Bibliomanische FAB  / [Q-R]


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Raabe, Wilhelm: Kredo der Jugend

  Von allen Fluren und Hügeln, aus allen Wäldern Krodebecks rund um sie her, erscholl ihnen tausendstimmig das Kredo der Jugend. Aus jedem Buche, welches sie lasen, lachte ihnen das Wunder entgegen. Bei Gott, sie waren nicht so dumm, sich mit dem Herrn von Florian und der Frau von Genlis zu begnügen. Sie begnügten sich nicht einmal mit der Bibliothek des Herrn von Glaubigern und den Herren Schiller und Goethe, denn da hätte es doch keine Leihbibliotheken in Halberstadt geben müssen. Der Chevalier und das Fräulein erfuhren längst nicht von jeder Lektüre, die Meister Hennig verstohlen herbeischaffte, und als echten Kindern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts behagte ihnen (...) die Lyrik und der Roman der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ungemein, und sie erlitten durchaus nicht den ästhetischen und moralischen Schaden dadurch, welchen sehr ehrenwerte Leute nicht voraussagen werden, weil sie auch diese Erzählung nicht lesen. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Raabe, Wilhelm: Eine eigene Bibliothek

  Ich saß im Winter warm zu Hause, ich speiste in einer der Restaurationen mittleren Ranges der Stadt, und ich konnte mir dann und wann ein Buch, wenn auch nur antiquarisch, anschaffen: auf dem hohen Standpunkte wohlangewendeter Lehrjahre, der sich in dem französischen Wort "Je ne lis plus, je relis seulement!" darlegt, bin ich auch bis heute noch nicht angelangt, hoffe ihn aber dermaleinst zu erklimmen. Mein "Zu Hause" bestand in einer bescheidenen Junggesellenwohnung im vierten Stockwerk eines Hauses in der Mittelstraße. Ich besaß wohl eine eigene Bibliothek, aber keine eigenen Möbel. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Raabe, Wilhelm: Segen der Jugendlektüre

  Der hat noch nie gelesen, der nie in solchen Stimmungen das wieder las, was ihm in seiner seligen Jugend, wenn es in seinen Händen ertappt wurde, als "das dümmste Zeug auf Gottes Erdboden" um die Ohren geschlagen wurde! Gottes Segen über das Lesefutter der großen Menge und der Jugend! Heil und Segen denen Lieferanten, die heute in dieser Hinsicht für jene sorgen, welche nach einem Menschenalter alt, enttäuscht, krank und verdrossen sein werden! (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Raddatz, Fritz J: Kunst oder Hochstapelei

  "ansonsten plage ich mich mit jungdichtern, die immer jünger und immer dichterischer werden und bin oft verzweifelt, dass ich nicht z.b. Sie mal um rat fragen kann; ich kanns manchmal nicht mehr unterscheiden: ist es nun ganz wundervoll, avangardistisch, neu und atemberaubend oder ist es nicht vielmehr hochgestapeltes kunstgewerbe. (Fritz J Raddatz an Uwe Johnson, 14.1.1967)


Raddatz, Fritz J: Übersetzungen

  Nun noch eine andere, auch nicht ganz unbescheidene Frage: wir müssen die deutsche Ausgabe von Hemingways "By-line" vorbereiten. Ich muß Ihnen nicht erklären, um welches Buch es sich da handelt. Ich muß Ihnen aber erklären, daß es sich bei den deutschen Übersetzungen, die der Rowohlt Verlag seit Jahrzehnten von Hemingways Büchern publiziert, um literarische Morde handelt. Seit Jahren und jahren versuchen wir, mit Hilfe von strapazierend vielen Anwaltsbüros aus dem Vertrag mit der Übersetzerin herauszukommen. Bisher mißlang das. Es gäbe jetzt nun eine Chance, wenigstens diesen Nachlaßband nicht vón Frau Annemarie Horschitz-Horst übersetzen zu lassen, sondern von jemandem, der Deutsch und Englisch kann. (Fritz J Raddatz an Uwe Johnson, 22.6.1967)


Ransmayr, Christoph: Aus der Ferne die Bücher

 Gelesen? Hatte der Imperator jemals eine Elegie des Naso gelesen? ein Gedicht? eines seiner Bücher? Augustus schien von der Behendigkeit der Bewegungen des urzeitlichen Tieres unter seinem Fenster wie gebannt; das Nashorn schleuderte Morastfontänen hoch und riß mit seinem Horn tiefe Furchen, Halbkreise und Wellenlinien in den weichen Grund. Ein Mächtiger las keiner Bücher; keine Elegien. Wie alles, was in der Welt dort draußen, jenseits des Pfuhls geschah, erreichten den Imperator auch Bücher nur über die zusammenfassenden, erklärenden Berichte seiner Untertanen. Wenn Augustus über den Vollzug einer Strafexpedition oder den Bau einer Talsperre unterrichtet werden konnte, ohne daß er dabei seine Augen am Anblick von Staubwolken, Ketten und Baugerüsten ermüden mußte - um wieviel mehr konnte man ihm dann nicht den Inhalt ganzer Bibliotheken zu Füßen legen, ohne daß er jemals ein Buch auch nur aufzuschlagen brauchte? Wer aber zu Augustus Gemächern Zutritt hatte, der war selbst mächtig genug, um zwischen sich und die Welt eine Horde von Zuträgern und Überlieferern zu befehlen; wer mit dem Allerhöchsten vertraut war, mußte die Lava Siziliens oder den Aschenregen über Neapel nicht erst auf der eigenen Haut gespürt haben, um von der Glut eines Vulkans mehr zu wissen als irgendein versengtes Opfer. Nein, im Herz des Palastes hatte niemand Elegien gelesen. Bücher waren diesem Herzen so fern wie die Welt.


Ransmayr, Christoph: Sich Zeit lassen

  Was ich zu sagen habe, schreibe ich. (...) Dort im Schreiben habe ich ja alle Zeit. Alle Zeit, die eine Formulierung erfordert. Und ich beende sie dann, wenn ich das Gefühl habe: Das ist nun der Ausdruck, genau der einzige, notwendige Ausdruck, der für das, was ich erzählen wollte, geeignet ist. Diese Zeit habe ich im öffentlichen Raum nie.


Ransmayr, Christoph: Mit Mantras bedruckt

  Am Oberlauf des Yangtsekiang hatten wir Mönche gesehen, die mit Ton- und Holztafeln, in die diese Silben geschnitten worden waren, auf das glatte Wasser schlugen und so den längsten Strom Asiens mit Mantras bedruckten, damit der Strom die Worte ans Meer trage und jeder Wellenschlag, selbst die Brandung des Ozeans und der Wechsel von Ebbe und Flut zum Gebet werde. (Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes)


Reich-Ranicki, Marel: Ein Kanon

  Wir sind ja heutzutage ohnehin gut und umfassend informiert, das ist schon sicher. Nur darf man fragen, ob wir nicht vielleicht überinformiert sind; mit anderen Worten: überinformiert und dennoch und zugleich unwissend. Viele befürchten dies, manche erschrecken angesichts der wachsenden Bücherflut. Sollten sie ganz allein gelassen werden? Je schneller und leichter sich Bücher herstellen lassen, desto mehr erinnert die Welt der Bücher an ein Labyrinth. Ist da einer überflüssig, der den Weg zeigt, nicht immer und unbedingt den kürzesten, aber vielleicht den schönsten? Brauchen wir nicht auch und gerade in unserem dritten Jahrtausend eine Auswahl der literarischen Werke, die ein gebildeter Mensch kennen sollte? Niemand muss sich an diese Auswahl halten, niemand ist verpflichtet, von ihr Gebrauch zu machen. Aber jene, die eine solche Auswahl von vornherein empört ablehnen, missfallen mir sehr, ich misstraue ihnen. Und das hat einen persönlichen Grund, und ich will ihn nicht verschweigen. Ich bin, wenn ich mich der französischen oder spanischen oder italienischen Literatur zuwende, sehr dankbar, wenn mir jemand hilft. Ich bin auf ihn angewiesen, auf den Kanon. In der Brockhaus-Enzyklopädie heißt es, der Kanon könne, zumal im Bereich der Literatur, dem Zeitgeschmack unterworfen sein. Das möchte ich lieber umgekehrt sagen: Einen Kanon, der ihn bewusst oder unbewusst ignoriert, der also von der Gegenwart absieht - einen solchen Kanon kann und sollte es gar nicht geben, jedenfalls benötigen wir ihn nicht. So ist jeder Kanon, wenn er denn etwas taugt, ein Produkt seiner Epoche, jeder entsteht aus der unbedingt notwendigen Revision der früher gebräuchlichen Kanones. (Marcel Reich-Ranicki)


