das hatte man sich wohl noch so
gedacht. (Jens Sparschuh: Lavaters Maske, S. 120)
Am nächsten Abend, während ich so tat, als würde ich
gemeinsam mit Monika aufmerksam das Fernsehprogramm
verfolgen, ruhte mein Blick gedankenschwer auf dem
Buchregal. In der Ratgeberliteratur wird empfohlen,
Bücher, die einem nicht gefallen haben, auszusortieren,
um Platz für neue zu schaffen. Nun stellte sich bei
vielen der Bücher diese Frage überhaupt nicht, da wir
sie ja gar nicht gelesen hatten. Aber auch was die
Bücher betraf, die von uns gelesen worden waren und die
uns gefallen hatten, galt es gründlich aufzuräumen -
und zwar mit völlig falschen Vorstellungen! Im
Gegensatz zu obigem Ratschlag stellte sich nämlich die
Frage ganz anders: Wäre es nicht viel vernünftiger,
gerade jene Bücher wegzugeben, die uns gefallen haben?
Sie haben schließlich einmal ihren Zweck erfüllt, es
kann also nur schlechter werden mit ihnen: Plötzlich
gefallen sie uns nicht mehr. Und wer sagt denn, daß ein
Buch, das mir gestern nicht gefiel, mir nicht gerade
heute sehr gut gefallen könnte? Ließe ich ihm diese
Chance nicht, es wäre ein Todesurteil. Das Aussortieren
war äußerst schwierig. Deshalb versuchte ich es
zunächst mit einer Neuordnung. Zusammenfassend muß ich
sagen: Alle mir bekannten Ordnungssysteme versagten auf
die eine oder andere Weise. Die chronologische Ordnung
(etwa nach Erscheinungs- oder Anschaffungsjahr) kam von
vornherein nicht in Frage. Dieses System ist lediglich
bei amtlichen Schriftwechseln angebracht. Die in
Bibliotheken üblichen Ordnung nach Sachgebieten erwies
sich ebenso als schwierig. Monikas bevorzugte Bücher
waren Romane, die sich hartnäckig einer sinnvollen
Zuordnung zu Themen- oder Sachgebieten widersetzten
(später dazu mehr). Blieb also nur das gute alte
Alphabet. Aber auch dieses bewährte System versagte:
Hier gerieten Autoren und Bücher nebeneinander, die
überhaupt nichts miteinander zu tun hatten. Das
Alphabet brachte mir nur alles noch mehr durcheinander.
Außerdem zeigte sich ein technisches Problem: Wegen der
unterschiedlichen Buchformate mußte es
Ausnahmeregelungen geben (überformatige Bücher:
liegend, unten), die unterschiedliche Höhe der Bücher
erzeugte zudem auf ihnen ideale, weil schmale, für
Putzlappen kaum erreichbare Staubablageflächen, die
sich nicht vermeiden ließen. Fazit: Man kann Bücher in
Privathaushalten überhaupt nicht sinnvoll ordnen! Die
vernünftigste und platzsparendste Methode ist noch
immer, sie der Größe nach einzuräumen. (Jens Sparschuh:
Im Kasten, S. 23f.)
Beim Wegstellen der Freud-Bände, hoch oben auf der Leiter,
schwankte ich plötzlich: Wohin, zum Beispiel, mit Groddeck? Auf
dem Höhepunkt meiner Freud-Studien - genauso richtig wäre zu
sagen: auf dem Tiefpunkt - hatte ich dieses Taschenbuch mit dem
Titel "Briefe über das Es" in einer hellbraunen Bücherkiste
(einem Ex-Bananenkarton der Firma Dole) vor einem Antiquariat
entdeckt und leichtsinnig ein paar Euro dafür investiert. Jetzt
schlug ich es auf, ich wollte wissen, wo ich das Fähnchen meines
Lesezeichens eingepflanzt hatte. Auf S. 56 las ich, was Georg
Groddeck seinerzeit an Freud geschrieben hatte: "Wir sind nun
darin übereingekommen, daß auch Kant das 'Ding an sich', das nach
ihm ja unerkennbar ist, aufgrund des Kastrationskomplexes
erfunden hat, in den Onanieangst und hermaphroditische Komplexe
hineinspielen. Das Ding an sich wäre danach das Ding an Kant..."
Ganz klarer Fall: blaue Tonne! Von oben ließ ich es hinabfallen,
unten staubte es auf. (...) Auf meinem Weg ins Bett schickte mir
der aussortierte, schon am Boden liegende Groddeck noch einen
letzten, heimtückischen Gutenachtgruß zu. Wahrscheinlich hatte er
sich seiner Herkunft aus einem ausgedienten Premium-Bananas-
Karton erinnert, jedenfalls verwandelte sich das im nachtdunklen
Flur herumliegende Groddeck-Taschenbuch unter meinem blinden Fuß
in eine Art Bananenschale - ich kam ins Schlittern und wäre
hingestürzt, wenn ich mich nicht noch im letzten Moment irgendwo
festgekrallt hätte. Schwer atmend hing ich im Wechselrahmen der
Tür: das letzte schiefe Bild des Tages. (Jens Sparschuh: Ende der
Sommerzeit)
Ich lese sehr viel, am liebsten aber Gedichte. Sie sind
eine andere Form von Musik. Singen und Sagen fallen
ja ursprünglich zusammen. Bei Homer etwa oder den
babylonischen Hymnen. Auch die Psalmen des Alten
Testaments wurden gesungen. Sprache und Musik
sind zwei, die eins sind, und vielleicht sind die
Psalmen gerade deshalb so grandios vertont worden
von Palestrina, Schütz und Bach. (...) Warum lesen
wir Gedichte? Vielleicht, weil wir’s müssen. Weil
Gedichte Lebensmittel sind. Der Zeitungsleser will
„dabei sein“, der Leser von Gedichten sucht dagegen
die Einsamkeit, die große Stille, das Atmen und
Wahrnehmen dessen, was über die alltäglichen Dinge
des Lebens hinausgeht. Er will keine Antworten,
sondern Fragen wiederfinden, auf die er bisher noch
nicht gestoßen ist und auf die es vielleicht gar keine
Antworten gibt: Wer bin ich? Und: Was ist die Welt?