Reich-Ranicki, Marel: Aus einem Interview

  Seit Jahrzehnten lese ich vieles sehr ungern, bisweilen mit Widerwillen. Aber aus Pflichtgefühl habe ich manche schlechte Sachen gelesen. Manchmal habe ich den Eindruck, ich werde alt und verliere die Lust am Lesen. Aber dann nehme ich mir irgendwelche Briefe von Thomas Mann oder einen Roman von Fontane oder Gedichte von Brecht und gerate in Begeisterung. Vielleicht gefallen mir diese Sachen immer noch, weil es sich jeweils um eine alte Liebe handelt, die in meiner Jugend begonnen hat. (...) die grafische Ausstattung eines Buches ist für mich sehr wichtig. Ein Beispiel: Ich bin sehr dankbar für die Gedichtbände, die im Insel-Verlag gemacht werden. Die klein sind, so wie Gebetbücher. Es hat begonnen mit Brecht-Gedichten, und dann gibt es in dieser Serie auch Goethe, Schiller und Heine, Fontane, Eichendorff und andere. Ich habe diese Bücher gern, sie liegen so bequem in der Hand. Was ich nicht leiden kann, sind Bücher, die so groß sind, dass man sie auf dem Regal nicht unterbringen kann. (...) Wenn ich alle Bücher, die ich bekomme, aufbewahren würde, müsste ich die Wohnung zumindest verdreifachen. Und: Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Dreck mir zugeschickt wird. Mit den meisten Bücher, die man bekommt, kann man doch gar nichts anfangen. Vor allem werde ich sehr von Menschen belästigt, die ihre literarischen Produkte im Selbstverlag drucken lassen. Sie können in eine Druckerei gehen und sagen, Sie möchte Ihnen ein Buch drucken, 160 Seiten, und auf jeder Seite steht: Leck mich am Arsch. Die Druckerei wird Ihnen nur sagen, wie viel das kostet. (Der am liebsten am Schreibtisch lesende sagt dann:) Das mit dem Bücherlesen ist wie mit dem Sexualverkehr. Sie können nicht sagen, das ist eine unbequeme Position. Für Sie vielleicht unbequem, für andere aber gerade die richtige. Es gibt da viele Möglichkeiten bei Büchern und bei Frauen. Im Übrigen, wenn ich auf Bücher und Frauen hier zu sprechen komme. so deshalb, weil es ein geniales Wort darüber gibt: Ich umarme Bücher und lese Frauen. Aber es ist leider nicht von mir. Es ist von Kurt Tucholsky. Es ist ein Wort, bei dem ich leide. Denn: Ich bedauere sehr, dass ich es nicht gefunden habe. (Dikta Marcel-Reich-Ranickis aus einem Interview mit der Welt, Oktober 2002)


Reimann, Brigitte: Plätze im Regal

  Flex und Jünger und die Bardenschar der Alibi-Literaten waren in den Hintergrund gerückt, in einer ersten Reihe leuchteten wieder, in Goldschnitt und Ziegenleder, Heines Werke (in Franziskas Sagenbuch von Baldur, Weltenesche und Schiff Nagelfahr hieß der Verfasser vom Lorelei-Lied Unbekannt) und, bescheidener in grauem Leinen, die Bücher der Brüder Mann, von Linkerhand mit unwilligem Respekt geduldet, gerade noch angängig neben den Großen, Dickens, Fielding, Dostojewski; was danach kam, war nicht mehr von Belang. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Lob des Papieres

  Linkerhand trennte umsichtig die in Leinen gebundenen Deckel eines Bildbandes ab; die Heftfäden zerrissen mit einem scharfen, durchdringenden Ton. Er packte mit seinen schwächlichen, ungelenken Händen ein fingerdickes Bündel Blätter und sagte: "Schade. Wer weiß, ob es jemals wieder dieses Papier geben wird, glatt und glänzend wie Seide... Das ist noch Friedensware. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Sammler, gerissener Roßtäuscher

  Mehr als die Sorge um seinen Leib bewegte ihn der Gedanke an das Schicksal seiner Bücher: sie waren die Leidenschaften seines leidenschaftslosen Lebens, seine Abenteuer und Ausschweifungen, er roch Bücher, Jagdbeute in Antiquariaten und obskuren Winkelbuchhandlungen, und hier wurde der sparsame Hausvater zum Verschwender, der solide Kaufmann zum gerissenen Roßtäuscher, der heuchelte, zauderte, felischte und bedenkenlos die großen Augenblicke des Sammlers genoß, den Triumph, wenn er einem Ignoranten ein wertvolles Exemplar um einen Spottpreis abgelistet hatte. Der Haushalt war bescheiden, Kleiderluxus verpönt, die Kinder gingen in Leinenzeug und Loden, und ein Marionettentheater, das der Bildung ihrer Phantasie dienen sollte, ersetzte das üppige Spielzeug der Nachbarskinder. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Bei den Druckern

  Franziska sah die Setzer an den Linotypes, unter Neonlicht, halbnackt in dem vor Hitze kochenden Saal und mit schweißig glänzenden Schultern, und hörte, wie die Matrizen klickend in den Kasten fielen. Sie blieb unter einem Fenster stehen, schnupperte den Geruch von heißem Blei und Maschinenöl und fühlte, wenn sie die Hände an die Mauer legte, eine ferne Erschütterung, ein stampfendes Echo aus dem Maschinensaal, das die Steine in Schwingung zu versetzen schien... "Bücher verlegen", sagte sie, "das ist sicher so aufregend wie Bücher schreiben, und - doch, es gibt noch Leute, die sich an den Verlag erinnern. Neulich erst fragte Professor Schubert, ob ich ihm ein paar Bände von den Deutschen Bauten besorgen könnte." "Es ist recht freundlich von dir, mein Kind, daß du mich trösten willste, und wenn der Wunsch, den du mir vorträgst, nicht eine fromme Lüge ist, sollst du auch zwei oder drei Bände für den Professor bekommen. In der Tat, die Reihe war die schönste Leistung unseres Verlages..." Er lehnte sich zurück, und sein Blick schweifte blind über sie hinweg und zurück, zurück, und Franziska bereute schon, daß sie ihm das Stichwort gegeben, an den alten Kummer gerührt hatte, Geduld, sagte sie sich, jetzt folgt unvermeidlich die Geschichte vom Erzfeind, von dem unseligen Schlosser Langer... "Daß der stumpfsinnige Mensch die Kupferplatten vernichten ließ", sagte Linkerhand, "das ist unglaublich und ganz unverzeihlich und ist symptomatisch für einen Staat, der die Kulturgüter der Vergangenheit für nichts achtet." (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Rath-Vegh, Istvan: Büchermißachtung/-schändung

  Was mich betrifft, hüte ich mich, den Frauen Bücherschändung in die Schuhe zu schieben, und teile hier nur ohne Kommentar die offensichtlich unbegründete Meinung einiger Autoren mit. Der ‘Philobiblon’ erwähnt auch die Frauen, doch übt er die Kritik vorsichtigerweise nicht im eigenen Namen, sondern legt sie den Büchern selbst in den Mund und läßt sie an seiner Statt sprechen. Die Klagen der Opfer lauten folgendermaßen: “Kaum hat uns das unsanfte Wesen (So sprechen weder ich noch der Bischof, sagt das Buch) in irgendeiner Ecke entdeckt, wo uns ein altes Spinnennetz seinen Schutz gewährt, da holt es uns von dort hervor, runzelt die Stirn und überhäuft uns mit wilden Schmähungen. In den Augen der Frau nehmen wir im Hause nur Platz weg und sind unnützer Plunder; viel klüger täte man, uns alles gegen Hauben, Seide, Pelze oder Leinwand einzutauschen. Im Grunde genommen hat sie Recht, denn wehe ihr, wenn sie in unser Inneres blickte und erführe, welche Meinung wie von ihr haben!” (...) Als man die sogenannten Papillons zum Lockenwickeln verwendete, rissen die Frauen, ohne mit der Wimper zu zucken, ganze Seiten aus den Büchern und verfertigten kleine Röllchen aus ihnen. Die sorgliche Hausfrau früherer Zeiten zog aus den faul herumlungernden und völlig überflüssigen Kodexen Nutzen, indem sie mit den Seiten ihre Marmeladengläser zuband. Das Pergament erwies sich am geeignetsten zu diesem Zweck. (Istvan Rath-Vegh; in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 96)


Ludwig Reiners: Der Gelehrte

  Der Gelehrte vor allem lebt in einem
anderen Reich: wenn er das zerfurchte
Antlitz von seinen Blättern emporhebt,
vermag der unwirsche Blick das ferne
Gewimmel der Zuhörer nicht mehr zu
erreichen. Dem Leser die Mitarbeit zu
erleichtern, die Form lebendig und
durchsichtig zu gestalten, achtet er
für unnütz: all seine Sorge und Liebe
schuldet er dem Gegenstand des Buches,
nicht der belanglosen Figur des Lesers.
Aber nichts gefährdet Stil, Rang und
Widerhall eines Werkes stärker als
Verachtung der Leserwelt.


Remarque, Erich Maria: Gut Genug

  Er steckte den Scheck in seine Brieftasche und legte einen Pack Bücher auf den Tisch neben seinem Bett. Er hatte sie vor zwei Tagen gekauft, um zu lesen, wenn er nicht schlafen konnte. Es war sonderbar mit Büchern - sie wurden wichtiger und wichtiger für ihn. Sie konnten nicht alles ersetzen, aber sie reichten irgendwohin, wohin nichts anders mehr reichte. Er erinnerte sich, daß er in den ersten Jahren keine angerührt hatte; sie waren blaß gewesen damals gegen das, was geschehen war. Jetzt aber waren sie bereits ein Wall - wenn sie auch nicht schützten, so konnte man soch doch an sie lehnen. Sie halfen nicht viel; aber sie bewahrten in einer Zeit, die in die Finsternis zurückjagte, vor der letzten Verzweiflung. Das war genug. Irgendwann waren Gedanken gedacht worden, die heute verachtete und verlacht wurden; aber sie waren gedacht worden und sie würden bleiben, und das war genug. (Erich Maria Remarque: Arc de Triomphe, S. 327/28)


Renn, Ludwig: The only Karl May

  "Bei uns", sagte Seydewitz, "ist Hingst in alle Stuben gegangen und hat die Grenadiere gefragt, ob sie auch Karl May gelesen hätten. Karl May wäre die wahre Erziehung zum Soldaten. Da würden sie lernen, was sie alles in schwierigen Lagen bei sich zu tragen hätten." "Ich verstehe nicht, was bei sich zu tragen?" "Ja, meine Rekruten haben das sicher ebensowenig verstanden wie ihr. Als ich neulich mit Hingst über Karl May sprach, machte ich mich ein bißchen über ihn lustig und sagte, dort kämen immer wieder Sätze vor wie: In dieser Lage, wo schon alles verloren schien, griff Old Shatterhand mit kühlem Gesicht in seine Tasche und zog einen Schraubenschlüssel heraus, den er stets bei sich zu tragen pflegte. - In jeder kritischen Lage läßt Karl May seinen Old Shatterhand einen anderen großen Gegenstand stets bei sich tragen, Ferngläser, heilende Kräuter, Zangen, Reserveschlagbolzen. 'Old Shatterhand muß', sagte ich dem Hauptmann von Hingst, 'ein ganzes Warenlager in seinen Taschen gehabt haben!' - Er merkte aber gar nicht den Hohn, sondern sagte bewundernd: 'Ja, und das alles in ganz gewöhnlichen Taschen! Na, vielleicht waren sie ein bißchen größer als bei andern.' - Als er heute bei meinen Rekruten von diesen Taschen erzählte, konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. (Ludwig Renn: Adel im Untergang, S. 180)


Renn, Ludwig: Bücherschießen

  Wir stiegen also die Treppe wieder hinauf. Kaum waren wir in seinem Zimmer, als er schon auf sein Bücherbrett deutete. "Dort stehen die Ranglisten von 1896 bis 1908, die mir mein Vater geschenkt hat." Er lief ins Schlafzimmer und kam mit seinem Revolver zurück. Dann senkte er ihn und Klatt! machte es. Er senkte ihn zum zweiten Male und schoß auf den nächsten Band. Wir gingen zum Bücherbrett, nahmen die getroffenen Ranglisten heraus und klappten sie auf. Die Geschosse lagen drin. Sie waren nur einige Zentimeter vom Buchrücken her eingedrungen und hatten das Papier zusammengeschoben. "Ein großartiger Schutz sind Bücher!" rief Ehrentahl. "Sonst halte ich ja nicht viel davon, aber als Schußdeckung sind sie gut!" (Ludwig Renn: Adel im Untergang, S. 106)


Renner, Jost: Ein ständiger Abgleich

  In Franzens Essayband gibt es (...) interessante Thesen. Es gebe - so die von ihm zitierte empirische Sozialwissenschaftlerin - zwei Arten von Lesern, einmal die, die das wegen der Erziehung, des Vorbildes und des gesellschaftlichen "comme il faut" tun, und die, die in Büchern eine Kommunikation mit sich selbst oder einem bestimmten Freiraum suchen. Zu letzteren gehöre ich. Egal also, wieviel an Leben sich mir bietet, werde ich immer Zeiten benötigen, an denen ich mich zurückziehe und mittels eines Buches mit mir - und dem Buch - zu kommunizieren beginne. Lesen ist für mich also eine Ebene der Reflektion, ein ständiger Abgleich zwischen dem Leben, der Realität und den aus - guter - Literatur eventuell ablesbaren Grundstrukturen der menschlichen Existenz. Das wird mich nicht unbedingt weiser machen und nur bedingt gewappneter, aber es hält sicher den Geist frei, sich mit allen möglichen Erscheinungen des "Lebens", der Realität auseinanderzusetzen. Ein Nichtleben, ein Leben aus zweiter Hand ist m.E. sowieso undenkbar, eine biologische und psychologische Unmöglichkeit. (Gefunden im Leselust-Forum)


Repgow, Eike von: Aussatz möge sie befallen

  Große Angst überfällt mich, denn
ich fürchte, daß mancher dieses Buch
durch Zusätze erweitern wird und damit
das Recht in sein Gegenteil zu wenden
beginnt und dies in meinem Namen tun
wird. Doch Gott, den niemand zu betrügen
vermag, der weiß, daß ich unschuldig
bin, und er weiß auch, daß sie lügen.
Ich aber kann's nicht hindern! Alle,
die unrecht handeln und mit diesem
Buch Unrecht vollführen, und die, welche
Falsches hinzufügen, bedenke ich deshalb
mit diesem Fluch: Der Aussatz möge sie
befallen, so wie es Gehazi geschah, als
Elisa darum betete und Naaman davon
geheilt wurde.
Gott, der Erlöser und Beschützer, möge
an ihnen Rache üben, daß die Seele davon
bekümmert werde, zusammen mit dem Körper.
Dem Teufel bleibe ihre Schrift, solange
sie nicht ausgelöscht, als Unterpfand.
Wer des Teufels auf immer und ewig sein
will, der sende ihm diese Urkunde und
fahre in den Grund der Hölle.
(Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Hrsg. von Clausdieter Schott, Zürich, 1984, S.23/25)


Rainer Maria Rilke: Der Leser

 Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

 Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

 er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.