(Arnold Stadler)
Allerdings braucht man fürs Lesen eine spezielle
Begabung wie für Sport, Mathematik oder Musik. Ein
Buch ist wie eine Partitur, und der Leser muss diese
Partitur wie ein Dirigent zu lesen verstehen. (...) Ein
Buch kommt erst zur Vollendung, wenn es den
kundigen Leser gefunden hat, sonst ist es tot. (...) So
muss man lesen und über Literatur schreiben. In
diesem Sinne rate ich immer, langsam zu lesen, um
hineingezogen zu werden in ein Buch, das eine Welt
ist, statt den Zeitvertreib zu suchen oder die schnelle
Nutzanwendung. Bücher stiften in diesem Sinne
fruchtbare Irritationen. Sie bringen die
Terminkalenderexistenz des Menschen durcheinander.
Literatur, wie ich sie verstehe, bietet dem Leser eine
der wenigen Möglichkeiten, über die Sprache zu sich
selbst zu kommen. Sie ist das Gegenteil der täglichen
Glückspropaganda. Schon deshalb, weil Schriftsteller
Chronisten des Unglücks sind, das als Glück gedacht
war. Das scheint mir eine der wenigen brauchbaren
Definitionen von Literatur und Autorentum zu sein.
Schriftsteller müssen den ganzen Menschen und die
ganze Welt im Blick haben, die immer aus beidem
besteht: aus Glück und Unglück.
(Arnold Stadler)
"Ich bin immer traurig, wenn ich ein Buch zu Ende
gelesen habe", sagte Agnes. "Es ist, als sei ich zu
einer Person des Buches geworden. Und mit der
Geschichte endet auch das Leben dieser Person. Aber
manchmal bin ich auch froh. Dann ist das Ende wie
die Befreiung aus einem bösen Traum, und ich fühle
mich ganz leicht und frei, wie neugeboren. Ich frage
mich manchmal, ob die Schriftsteller wissen, was sie
tun, was sie mit uns anstellen." (Peter Stamm: Agnes,
S. 120)
"Ich lese nicht mehr viel", sagte Agnes, "vielleicht
deshalb. Weil ich nicht mehr wollte, daß Bücher
Gewalt über mich haben. Es ist wie ein Gift. Ich habe
mir eingebildet, ich sei jetzt immun. Aber man wird
nicht immun. Im Gegenteil." (Peter Stamm: Agnes,
S. 120)
Anne stellte den Kaffeebecher auf den Tisch mit der
runden Marmorplatte und den schwarzen Metallbeinen, den
Elaine triumphierend aus einem Trödelladen in Apt
geschleppt hatte, um ihn dann raffiniert als Nachttisch
einzusetzen. Dafür war er viel zu hoch, und Anne zog
oft das falsche Buch aus dem uneinsehbaren Stapel über
ihr. 'Leben der Cäsaren' von Sueton, das David ihr
schon Anfang August geliehen hatte, tauchte wie ein
Vorwurf immer wieder auf. Sie hatte ein oder zwei
Kapitel überflogen, doch weil David das Buch empfohlen
hatte, war sie nicht geneigt, intime Bekanntschaft
damit zu schließen. Sie wußte, vor dem heutigen
Abendessen sollte sie noch ein bißchen mehr lesen,
damit sie beim Zurückgeben etwas Kluges darüber sagen
konnte. Sie konnte sich nur noch erinnern, daß Caligula
seine Frau foltern wollte, um herauszfinden, warum er
ihr so ergeben war. Sie fragte sich, was David für
einen Vorwand hatte. (Edward St. Aubyn: Schöne
Verhältnisse, S. 48)
"Hast du je 'Sein, Wissen und Urteilen' gelesen?"
"Nein", sagte Patrick. "Na, dann muß ich dir aber ein
Exemplar schenken." Anne stand auf und ging zu einem
der Bücherregale. Aus einem halben Dutzend identischer
Bücher zog sie eines hervor. Es sah in Patricks Augen
ermüdend dick aus. Er mochte schmale Bücher, die er in
die Manteltasche stecken konnte, um sie monatelang
ungelesen da drin zu lassen. Wozu war ein Buch gut,
wenn man es nicht mit sich herumtragen konnte, als
theoretisches Bollwerk gegen Langeweile? (Edward St.