Ringelnatz, Joachim: Der Bücherfreund

  Ob ich Biblio- was bin?
Phile? "Freund von Büchern" meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!
Mir sind Bücher, was den anderen Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher --- wie beliebt? Wieviel?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben ---
Hei ! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie? - ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, sie unerhörter Ese---
Nein, pardon! - Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher - Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hochverehren.

Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.


Rinser, Luise: Meine erste Geschichte

  Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich war verzaubert. Nein, darin kann der Grund auch nicht gelegen haben. Das Paulchen hat wirklich recht gehabt. Ich versteh gar nichts davon. Meine Welt ist das nicht. Ich meine aber, der Mann, der das geschrieben hat, der hat seine Kunst verstanden. Ich vergaß meinen Cafard. Ich vergaß meine tödliche Langeweile. Und hätte ich tödliche Wunden gehabt, ich hätte auch sie im Lesen vergessen. Und wie ich Zeile um Zeile las, da spürte ich auch, daß das meine Sprache war, meine Muttersprache, und sie ging mir ein wie die Milch dem Säugling. Sie knarrte und knirschte nicht wie die Sprache, die aus den Kehlen der Nazis kam, mörderischen Befehlen, in widerwärtigen Gehorsamsbeteuerungen, in ekligen Prahlereien, sie war ernst und still. Mir war es, als sei ich wieder allein mit den Meinen. Ich stieß auf Worte, die meine arme Mutter gebraucht hatte, um mich zu besänftigen, wenn ich wütend und grausam geworden war, auf Worte, mit denen sie mich ermahnt hatte, wenn ich gelogen oder gerauft hatte. Ich stieß auch auf Worte, die ich schon selbst gebraucht hatte, aber wieder vergessen, weil ich nie mehr in meinem Leben dasselbe gefühlt hatte, wozu ich damals die Worte gebrauchte. Es gab auch neue Worte, die ich seitdem manchmal gebrauche. das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen. Ich fand auch, daß einer darunter mir selbst glich. es ging in dieser Geschichte darum - ach, nein, ich werde Sie lieber nicht langweilen. Sie haben ja in Ihrem Leben Geschichten genug gelesen. Für mich war es sozusagen die erste. Ich hatte ja übergenug erlebt, aber nie gelesen. (Anna Seghers: Transit, S. 24)


Rinser, Luise: Tagebuch schreiben

  Warum mache ich denn die Zeit nehmende Arbeit des Tagebuchschreibens? Weil auch dies zu meiner "eigentlichen" Arbeit gehört. Weil es eine Art ist, mit Menschen zu sprechen und zu leben. Weil ich in der Tagebuchform unmittelbar mit ihnen kommunizieren kann. Weil die Leser gerade der Tagebücher mir in Tausenden von Briefen sagen, was sie denken über das, was ich denke. Weil ich aus ihren Briefen erfahre, wie man heute lebt als Student, als Strafgefangener, als Hausfrau, als Bundestagsabgeordneter, als Fließbandarbeiterin, als Bundewehrsoldat, als Schüler, als Theologe, als DDR-Bürger, kurzum; als Mensch von heute. Kommunikation, das ist mein Leben. Was kümmerts mich, was später aus meinen Büchern wird, ob noch einer sie liest, falls noch einer lebt. Auf Ruhm und Nachruhm pfeife ich. Hier und jetzt will ich leben und gelesen werden. Hier und jetzt will ich mich verschwenden. Ich werfe mit meinen Einfällen um mich, ich verstreue sie auf dem Marktplatz. Was wert ist, gefunden zu werden, wird gefunden werden. Was keiner brauchen kann, das wird der Zeitenwind verwehen. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 9)


Rinser, Luise: Intellektkapitalismus

  Überlegung zu einem Satz von (Johann Baptist) Metz (oder von Cardenal selbst?]: "In Nicaragua schreiben die Dichter fürs Volk. Dichtung und Volk sind eins." - Und wir? Unsre intellektuellen Wort-Experimente, unsre forcierten Hochflüge, unsre Sprach-loopings. Uneingestandener Hang zur Flucht ins Elitäre. Die Kluft zwischen uns und der Arbeitswirklichkeit wird immer tiefer. Als ich vor vielen Jahren begann, für eine Frauenzeitschrift zu schreiben, wohl wissend, daß sie von Frauen des bürgerlichen Mittelstandes gelesen wird, schrieen meine Kollegen: Die R. schreibt für Bürgerweiber, was für ein Abstieg. O diese Intellekt- Kapitalisten, die ihre geistigen Besitztümer nicht mit den Bedürftigen teilen wollen. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 93)


Rinser, Luise: Jenseits der Grenze

  Joseph Conrad, der so groß Souveräne, schreibt, daß der Schriftsteller, um andre tief aufzurühren, sich über die Grenzen der normalen Empfindungsfähigkeit hinaustragen lassen müsse, wie ein Schauspieler, der auf der Bühne lauter spricht, als er das gewöhnlich im Gespräch tut, und daß er dabei zum Opfer seiner eigenen Übertreibungen werde und schließlich dahin komme, die Wahrheit selbst als zu kalt und zu stumpf für seine Zwecke zu empfinden. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 218)


Rinser, Luise: Lesen lernen/a>

  Ich ging in die zweite Klasse der Volksschule, war aber mehr als ein Jahr jünger als alle andern, denn ich war schon mit vier Jahren in die Schule gegangen, aus eigenem Entschluß, ich war einfach in Vaters Klassenzimmer gekommen, hatte mich da hingesetzt, nicht in eine Bank, sondern auf die Stufen eines Holzpodestes vor der Wandtafel, und hatte da gezeichnet, so schien es. Tatsächlich hatte ich einfach alle mitgelernt, spielend. Da es eine Landschule war, bei der alle sieben Klassen zugleich im Zimmer waren, hörte ich auch das, was die "Großen" lernten. Das ging alles so nebenbei vor sich. Lesen konnte ich, das hatte ich mir irgendwie selbst beigebracht. In den "Gläsernen Ringen" schreibt die junge Autorin, sie habe das Lesen gelernt an den "Anweisungen für Beichtväter" aus der Bibliothek ihre Großonkels. Ob das stimmt? Daß ich dort las, stundenlang, das stimmt. Da es außer den Kirchenvätern und Kirchenlehrern in Griechisch und Latein nur ein einziges Buch in Deutsch gab, und da dies nach späterer Aussage des Großonkels wirklich die "Anweisung für Beichtväter" war, muß die Sache wohl so gewesen sein. Wie auch immer: ich konnte lesen, lang ehe ich zur Schule ging. Heute ist das gang und gäbe. Damals war es auffallend. Aber es fiel niemand auf. Niemand bewunderte mich. Auch das blieb so mein Leben lang. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 118f.)


Rinser, Luise: Abgefärbt

  Ich glaube, daß sie Hölderlin vor mir fand, oder wir fanden uns im Zeichen Hölderlins, gleichviel: wir lernten damals ganze Kapitel aus dem Hyperion auswendig, und wir sagten nicht etwa: ich bin enttäuscht und traurig, sondern: "Ich ward es endlich müde, mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld." Wir sagten nicht: Wie hasse ich diesen intellektuellen Unterricht, sondern: "Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er denkt." (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 189)


Rinser, Luise: Einfach & genial

  Das Unliterarische. Eine Leserin schreibt mir, an meinen Büchern gefalle ihr das Einfache, Unmittelbare, der "Verzicht auf die Kunst", das "Un-literarische". Ja, aber gerade das ist die Frucht höchst literarischer Arbeit. Gerade das Allereinfachtste ist durch die meisten Arbeitsmühlen gegangen, und bei jedem Mahlgang fällt etwas weg: das Zu- lang, das- Zu-schön, das Zu-glatt, das Zu-viel und vor allem die Schaustellung des Könnens. Was am Ende herauskommt, ist das Ergebnis einer strengen Aszese: mein Stil. Wenn meine Leser dann das Letzte fürs Erste nehmen, so habe ich erreicht, was ich wollte: die unmittelbare Wirkung. Das, was mich immer noch und wieder bei der Stange hält in meinem Beruf, das ist die Lust an der Form, nicht an einer Aussage. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 27f.)