Aubyn: Schlechte Neuigkeiten, S. 48)
Sie mochte niemandem zu nahekommen, der möglicherweise imstande
wäre, sie zu verstehen. Hinzu kam, dass Sam Romane schrieb. Es
gab im Bett keinen Platz für zwei Leute, die im selben Geschäft
tätig waren. Und doch - wenn sie sich wirklich auf jemanden
einlassen wollte, war Sam der einzig Richtige. Wenn sie schon
dabei war, ihre Paranoia herauszufordern, dann konnte sie ebenso
gut ihren Egoismus gleich mit in Angriff nehmen. Sie verfügte
über dieselbe Portion Selbstsucht wie jeder andere auch; darüber
hinaus litt sie allerdings an dem für Romanciers typischen
Gebrechen, die Autorschaft über ihr eigenes Schicksal übernehmen
zu wollen und die Verantwortung für eine Geschichte an sich zu
reißen, deren Anfangskapitel von anderen mit bestürzender
Nachlässigkeit verfasst worden war. (Edward St Aubyn: Der beste
Roman des Jahres)
An der Passkontrolle zum Vereinigten Königreich wurde Sonny von
einem skurrilen kleinen Mann nach dem Anlass seines Besuchs
gefragt. Als Sonny erklärte, dass er bereits zwei Wochen vor der
Longlist anreise, um sich dann ausgeruht den Wallungen des
Publicity-Rummels stellen zu können, fragte ihn der kleine Mann,
worum genau diese Publicity sich drehen werde. "Um meinen Roman
natürlich", sagte Sonny. "Sie sind also ins Vereinigte Königreich
gekommen, um einen Roman zu bewerben", sagte der Mann. "Ich bin
gekommen, um Gratulationen für meinen Roman entgegenzunehmen",
sagte Sonny genervt. "Mit dem Verkauf habe ich nichts zu tun."
"Ist der Roman im Vereinigten Königreich erschienen?" "Nein!",
sagte Sonny. "Er ist in Indien erschienen – als Privatdruck!"
"Sie wollen also im Grunde Waren aus Indien im Vereinigten
Königreich bewerben und verkaufen", zog der Peiniger seine
Schlüsse, "aber auf Ihrem Einreiseformular haben Sie als Anlass
Ihrer Reise "Vergnügen" angekreuzt." "Der Anlass meiner gesamten
Existenz ist Vergnügen", sagte Sonny vergrätzt, "aber ich muss
sagen, dass ich in diesem Moment das Gegenteil davon empfinde!"
(...) Er war einem hysterischen Anfall nahe, als er sich
vorstellte, dass seine Vorfahren sich bereits seit Jahrtausenden
mit Rosensorbet und Pfauenfederfächern Kühlung verschafft hatten,
als diese Knaben noch in gammelige Tierfelle gehüllt an
eiszeitlichen Stränden herumhüpften und mit den Rudimenten einer
Sprache radebrechten, die zu künstlerischen Höhen emporzuheben
nun ihm überlassen war. (Edward St Aubyn: Der beste Roman des
Jahres)
Die Frage, wo und in welcher Lebenslage man Bücher
lesen soll, hat Gelehrte seit alters her beschäftigt.
Sicher ist nur: Man soll es nicht in labyrinthartig
angelegten Bibliotheken in mittelalterlichen Klöstern
tun. Vor allem dann nicht, wenn die Buchseiten vorher
mit Gift getränkt wurden (Ecos "Name der Rose").
Weitere unpassende Orte, um Bücher zu lesen, sind -
jedenfalls laut Tucholsky, und der musste es ja wissen -:
zuvörderst das Bett. Im-Bett-Lesen sei "sehr
ungesund, weil der schiefe Winkel, in dem die Augen
auf das Buch fallen ... fragen Sie Ihren Augenarzt".
Ferner die Badewanne. "Erstens, weil es
nicht gut ist, und dann auch nicht hygienisch, und es
ist auch wider die Würde des Dichters, der das Buch
geschrieben hat, und überhaupt." Bezüglich der Frage,
ob man Bücher auch am Strand lesen dürfe, verhält
Tucholsky sich ambivalent. Er äußert: Von der
Strandlektüre "kommen die Bücher in die Hoffnung. Nach
etwa ein bis zwei Wochen schwellen sie ganz dick an -
nun werden sie wohl ein Broschürchen gebären, denkt man
- aber es ist nichts damit, es ist nur der Sand, mit
dem sie sich vollgesogen haben. Das raschelt so schön,
wenn man umblättert ..." Hier ist die neuere Forschung
nun schon viel weiter. Durch empirische Reihen hat sie
herausgefunden, dass man sich durch Unterlegen eines
Frotteetuches gegen die Versandungsgefahr nachhaltig
schützen kann, und dass die Durchflutung mit
Sonnenlicht jeder Art von Lektüre ihre Erdenschwere
nimmt. Sogar Kafkas "Prozess" liest sich am Strand wie
eine heitere Justizposse, man ist am Schluss nur ein
wenig erstaunt, dass dem Autor kein Happy End
eingefallen ist. Und Thomas Bernhards gesammelte
Schriften erscheinen, während im Hintergrund das Meer
rauscht, wie ein hinreißender Aufruf zur allgemeinen
Menschenliebe. Dumm ist nur die Sache mit dem
ultravioletten Licht bzw. dem Schutz davor.