Rinser, Luise: Wirkung der Literatur

  Wirkung der Literatur. Saarbrücken. Ich soll lesen in einem Saal, der nur durch eine Trennwand abgeschlossen ist gegen den Saal nebenan, in dem ein Ärztekongreß tagt. Man hört von drüben jedes Wort. Wir ziehen um. Es gibt nur einen einzigen freien Raum im Haus: das Cafe. Es ist leer um diese Stunde, bis auf zwei Männer, die im hintersten Winkel ihr Bier trinken. Sie haben nichts dagegen, daß ich hier etwas vorlese. Als ihnen die Kellnerin später ein weiteres Bier bringen will, winken sie ab. Sie hören zu. Nach der Lesung, bei der Diskussion, meldet sich der eine zu Wort: er sei Ingenieur, habe nie in seinem Leben eine solche Art Literatur gelesen, das habe er für Zeitverschwendung gehalten, aber jetzt habe er auf einmal begriffen, daß man lesen müsse, es sei wichtig. (Er kauft am Bücherstand gleich alle meine Bücher.) Dann sagt er: "Jetzt lebe ich schon fünzig Jahre lang, und heut, bei ihrer Lesung, da hab' ich mich auf einmal gefragt: Ja, wozu leb' ich denn?" (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 79)


Rinser, Luise: Literaten

  Nach der Lektüre eines Buches von N.N.: Der Mann schreibt glänzend. Er ist gebildet und gescheit und redet Interessantes. Und doch, meine ich, ist er nichts. Warum nicht? Weil man sieht, wie der Mann, seinen Bauch streichelnd, verzückt wieder liest, was er schrieb und dachte. Er hat weiße Manschetten an beim Schreiben. Für ihn ist alles, was sich in der Welt ereignet, nur Anlaß für gescheite Gedanken und brillante Formulierungen. Er schreibt so, als sei alles Verworrene und Schreckliche schon geordnet, wenn man die sprachliche Formel dafür gefunden hat. Er leidet nicht, das ist es. Wenn er über ein politisches Ereignis schreibt, das schrecklich ist, so tut er es in einer Art, die dem Schrecklichen das Schreckliche nimmt, indem er sich als etwas erweist, das sich in glatte Worte einfangen läßt. Ist es eingefangen, so ist's auch schon erledigt. Ein Literat. Ein Literat, was ist das? Das ist einer, der sich mit Wörtern gegen das Elend der Menschheit und des Menschseins abschirmt. Ein Literat, das ist einer, der beim Aufschreiben dessen, was er an Elend beobachtet und registriert, kein anderes Leiden kennt als das: nicht die allerglänzendste, die originellste Formulierung dafür zu finden. Ein Literat ist einer, dem die Sprache Partner ist, nicht der Mensch in seiner Not. (Luise Rinser: Baustelle. Eine Art Tagebuch, S. 87)


Rinser, Luise: Nutznießung

  Schiller (Vorrede zu Pitavals Merkwürdigen Rechtsfällen) fragt sich, wieso denn "geistlose, geschmack- und sittenverderbende Romane..., sogenannte Schriften für Damen und dergleichen..., den besten Schatz der Lesebibliotheken ausmachen... Wenn man den Ursachen nachgeht..., so findet man ihn (den Grund) in dem allgemeinen Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen, Eigenschaften, woran es oft den schlechtesten Produkten am wenigsten fehlt... Kein geringer Gewinn wäre es für die Wahrheit, wenn bessere Schriftsteller sich herablassen möchten, den schlechten die Kunstgriffe abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben, und zum Vorteil der guten Sache davon Gebrauch zu machen." (Luise Rinser: Baustelle. Eine Art Tagebuch, S. 179)


Rinser, Luise: Konfessionen von Nichtliteraten

  Paris und Frankfurt, November 69. Alle Bekannten reden von dem Bestseller: "Papillon" von Henri Charriere. Die große Mode: Konfessionen von Außenseitern der Gesellschaft, Konfessionen nackt a la Rousseau, geschrieben von Nicht-Literaten. Eine Anti-Literatur also. So scheint es dem Leser, der die Literaten-Literatur satt hat: die artistischen Experimente mit der Sprache, die Maniriertheiten in der Behandlung der Zeit im Roman, die Unverständlichkeiten einer Sprach-Esoterik, die nichts mehr mitteilt als daß sie nicht willens, nicht fähig ist, etwas mitzuteilen. Der Leser von heute hat einen naiven Appetit auf "das Leben, wie es wirklich ist." Er will Informationen über jene Arten zu leben, die er nicht kennt und die am eigenen Leib zu erfahren er sich scheut: das Leben von Zuchthäuslern, in Slums, das Leben von Zuhältern und Huren, von Lesbierinnen, Drogensüchtigen, Lustmördern - aber "wahr" muß es sein, authentisch und nicht historisch sondern aktuell, geschrieben von Zeitgenossen, die nicht Literaten sind und "etwas erfinden", sondern Leute, die erlebten, was sie berichten. Daß es Konfessionen aller Art und Nacktheitsgrade gibt in der Literatur aller Zeiten, vom Alten Testament über Augustinus zu Andre Gide, das interessiert nicht. Das Heutige will man wissen und zwar genau. Man könnte dieses Interesse kurzweg Sensationsgier nennen und damit abtun. Man könnte auch sagen, die Leute sind nicht mehr fähig, Kunst zu verstehen, sie sind verdorben von leichter zugänglichen Informations- Mitteln. Man kann aber auch sagen, daß sich ein neues Interesse am mitlebenden Menschen und seinem echten Schicksal äußert, der dringliche Wunsch, das eigene Private aufzusprengen, das soziale Bewußtsein auszuweiten, sich mit dem Fremden zu verbinden. All das ist vermutlich gemischt. Was mich stört, ist dies: wie voreilig sich die Literatur-Manager in die Sache mischen. Ehe die neue Literatur-Gattung (wenn man sie so nennen will) zu sich selber kommt, ist sie schon fachgerecht kommerziell gesteuert, und schon hat man Grund, an der "Wahrheit" solcher Konfessionen zu zweifeln. Ich wage auch zu sagen, daß es ganz nackte, ganz objektive Tatsachen-Berichte nicht gibt, denn jeder, der berichtet oder beichtet, tut es zu einem Ziele hin, und wenn uns ein Bericht als "wahr" ergreift, dann hat ihn schon ein Dichter geschrieben, das heißt einer, der fähig ist, das zu erfahren, was andere nicht erfahren, und der bei der Niederschrift mit aller Selbstverständlichkeit jene Methoden anwendet, wie sie jeder Dichter anwendet: er wählt aus, spitzt zu, montiert, läßt weg, färbt um, rafft, betont, kurz er spielt mit Tatsachen und Lesern und kann nicht anders, da er ja "die Natur sieht durch sein Temperament" - und diese Definition der Kunst trifft immer noch zu. Genet und die Sarrazin und dieser Charriere sind nicht im Gefängnis Dichter geworden, sondern waren es vorher. Aber bald werden sie Literaten sein, die Gesellschaft vielleicht weiter attackierend und schockierend und dafür von der Gesellschaft hoch bezahlt. Man möchte jungen Autoren, die rasch berühmt werden wollen, raten, Lustmörder zu werden... (Luise Rinser: Baustelle. Eine Art Tagebuch, S. 300f.)