Andererseits gilt, dass das Aufbringen von fetthaltigen
Substanzen in allen Kulturen als heilige Handlung
angesehen wurde. Halten wir am Ende fest, dass jede
Lektüre profan bleiben muss, die nicht von wenigstens
einem Tropfen Sonnenöl gesalbt wurde.
Am hellichten Tag fangen wir dann mit den Büchern an; es
wird lange dauern, bis in die Nacht hinein, vielleicht viel länger.
Wir nehmen alle einzeln in die Hand, manche mit Ehrfurcht,
die wir nicht gelesen oder nicht verstanden haben, andere
mit großer Wonne; wir öffnen sie und suchen hastig nach
der Stelle, an der die beiden endlich zur Sache kommen
oder auch wo dieser Kernsatz steht, der damals unsere
Gehirn zum Schwitzen gebracht hat. Dann stricheln wir den
Staub weg, legen die Bücher behutsam in einen Karton und
fiebern der nächsten Wohnung entgegen, in der wir
bestimmt viel Zeit zum Lesen haben. Wir sind bereit. (Karin
Steinberger (Hrsg.): Mein Kaktus steht auf Heavy-Metal.
Von Spleens, Macken und Obsessionen, S. 76)
Doch schon kamen neue Probleme hinzu: Mit den ersten
Tageszeitungen kam die Frage auf, wie das Lesen in der
Wanne zu organisieren ist. Denn es ist fast unmöglich, eine
Zeitung nicht in das Wasser fallen zu lassen. Ein
badefreundliches Format weisen lediglich Taschenbücher
oder Hamburger Nachrichtenmagazine auf. Bleibt noch die
Gefahr, nasse Finger zu bekommen und nicht mehr
umblättern zu können. Diese Schwierigkeit wird am
einfachsten gelöst, indem man die Fingerspitzen von Zeit zu
Zeit an einem Handtuch abtupft, das auf dem Rand der
Wanne bereitliegt. Vor der gefährlichen Kombination von
Müdigkeit, warmen Wasser und einem dicken Buch muß hier
ausdrücklich gewarnt werden. Unkonzentrierten Badern
passiert es oft, daß die Lektüre während eines harmlosen
kurzen Nickerchens in die Fluten plumpst. Und kaum etwas
trübt ein Bad mehr als häßliches Papier, das zwischen den
Beinen herumdümpelt und sich schließlich in graue Soße
auflöst. Wannenschläfer setzen sich zudem der Gefahr aus,
unter Wasser aufzuwachen, was angeblich ziemlich
ungesund sein soll. Eine Gruppe sozial engagierter Bürger
aus Berkeley, Kalifornien, setzt sich seit fünf Jahren für die
Minderheitenrechte der Wasserleseratten ein. Sie finden, daß
es Zeit ist, aus der Badewanne zu steigen und
gesellschaftliche Anerkennung zu fordern.
Konsequenterweise gründeten sie das "Bathroom Reader
Institute", das die Bibel aller Toiletten- und
Badezimmerleser, den Bathroom Reader produziert.
(Steinberger, Karin: Mein Kaktus steht auf Heavy-Metal.
Von Spleens, Macken und Obsessionen, S. 158)
Reisiger wurde zum Trinker, zu einem wirklichen, was
also bedeutete, daß sein Frühstück nach einem ersten
Kaffee aus einem ersten Glas Gin bestand. Wobei die
Sache mit dem Gin und überhaupt mit der ganzen
Trinkerei ein wenig auch damit zusammenhing, daß
Reisiger zu lesen begonnen hatte. Es gibt ja genug
Leute, die Bücher für etwas Gefährliches halten und
dringend davon abraten. Nicht wegen politischer
Verführung, daran glaubt schon lange niemand mehr.
Nein, wegen der Verführung hin zu irgendwelchen
Unarten, Phobien, Verhaltensweisen,
Eigentümlichkeiten. Verführung zum Snobismus. Und
das Trinken, das echte, das hingebungsvolle und
körperzerfressende, ist nun wahrlich eine Art von
Snobismus. Ein Snob, das ist etwas anderes. Darüber
muß man nicht reden. Aber ein Trinker lebt seinen
Snobismus mit jedem Schluck. Ganz gleich, ob eine
Verzweiflung dahintersteckt oder nicht. Und es ist ein
großer Fehler zu glauben, und die meisten glaubten
es, Leo Reisiger hätte wegen seiner
Querschnittslähmung mit dem Saufen angefangen.
Das Buch war es, das ihn animiert hatte: Malcolm
Lowrys famos unlesbares "Unter dem Vulkan". Nur ein
unlesbare Buch war für Reisiger auch ein gutes.
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 249)
Schriftsteller
Heinrich Steinfest
schreibt über seine
Lieblingsbuchhandlung,
die Buchhandlung Galleria in der Bauernmarkthalle in
Stuttgart: "Bücher sind Lebensmittel, das ist gar keine
Frage. Nicht, dass man alleine von Büchern satt wird,
so wenig wie von der Liebe. Aber man möchte ja nicht
nur satt sein, sondern auch gut genährt, gesund, man
möchte blühen und reifen. Darum Bücher. Und es ist
somit alles andere als unpassend, wenn man selbige
Bücher im Umfeld anderer Nahrungs- und
Lebensmittel vorfindet. (...) ... hat hier jedes Buch
seinen Platz, keines muss in dunklen Winkeln darben
oder fristet in der dünnen Luft hoher Regale eine
staubige Existenz. Nein, ein jedes darf sein schönes
Kleid, seinen Buchdeckel, zum Besten geben und mit
Namen und Titel für sich und seinen Inhalt werben.