Rinser, Luise: Stinkende Faultiere

  ... daß unter Mao Tse Tung, genau gesagt, während der unseligen 'Kulturrevolution' (unter dem Einfluß der 'Viererbande'), Schriftsteller als "stinkende Faultiere" galten, bis sie selber, sozusagen unter Gehirnwäsche, glaubten, sie seien nutzlos. (Luise Rinser: Wachsender Mond)


Rost, Gottfried: Der Bibliothekar

  Der Bibliothekar, unter wechselnden Bezeichnungen einer der ältesten Berufe der Menschheit (nicht zu verwechseln mit dem ältesten Gewerbe der Welt!), hat zu keiner Zeit die Transparenz anderer geschichtsträchtiger Gewerbe erreicht. Die Details seiner Berufsarbeit überfordern offensichtlich die landläufige Vorstellungskraft. Trotz prominenter Laudationes, die das Buch mit Essen und Trinken in die Reihe elementarer Lebensbedürfnisse stellen, hinkt die Lektüre im realen Vollzug beträchtlich nach. Lesen ist keine angeborene Fähigkeit des Menschen. Selbst wer das Buch als Lebenspartner akzeptiert, hat unter Umständen Mühe, den Bibliothekar von seinen nominellen Verwandten zu unterscheiden. Erschwerend tritt hinzu, dass der Bibliothekar, wie Veteran und Veterinär im Turngedicht von Joachim Ringelnatz, mit einem von diesen in der individuellen Veranlagung deckungsgleich sein kann. (Gottfried Rost: Der Bibliothekar)


Rostenberg/Stern: Herr Fischer und Herr Ritter

  Ich diskutierte mein Forschungsvorhaben mit Monsieur Ritter, der sehr aufgeregt war, als ich sprach. "C'est magnifique", rief er aus. "Mit dem größten Vergnügen werde ich Ihnen bei der Auswahl der Bücher behilflich sein. Das ist ein wichtiges Projekt. Wie Sie wissen, besitzt unsere Bibliothek eine der größten Sammlungen von Inkunabeln und Büchern aus dem frühen sechszehnten Jahrhundert. Ich werde Sie nunmehr in unseren Katalogsaal bringen." Hier standen die schweren Bände in den Regalen, die die Bestände der Bibliothek verzeichneten - in zwei Abteilungen, die eine mit 'Avant la Guerre', die anderen mit 'Apres la Guerre' bezeichnet. Ich war nicht sicher, ob sich das auf den Bauernkrieg oder den Weltkrieg bezog. Monsieur Ritter zog, auf den Zehenspitzen balancierend, einen dicken Wälzer mit dem Etikett ER-ET heraus. "Voila - le Grand Erasme". Er nahm ein Bestellformular und trug die Signatur, den Namen und den Titel ein. "Na und?", dachte ich. "Dann stellte er mich dem Leiter des Katalogsaals, Herrn Fischer, vor, der einen zahnbürstenartigen Schnauzbart, eine fest gebundene Krawatte und einen weißen Kittel zur Schau stellte. Er beäugte mich mißtrauisch und verbeugte sich steif. Monsieur Ritter flüsterte mir dabei zu: "Sie müssen ihm Trinkgeld geben". Ich warf Ritter einen fragenden Blick zu. "Trinkgeld? Jedes Mal, wenn er mir ein Buch bringt?" "Nicht 'jedes' Mal", antwortete er, "aber häufig." (Leona Rostenberg; Madeleine B. Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher, S. 101)


Rostenberg/Stern: Jene Art Literatur

  In diesem bunten Blatt liest Jo eine Geschichte, die ein "Labyrinth aus Liebe, Geheimnis und Mord" ist und zu "jener Art leichter Literatur" gehört, "in der die Leidenschaften sich austoben, und wenn die Inspiration des Autors versagt, dann fegt eine grandiose Katastrophe die Hälfte der dramatis personae von der Bühne, und die andere Hälfte jubiliert über deren Untergang." (Leona Rostenberg; Madeleine B. Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher, S. 160)


Rostenberg/Stern: Bücher über Bücher

  Gemeinsam machten wir eine Bestandsaufnahme unserer Bücher und schätzten ihren Wert. Auf dem 'Encyclopaedia-Britannica'-Regal standen in erster Linie Bücher, die Leona für den Katalog Nr. 1 ausgesucht hatte. Er sollte, wie sie mir erklärte, die Geschichte des Buches als Produkt und als Ausdrucksmedium widerspiegeln, sollte die Kunst des Buchdrucks und die großen Drucker ebenso ins Licht rücken wie Büchersammler, Buchbinder, die Handwerker, die Liebhaber, sogar die Fälscher von Büchern. "Aber ist das nicht furchtbar einseitg?" fragte ich. "Es gibt keine Literatur, keine Geschichte, keine Naturwissenschaften, keine Kunst. Wird es genug Interessenten für ein so spezielles Thema geben?" Leona beruhigte mich: "Für Bibliothekare, Buchhändler und Sammler ist das Thema Bücher über Bücher kein bißchen einseitig." Also gingen wir an die Arbeit. (Leona Rostenberg; Madeleine B. Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher, S. 198)


Rostenberg/Stern: Ein Vorschlag

  ... flüchtiger Artikel über "Die Kunst des Papierkrieges", geschrieben im Mai 1787 für eine Zeitschrift, das 'American Museum'. Der Artikel war mit verschiedenen zeitgenössischen Druckbeispielen illustriert, und sein Verfasser, Francis Hopkinso, hatte den merkwürdigen Vorschlag gemacht, Gefühle wie Freude, Leidenschaft und Ernst durch verschiedene Drucktypen und Schriftgrößen auszudrücken. (Leona Rostenberg; Madeleine B. Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher, S. 200)


Rostenberg/Stern: Bibliatelie

  Lange bevor ich mich am Leben und der Lektüre Robert Hookes gütlich tat, wandte ich meine Liebe zum Buch auch auf eine andere Manie an: Briefmarkensammeln. Jahrelang hatte ich Briefmarken gesammelt, auf denen jede Phase der Geschichte des Buches abgebildet war, von der Erfindung des Buchdrucks zu frühen Druckern und Verlegern, von der Druckerpresse zu Bibliotheken, von Erstausgaben zu Holzschnitten und Buchillustrationen, von Druckplatten zu Buchmessen. Marken aus Malta und dem Iran, den Cook-Inseln und Ceylon, Israel und Barbados, der Republik Kongo und den Malediven verliehen meiner Sammlung Farbe, und ich jagte einem Buch auf einer Briefmarke beinahe mit demselben Feuereifer nach, mit dem ich einem Buch in einem englischen Keller nachjagte. Ich erfand einen Namen für meine verrückte Leidenschaft, Bibliatelie, und beschloß, ein Buch über meine Bücher auf Briefmarken zu machen. 'Bibliately' wurde 1977 von 'The American Philatelist' als Serie und später auch in Buchform veröffentlicht. Es bot den Horden von Briefmarkensammlern ein neues "philatelistisches Thema" und den Bibliomanen ein neues Buch über Bücher. (Leona Rostenberg; Madeleine B. Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher, S. 292)


Roth, Joseph: Die Achtung des Autodidakten

  Er hatte die Achtung des Autodidakten vor Büchern, die noch größer ist als die Verachtung der Bücher, die den Weisen auszeichnet. Wenn er in einem Katalog blätterte, vor den Schaufenstern der Buchhandlungen stehenblieb, in den stillen, sacht verstaubten Räumen der Bibliothek saß, die dunkelgrünen Rücken unzähliger Bücher in den hohen und breiten Regalen ansah, die militärischen Reihen grüner Lampenschirme auf den langen Tischen, die tiefe Andacht, die alle lesenden Menschen in der Bibliothek frommen Betern in einer Kirche ähnlich machte, ergriff ihn die Angst, daß er das "Wichtigste" nicht wisse und daß eine Leben zu kurz sei, um es zu erfahren. (Joseph Roth: Der stumme Prophet, S. 19)


Roth, Joseph: Bücher auf dem Sofa

  Auf das Sofa konnte man sich nicht ohne weiteres setzen. Schwere Bücher und leichte Zeitungen, bunte Broschüren, Prospekte, dunkelgrüne Bände aus einer Bibliothek, Manuskripte und unbenutzt, an den Rändern vergilbende Oktavbogen lagen unter- und nebeneinander, und alles hielt nach unbekannten Gesetzen, denen zufolge die schweren Bände eines Lexikons von einem dünnen, aus grünen Broschüren gebildeten Podest nicht herunterfielen. Savelli hatte seinen Gästen die Stühle überlassen und saß auf acht übereinandergelegten dicken Büchern, aber immer noch so tief, daß er mit dem Kinn gerade die Tischplatte überragte. (Joseph Roth: Der stumme Prophet, S. 22f.)