Hier sieht man Titel nebeneinanderliegen, wie man
das anderswo nicht erlebt. Keine Unterteilung in
Taschenbuch und Hardcover, in E und U findet hier
statt, sondern es besteht eine friedliche Koexistenz
der Gattungen. Na, wenigstens muss hier jedes Buch
sich mit seinem Nachbarn anfreunden. (...) Manche
Nachbarschaft mag ein richtiges Glück darstellen. So
meint der stets gewitzte und mit charmanter
Vornehmheit sein Geschäft führende Dr. Huber,
präzise das Dilemma von Ökonomie und Ökologie auf
den Punkt bringend: 'Martin Walser verkauft sich bei
uns nicht so gut, aber sehr viel besser, seitdem er
neben Charlotte Roche liegt.' Und das hat doch was
für sich. Vielleicht wird ein bestimmtes Buch einfach
besser, wenn es neben einem bestimmten anderen zu
liegen kommt. Vielleicht beide."
Claire Rubin erhob nun ihre Stimme, ohne wirklich
laut zu werden, und erklärte, wieviel Mühe ihr die
Arbeit an diesem Buch bereitet habe. Es sei eine
Plage, wenn auch eine nicht ganz lustlose, sich zu
steigern, ein besseres Buch zu schreiben, als es die
vorhergehenden gewesen seien. Denn allein darin
bestünde die sinnvolle Arbeit eines Schriftstellers, die
Qualität zu erhöhen, die Genauigkeit zu forcieren, die
Tiefgründigkeit und den Witz, ganz im Gegensatz
zum Schriftsteller selbst, der im Einklang mit allen
anderen erwachsenen Menschen älter und häßlicher
und blöder werde, dessen schriftstellerische
Produktion sich also im Idealfall konträr zum eigenen
Niedergang entwickle. Auch sei es keineswegs so, wie
immer wieder behauptet werde, daß Bücher für den
Autor wie seine Kinder seien. Denn die leiblichen
Kinder liebe man natürlich alle mit der gleichen
Intensität, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Bei
Büchern wäre das aber vollkommen anders. Es zähle
immer nur dieses eine, an dem man gerade arbeite
oder welches man soeben fertiggestellt habe. Wobei
man ein solches Buch eben nur dann wirklich lieben
könne, wenn es sich zu einem hübscheren und
intelligenteren Kind entwickeln würde als seine
Geschwister. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der
Hölle, S. 163)
Dieser Platz war sein Platz. Natürlich konnte man das so nicht
sagen. Zumindest nicht laut. Immerhin befand sich Moritz
Mortensen in einer öffentlichen Bücherei, also an einem
ausgesprochen demokratischen Ort, an dem eine
Sitzplatzreservierungen unmöglich war. Was nichts daran
änderte, daß gewisse Stammgäste ganz bestimmte Plätze
bevorzugten. Weshalb auch die meisten dieser Leser, war ihr
durch Jahre und Jahrzehnte territorialisierter Platz einmal
besetzt, sich mit einem bösen Blick und einer im Vorbeigehen
hingemurmelten Bemerkung begnügten. Nur einige wenige
drehten durch, wurden ausfällig oder gar gewalttätig.
Bedauernswerte Figuren, für die mit dem Verlust ihres
gewohnten Platzes praktisch ein Verlust an Identität und
Sicherheit einherging, ja, die in einem solchen Moment
meinten, die ganze Welt sei ihnen abhanden gekommen. Kein
Wunder also, wenn sie zu toben begannen oder damit
drohten, jemandem die Zähne auszuschlagen.
Nach Mortensens Einschätzung war es der entlegenste Ort
dieser Bibliothek: geographisch wie thematisch. Einerseits lag
er im äußersten Winkel des obersten Stockwerks,
andererseits handelte es sich bei den dort untergebrachten
Büchern um Schriften zum Leben und Werk der Dichter dieser
Welt. Mortensen war dankbar für eine solche Umgebung. Er
schätzte das Spröde und Kühle, welches von der
Sekundärliteratur ausging. (Heinrich Steinfest: Ein sturer
Hund, S. 7)
Die gesamte Zeit bis zum Abend hin verbrachte Mortensen in
der Bibliothek, die im oberen Stockwerk untergebracht war.
Bücherkabinett wäre wohl der passendere Begriff gewesen,
da der Raum kaum mehr als vier Quadratmeter maß, jedoch
so lückenlos und stimmig mit Büchern ausgekleidet war, daß
der Eindruck einer geschlossenen Bewegung entstand. (...) In
der Mitte des Raums stand allein eine Sessel, an dessen
Stuhllehne eine Leselampe montiert war, die etwas von einer
winkenden Hand besaß. Bei den Büchern selbst handelte es
sich ausschließlich um Werke der Wissenschaft und
Philosophie, darunter so wertvolle Exemplare wie eine
Erstausgabe von Descartes' "Die Leidenschaften der Seele"
oder eine an sich billige Newton-Biographie, die jedoch vom
jungen Niels Bohr mit einer Unmenge von handschriftlichen
Randbemerkungen vollgekritzelt worden war, darunter sich
auch eine kleine schlampige Zeichnung befand, die man als
einen ersten Entwurf von Bohrs berühmten Atommodell
interpretieren konnte. Doch das eigentlich Faszinierende an
diesem Bücherkabinett war der Umstand, daß absolut kein
Band, wie flach auch immer, mehr hineingepaßt hätte und
man zudem den Eindruck gewann, daß jedes Exemplar an
seiner einzig richtigen Stelle stand. Wenn man nämlich die
Wellenberwegung bedachte. Ein Verstellen der einzelnen
Bände wäre keinesfalls in Frage gekommen. Dieser Ort war so
perfekt wie die reinste Natur. Perfekt in dem Sinn, daß es
anders weder denkbar war, noch funktioniert hätte. (Heinrich
Steinfest: Ein sturer Hund, S. 91)
Lukastik erklärte sich nicht. Oder nur andeutungsweise. Auch war er
nicht bereit, einen großen Unterschied zwischen dem frühen
Wittgenstein, dem des 'Tractatus', und dem späten, dem der
'Philosophischen Untersuchungen', zu machen. Und wenn einen, dann
nur den, daß er einem schmalen Büchlein, also dem "dünnen" Frühwerk,
den Vorzug vor einem dicken Band gab, weil der Reiz eines
Schriftwerks, das man bequem in einer Hosen- oder Jackettasche
unterbringen, zwischen zwei Fingern transportieren, sich damit Luft
zufächeln, leichthändig ein Insekt verscheuchen und es eben immer bei
sich haben konnte, weil dieser Reiz unschlagbar war. Auch tendierte
ein dünnes Buch dazu, einem Leser Dinge zu ersparen, auf die ein
Leser gerne verzichten konnte. Der Nachteil manchen guten und auch
sehr guten Buches lag einfach darin, daß es zu dick war. Und daß die
Dicke allein dadurch begründet war, daß der Autor lieber ein dickes
als ein dünnes Buch von sich in Händen hielt. Während ihm fremde
Bücher gar nicht dünn genug sein konnten. (Heinrich Steinfest: Ein
dickes Fell)
"Ich will mich nicht mit Leute verbrüdern, deren ganzer Verdienst
darin besteht, Skandinavier zu sein. "Wie meinst du das?" "Ich
meine, daß ein Autor, bloß weil er den hohen Norden im Blut hat oder
im Blut zu haben meint, noch kein Genie ist. Aber die Leser da unten
in Deutschland, die lassen das die Skandinavier glauben. Das führt
dazu, daß wenn ein Finne drei Wörter aneinanderreiht, jedermann,
erst recht der Finne selbst, dahinter eine Sensation wittert."
(Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
Als ich zwei Tage später mit dem Leiter eines großen amerikanischen
Verlagshauses beim Mittagessen saß, spazierte Sam an unserem Tisch
vorbei. Er trug ein Hemd, das aussah wie ein explodierter
Früchtekorb. Rechts und links im Arm hatte er zwei Püppchen, von
denen wenigstens eines schon mal einen Grammy gewonnen hatte. Aber
was bedeutet das schon? Ich meine, wenn man bedenkt, daß Hillary
Clinton einen Grammy dafür bekam, ihr eigenes Buch vorgelesen zu
haben. Was an sich eine gute Sache ist. Jeder Autor sein eigener
Leser. Das ist sozial und ausgewogen. Aber wozu gleich einen Grammy?
(Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
"Ich zittere wegen deiner Studien um dich: Du wirst
enden wie der Faust von Goethe. Willst du mir nicht
schwören, wie du es am Sonntag getan hast, daß du nicht
ausschließlich furchtbar schlechte Bücher liest?" - Ich
lese die Bücher, die du mir empfohlen hast, liebe Mama,
und gleichzeitig auch die anderen, die man 'schlechte
Bücher' nennt" - "Ach, in deinem Charakter ist etwas
Geheimnisvolles und Finsteres, das mich erschauern
läßt. Gott weiß, was für Folgerungen du aus dem vielen
Lesen ziehst!" - "Meine liebe Mama, ich kann nicht
anders, ich muß das für wahr halten, was mir wahr zu
sein scheint. Könnte mich denn ein allmächtiges und
gütiges Wesen dafür bestrafen, daß ich den Organen, die
es mir gegeben hat, Glauben schenke?" - "Ach, ich habe
immer Angst, dieses furchtbare Wesen zu erzürnen",
sagte Frau von Malivert mit Tränen in den Augen: "Es
kann dich meiner Liebe rauben. Es gibt Tage, an denen
ich beim Lesen von Bourdaloue vor Entsetzen erstarre.
Ich ersehe aus der Bibel, daß dieses Wesen in seiner
Rache erbarmungslos ist, und du beleidigst es
zweifellos, wenn du die Philosophen des siebzehnten
Jahrhunderts liest. Ich gestehe dir, daß ich vorgestern
in einem Zustand, der beinahe Verzweiflung war, aus der
Kirche Saint-Thomas von Aquin herausgekommen bin.