Roth, Philip: Bin ich kleinlich?

  Was wäre sonst noch an ihr auszusetzen - da wir gerade dabei sind? Sie bewegt die Lippen beim Lesen. Kleinlich? Meinen Sie? Schon mal beim Essen einer Frau gegenüber gesessen, mit der Sie angenommenerweise ein Verhältnis haben - einem neunundzwanzig Jahre alten Menschen -, und gesehen, wie ihre Lippen sich bewegen, während sie in der Zeitung die Kinoanzeigen von oben nach unten anschaut, den Sie sich zusammen anschauen könnten? Ich weiß schon, welcher Film wo läuft, bevor sie es mir sagt - vom Lippenlesen! Und die Bücher, die ich ihr bringe, schleppt sie in ihrer Einkaufstasche mit sich herum, von einem Fotoatelier ins andere - um sie zu lesen? O nein. Um irgendeinen schwulen Fotografen zu imponieren, um Passanten auf der Straße zu imponieren, Fremdem - mit ihrer Vielseitigkeit! Sieh dir das Mädchen mit dem prima Arsch an- sie hat'n Buch bei sich! Mit richtigen Wörtern drin! (Philip Roth: Portnoys Beschwerden, S. 203)


Roth, Philip: Historiker eigener Person

  Die Auswahl dessen, was man in Fiktion offenbart, wird von einem grundlegend ästhetischen Motiv bestimmt; wir beurteilen den Verfasser eines Romans danach, wie gut er oder sie die Geschichte erzählt. Dagegen beurteilen wir den Verfasser einer Autobiographie, dessen bestimmendes Motiv in erster Linie die Ehtik und nicht die Ästhetik ist, nach moralischen Gesichtspunkten. Wie nahe kommt die Erzählung der Wahrheit? Verbirgt der Verfasser seine eigenen Motive, indem er seine Handlungen und Gedanken so darstellt, daß die entscheidende Rolle der Umstände zutage tritt, oder versucht er, etwas zu verbergen, indem er erzählt, um nicht zu erzählen? In gewisser Weise erzählen wir immer auch in der Absicht, nicht zu erzählen, aber von einem Historiker der eigenen Person wird erwartete, daß er dem normalen Impuls zur Fälschung, zu Verzerrung und Verleugnung bis zum Äußersten widersteht. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 196)


Roth, Philip: Liebende Vergebung

  Was Ihnen als Schriftsteller gerade noch fehlt, wäre, von all den Leuten geliebt zu werden und Vergebung zu bekommen, die Ihnen seit Jahren gesagt haben, Sie sollten Einkehr halten - wenn es irgend etwas gibt, das einer literarischen Laufbahn den Garaus machen kann, dann ist es die liebende Vergebung, die man von seinem natürlichen Feinden erhält. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 200)


Roth, Philip: Die Verbindung halten

  Seine Abendlektüre habe er noch vor sich. Er werde einem Schriftsteller nicht gerecht, wenn er ihn nicht an aufeinanderfolgenden Tagen und nicht unter drei Stunden pro Sitzung lese. Sonst verliere er trotz seiner Notizen und trotz des Unterstreichens die Verbindung mit dem inneren Leben eines Buches und hätte genausogut gar nicht erst anzufangen brauchen, es zu lesen. Bisweilen, wenn es sich nicht vermeiden lasse, einen Tag ausfallen zu lassen, fange er lieber noch einmal ganz von vorn an, statt sich von dem Gefühl quälen zu lassen, einem seriösen Autor nicht gerecht zu werden. (Philip Roth: Der Ghost Writer, S. 66)


Roth, Philip: In Bücher verbeißen

  "Was sollen Leute, die alles Wissen nur aus Büchern haben, schon anderes anfangen, mit all den Meisterwerken, die sie lesen..." "... als sich darin zu verbeißen. Richtig. In die Bücher, statt in die Hand, die ihnen die Luft abdrückt." (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 212)


Roth, Philip: Verdrehen

  Ich hasse Bibliotheken, ich hasse Bücher und ich hasse Universitäten. Wenn ich mich recht erinnere, neigen sie dazu, alles im Leben ein ganz klein wenig in etwas anderes zu verdrehen als es ist - das heißt, 'ein ganz klein wenig', wenn man Glück hat. Diese armen ahnungslosen Theoretiker und theoriebesessenen Bücherwürmer, die sich vorn hinstellen und losdozieren, sind es, die alles zu etwas noch Schlimmerem verdrehen. (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 75)


Roth, Philip: Taktvolle Prosa

  Es gibt fiktionale Texte, die mit großem Krach wild in die Menge geschossen werden, und es gibt welche, die ihr Ziel nicht erreichen, Granaten, die nicht explodieren, und es gibt fiktionale Prosa, die sich als in den Schädel des Schriftstellers selbst gerichtet erweist. Meine gehört nicht zu alledem. Ich schreibe nicht mit grimmiger Energie. Niemand könnte das, was ich schreibe, je als Keule benützen. Meine Prosa stellt all die englischen Tugenden von Takt, gesundem Menschenverstand, Ironie und Zurückhaltung dar - tödlich rückwärtsgewandt. Und es geht mir ganz leicht von der Hand, unglücklicherweise. Selbst wenn ich die Frechheit aufbringen würde, 'über alles auszupacken' und von dir zu schreiben, kämest du einfach als ganz angenehmer Bursche heraus. Ich sollte diese Erzählungen unterzeichnen mit: 'Von einem atavistischen Wesen'". (Philip Roth: Gegenleben)


Roth, Philip: Schamlose Ausnützung eines Talentes

  Was man dem Schriftsteller neidet, sind nicht die Dinge, um derentwillen der Schriftsteller sich für so beneidenswert hält, sondern das theaterspielende Selbst, in dem sich der Autor gefällt, nämlich ohne Verantwortung in diese Haut und wieder herauszuschlüpfen, das Schwelgen nicht im 'Ich', sondern im Entrinnen von diesem 'Ich', selbst wenn es - insbesondere wenn es - mit sich bringt, daß man sich mit imaginären Leiden überhäuft. Der Neid gilt der Gabe zu theatralischer Selbstverwandlung, der Art der Fähigkeit, durch schamloses Ausnützung seines Talentes die Verbindung zum wirklichen Leben zu lockern und mehrdeutig zu machen. (Philip Roth: Gegenleben)


Roth, Philip: Kennen oder nicht kennen?