Selbst wenn der Zorn des Allmächtigen über die
gottlosen Bücher nur ein Zehntel dessen ausmachen
würde, was der Herr Abbe Fay verkündet, so müßte ich
doch zittern, dich zu verlieren. Es gibt ein
abscheuliches Tagebuch, das Herr Abbe Fay in seiner
Predigt nicht einmal zu nennen wagte und das du, wovon
ich überzeugt bin, jeden Tag liest." - "Ja, Mama, ich
lese es, aber ich halte das Versprechen, das ich dir
gegeben habe: ich lese es immer gleich nach der
Zeitung, deren Lehre mit der seinen in größtem
Widerspruch steht." "Mein lieber Octave, die Heftigkeit
deiner Leidenschaften ist es, die mich beunruhigt - und
vor allem der Fortschritt, den sie im geheimen in
deinem Herzen machen. Wenn ich an dir Neigungen
feststellen könnte, die zu deinem Lebensalter passen
und einen Ausgleich zu deinen sonderbaren Ideen
darstellen würden, so wäre ich weniger beängstigt. Aber
du liest gottlose Bücher, und bald wirst du es so weit
gebracht haben, an der Existenz Gottes zu zweifeln.
Weshalb über dies furchtbaren Dinge nachdenken?
(Stendhal: Armance, S. 18)
Es war Amielen gelungen, alle Bände in den Turm
einzuschmuggeln, ohne von ihrem Onkel gesehen zu
werden, den der Anblick so vieler Bücher unfehlbar in
Zorn versetzt hätte. Denn, obgleich er Schulmeister
war, wiederholte er unaufhörlich: "Durch die Bücher
ist Frankreich zugrunde gegangen!" Diesen Ausspruch
hatte er vom Pfarrer Dusaillard. Als Amiele ihre
Bücher im Erdgeschoß des Turmes versteckte,
blätterte sie im Gil Blas. Sie nahm dies Buch zuerst
vor, weil sie bemerkt hatte, daß es Kupferstiche
enthielt. Ein paar Stellen gefielen ihr dermaßen, daß
sie um 11 Uhr, nachdem ihre Pflegeeltern fest
eingeschlafen waren, das Wagnis beging, durch ein
Hinterfenster das Haus zu verlassen. Sie hatte den
Schlüssel zum Turm, ging hinein und las bis 4 Uhr
morgens. Als sie sich dann wieder in ihr Bett legte,
war sie vollkommen glücklich, mit sich selbst völlig im
Einklang. Einmal war ihre Phantasie im Banne der im
Gil Blas erzählten Abenteuer; sie hatte die
Emfpindungen vergessen, die sie sich vorgeworfen
hatte. Und dann hatte sie vor allem aus dem Buche
etwas geschöpft, was alles anderes aufwog:
Nachsicht gegen sich und die anderen. Sie fand die
Begehrlichkeit ihrer Tante beim Anblick der schönen
Kleider nicht mehr durchweg gemein In den nächsten
acht Tagen gehörte Amiele nur den Büchern an.
(Stendhal: Amiele, S. 124)
Ich selbst mag Biografisches viel lieber als Fiktion;
Fiktion ist zu frei. Bei Biografischem hat man eine
kleine Handvoll Fakten, kleine Teile eines Puzzles,
und man sitzt da und denkt nach und versucht sie auf
diese und jene Weise zusammenzufügen; dann steht
man plötzlich auf und schmeißt alles hin, sagt
verdammt noch mal und geht spazieren, um sich zu
beruhigen; und wenn man damit fertig ist, hat man
das befriedigende Gefühl, etwas wirklich zum
Abschluss gebracht zu haben.
Wie lange ist es her, dass Sie über einem richtig
guten Buch die Zeit vergaßen? Manchmal schafft es
ein Roman tatsächlich, das nervtötende Ticken der
Uhr einfach auszuschalten: Vollkommen in die Lektüre
lese ich und lese ich, bis ich nicht mehr umhin kann,
die aufdringlichen Störfaktoren meiner Umwelt wieder
in mein Bewusstsein zu lassen. Letztes Wochenende
war ich so vertieft in meinen neuen Krimi "Tödliches
Wissen" von Annamaria Fassio, dass ich das Rufen
meiner Frau überhaupt nicht hörte. Schließlich
stürmte sie wutentbrannt in mein Arbeitszimmer, in
das ich mich zurückgezogen hatte. Wir erwarteten
Besuch: Für den Nachmittag hatten sich Verwandte
angekündigt, es war bereits später Vormittag, der
Kuchen war noch nicht gebacken, der Rasen musste
noch gemäht werden, das Wohnzimmer war
aufzuräumen und die Blumen zu gießen, kurz: Es
wartete noch reichlich Arbeit auf uns. Doch als mich
meine Frau so sitzen sah, vollkommen vertieft in
meinen Krimi, schnappte sie sich "Das Manuskript"
von Marianne MacDonald und machte es sich neben
mir auf der Couch bequem. "Wir haben ja noch ein
wenig Zeit", meinte sie. Als es um 15 Uhr klingelte,
schreckten wir beide hoch: Wo war die Zeit
geblieben? Zerknirscht öffneten wir den Verwandten
die Tür... (© Matthias Stöbener; mit
freundlicher Genehmigung des Autors;
Quelle)
Letzten Samstag gab es keine Ausrede mehr: Ich
musste mal wieder ran an die Bücher! Zum
Staubwischen. Eine furchtbare Arbeit für mich, kein
Wunder, dass ich mich immer wieder davor drücken
will. Schon zigmal habe ich meiner Frau erklärt, dass
man mit Abstauben den Staub eigentlich nur verteilt
statt ihn zu beseitigen. Aber bisher konnte dieses
Argument sie nicht erweichen, mich von der lästigen
Aufgabe zu befreien, Bücher und Buchregale
abzustauben. Am liebsten würde ich die Bücher alle
halbe Jahre in die Waschmaschine stecken und sie
ohne Weichspüler waschen. So würden sie sicher
blütenrein. Ob sie dann allerdings noch zu benutzen
wären, bezweifle selbst ich. Und so bleibe ich in
regelmäßigen Abständen am Abstauben hängen. Ich
habe es auch schon mit einem antistatischen
Reinigungshandschuh probiert, doch komme ich damit
nicht in alle Ecken und es dauert länger als mit dem
Staubtuch. Manchmal, je nach Laune, benutze ich
auch den Swiffer, so eine Art Staubmagnet. Nicht
schlecht, aber nicht die Revolution, die er verspricht.
Kennen Sie die Staubbiene? Ich schon. Steht bei uns
in der Vorratskammer und hat einen etwa eineinhalb
Meter langen Teleskopstiel für die höheren Regionen.
Da ich 1,90 Meter messe, ist mir das Ding eher
hinderlich. Worauf ich schwöre sind der
Straußenfedern-Wedel und eine extra Bürste für die
oberen Kanten der Bücher. Mit dem Wedel fühle ich
mich fast schon beschwingt, wenn ich über die Rücken
der Bücher und das Holz der Regale wedele. Hin und
wieder schüttele ich ihn am Fenster aus und schaue
mich um, was es auf der Straße zu sehen gibt. Und
mit dem tollen Bücherbürstchen, das mir meine Frau
besorgt hat, fahre ich ein paar mal die
Bücheroberkanten ab. Da kann man dann richtig den
Staub wirbeln sehen. Unglaublich! Trotz dieser beiden
schönen Gerätschaften würde ich doch gerne auf die
Bücher-Abstauberei verzichten. Dass man E-Books
nicht abstauben muss, ist im Moment noch einer der
wenigen Vorteile, die ich an ihnen sehe.
(© Matthias Stöbener; Jokers-Blog)
Sie liest mehrere Seiten, ohne zu stutzen. Dann,
plötzlich, ein tiefer Seufzer: "So wahr! So wahr!" ruft
sie und klappt das Buch zu. Gleichsam als wollte sie
sagen: Wenn es anfängt derartig wahr zu werden, brauche
ich kein Buch mehr. (Botho Strauß: Rumor, S. 104)
Wer mit Sammlern umgeht, sollte noch zwei Punkte
beachten: Erstens verleihen Sammler nie Bücher. Weil die
Leihnehmer gar nicht begreifen, dass an jedem Exponat das
Herzblut des Sammlers hängt. Mancher vergisst das
Zurückbringen und denkt sich nichts dabei. Zweitens ist die
Behauptung, man habe keinen Platz für Bücher, zuhöchst
ideologisch und wird vom Sammler nicht gern gehört. Platz
für Bücher gibt es immer. Jene Leute, die behaupten, sie
hätten keinen Platz, finden nichts dabei, wertvolle
Regalflächen mit allerlei Kinkerlitzchen zu drapieren wie
Batiktücher, geknüpfte Teppiche, unnötige Wäscheschränke,
blinde Spiegel und schlechte Gemälde. Jeder Sammler von
Büchern hatte irgendwann mal seine Initialzündung, seinen
Sündenfall oder seine glückliche Weichenstellung, je
nachdem. (...) Was ein Sammler überhaupt nicht hören
kann, ist die saudumme Frage "Haben Sie das alles gelesen?"
Nur Banausen fragen das. Natürlich hat man das nicht alles
gelesen. Aber schon der Besitz des Gesamtwerkes von
Martin Walser in Erstausgaben, womöglich noch signiert, ist
ein verdammtes Lustgefühl. Außerdem stehen die Bücher
jederzeit griffbereit. Man kann, anstatt fern zu sehen, vor
das Regal treten, sich einem Gedichtband des Barocklyrikers
Andreas Gryphius greifen und ein Stündlein mit Muße darin
lesen. Kein Tommy Gottschalk kann da mithalten. (Manfred
Stuber, Mittelbayerische Zeitung)
Ich gehe in Buchhandlungen genau immer in diese
Idiotenecke mit Briefbänden und Tagebüchern. Das
ist das, was ich am liebsten lese. Ich habe sehr
wenig Geduld mit Fiktion anderer Leute, das muss
dann schon sehr gut geschrieben sein, aber Tagebuch
kann auch ruhig schlecht geschrieben sein, das finde
ich das Interessanteste, was es gibt, da stehen ja
lauter verkürzte Romane eigentlich drin.
Das heißt nicht alle,
nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit.
Abgesehen von Schulen, wo man mögen muss,
und von den Dichtern selbst,
gibt’s davon etwa zwei pro Tausend.
Aber man mag ja auch Nudelsuppe,
mag Komplimente und die Farbe Blau,
mag den alten Schal,
mag auf dem Seinen beharren,
mag Hunde streicheln.
Was aber ist Poesie.
Manch wacklige Antwort
ist dieser Frage bereits gefolgt.
Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht,
ich halte mich daran fest,
wie an einem rettenden Geländer.
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