  "Man sagt, wenn man einen Schriftsteller kennenlernt, ist es zuweilen schwieriger, sein Werk zu verabscheuen, als wenn man sich einfach das Buch holt und es öffnet und dann in die Ecke schleudert." "Nicht für jeden. Manchen fällt es leichter, die Tatsache zu verabscheuen, daß sie einen kennengelernt haben." (Philip Roth: Gegenleben)


Roth, Philip: Zurückgeblieben

  Der Dichter verfügte nicht über die Fähigkeiten, mit denen andere Menschen ihr Vorankommen in der Welt sichern. Sein Egoismus galt einzig und allein der Sprache. Er starb schließlich in relativ jungen Jahren am Alkohol, denn er, der im freundlichen Amerika ganz auf sich allein gestellt war, konnte nur durch Alkohol untergehen. (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 58)


Roth, Eugen: Wertschätzung

  Natürlich, Meister ist nicht jeder,
Und einen guten Band in Leder
Und ähnlich knifflig feine Sache
Kann mancher heute nicht mehr machen.
Längst schwand des Handwerks goldner Boden
Mit den modernen Klebmethoden
Und manchen Buchfreund hört man jammern,
Sieht er verrosten alte Klammern
Wo findet heute sich der Mann,
Der einen Handband zählen kann,
Ja, der - und da ist erst der Fluch!-
Da edle, handgebundne Buch
Und den darauf verwandten Fleiß
Noch nach Gebühr zu schätzen weiß?


Roth, Eugen: Vor Weihnachten

 O süßer Weihnachtsvorgeschmack:
Mit einem neuen Bücherpack,
Der mich zu toller Neugier reizt,
Komm ich nach Haus und mache Licht.
Eisblume sich am Fenster spreizt.
Bald glüht und sprüht mit Knick
und Knack
Der Ofen, tüchtig eingeheizt.
Nur her mit Pfeife und Tabak!
Wie lieblich mir's die Nase beizt...
Gar noch Kaffee? Nur nicht gegeizt:
So heimlich war's seit Jahren nicht!
Aufs Sofa ich mich flack
Und schmökre erst in Schnick
und Schnack -
Doch bald versink ich im Gedicht,
Indes mit Jagdruf, Wind und Wicht
Die wilde Rauhnacht draußen weizt.


Roth, Eugen: Das Hilfsbuch

 Ein Mensch, nicht wissend von "Mormone"
Schaut deshalb nach im Lexikone
Und hätt es dort auch rasch gefunden -
Jedoch er weiß, nach drei, vier Stunden
Von den Mormonen keine Silbe -
Dafür fast alles von der Milbe,
Von Mississippi, Mohr und Maus:
Im ganzen "M" kennt er sich aus.
Auch was ihn sonst gekümmert nie,
Physik zum Beispiel und Chemie,
Liest er jetzt nach, es fesselt ihn:
Was ist das? Monochloramin?
"Such unter Hydrazin", steht da.
Schon greift der Mensch zum Bande "H"
Und schlägt so eine neue Brücke
Zu ungeahntem Wissensglücke.
Jäh fällt ihm ein bei den Hormonen,
Er sucht ja eigentlich Mormonen!
Er blättert müd und überwacht:
Mann, Morpheus, Mohn und Mitternacht...
Hätt weiter noch geschmökert gern,
Kam bloß noch bis zu Morgenstern
Und da verneigte er sich tief
Noch vor dem Dichter - und - entschlief.


Roth, Eugen: Kauft Bücher!

  Ein Mensch, gedrängt zu dem Versuch,
Was Gutes zu schreiben übers Buch,
Tut herzlich gerne seine Pflicht.-
Doch die, die's angeht, lesen's nicht,
So daß die ganze schöne Predigt
Sich solchermaßen selbst erledigt.

  Wer mitreist auf dem Bücherschiff,
Dem ist es längst schon ein Begriff,
Was uns, in einer Welt voll Nieten,
Die wertbeständigsten Bücher bieten.
Und daß das Buch noch stets der Vater
Von Funk und Film und vom Theater.
Sie alle müßten rasch verderben,
Begänne erst das Buch zu sterben.

  Das Beste, das die Dichter stiften,
Steht sicher nicht Schundzeitschriften,
Auch nicht im Fachbuch und im Zweckbuch,
Und nicht im Kochbuch und im Scheckbuch,
Den einzigen Büchern, die die Massen
Noch einigermaßen gelten lassen.
Man wünscht die Dichter und die Denker -
Wenn überhaupt - nur mehr zum Henker.

  Einst von der Maas bis an die Memel
Las man selbst Lyrik, etwas Dehmel,
Und von der Etsch bis an den Belt
War'n Bücherbretter vollgestellt
Mit Lessing, Herder, Goethe, Schiller.
Jetzt wird's allmählich still und stiller,
Und von der Isar bis zur Weser
Tönt laut der Angstruf nach dem Leser.

  Dem Käufer, um's genau zu sagen,
Der, Schwarz auf Weiß nach Haus zu tragen,
Sich leidenschaftlich kann erhitzen:
Denn, was man liebt, will man besitzen.
Gleich dämpft Ihr meiner Werbung Feuer
Und ruft: "Die Bücher sind zu teuer!"
Gewiß geht's heut um jeden Groschen.
Doch, wo die Liebe so erloschen,
Daß man zu Opfern nicht mehr willig,
Hat's Buch verspielt, auch wenn es billig.

  Ausreden gibt es zur Genüge,
Die wahr sind - und im Grund doch Lüge:
Dem fehlt's an Zeit, dem fehlt's an Platz,
Zu mehren seinen Bücherschatz,
Und wütend schrei'n die Bildungsstürmer,
Hin sei die Zeit der Bücherwürmer!
Die wünschen wir selbst nicht zurück. -
Doch wer das hohe, einzige Glück
Noch nie erfuhr, die Offenbarung,
Daß Bücher Geist- und Herzensnahrung,
Daß sie der Freiheit schönstes Licht -
Der ist fürwahr ein armer Wicht!
Wer nie der Bücher Trost begehrt,
Ist nicht des Menschensnamens wert.

  Die Bücher sind nur eins von beiden -
Was, muß das ganze Vok entscheiden:
Sie sind der Menschheit höchste Güter -
Wo nicht: nur alte Ladenhüter!
Wir hoffen, diese Wahl ist klar:
Kauft Bücher! Und bezahlt sie bar!


Roth, Eugen: Letteritis

  Ganz plötzlich wird es Dir bewußt:
Erkrankt ist Deine Leselust!
Nach welchem Buche Du auch faßt,
Keins, das zu Deiner Stimmung paßt!
Du gibst nicht hin – es gibt nichts her:
Bald ists zu leicht, bald ists zu schwer.
Mit leerem Herzen und Verstand
Starrst Du auf Deine Bücherwand:
Die altbewährte, edle Klassik
Ist Dir auf einmal viel zu massig
Und über die moderne Lyrik
Denkst Du schon beinah ehrenrührig.
Der Reißer selbst, in dessen Flut
Du sonst gestürzt voll Lesewut,
Wirft heut Dich an sein Ufer, flach;
Dein Drang zur Wissenschaft ist schwach;
Und das gar, was sich nennt Humor,
Kommt Dir gequält und albern vor.
Geduld! Laß ab von aller Letter!
Es wird sich ändern, wie das Wetter:
Schon morgen, unverhofft genesen,
Kann Du dann lesen, lesen, lesen!


Roth, Eugen: Bücher

  Ein Mensch, von Büchern hart gedrängt,
An die er lang sein Herz gehängt,
Beschließt voll Tatkraft, sich zu wehren,
Eh sie kaninchenhaft sich mehren.
Sogleich, aufs äußerste ergrimmt,
Er ganze Reihn von Schmökern nimmt
Und wirft sie wüst auf einen Haufen,
Sie unbarmherzig zu verkaufen.
Der Haufen liegt, so wie er lag,
Am ersten, zweiten, dritten Tag.
Der Mensch beäugt ihn ungerührt
Und ist dann plötzlich doch verführt,
Noch einmal hinzusehn genauer –
Sieh da, der schöne Schopenhauer...
Und schlägt ihn auf und liest und liest,
Und merkt nicht, wie die Zeit verfließt...
Beschämt hat er nach Mitternacht
Ihn auf den alten Platz gebracht.
Dorthin stell er auch eigenhändig
Den Herder, achtundzwanzigbändig.
E.T.A. Hoffmanns Neu-Entdeckung
Schützt diesen auch vor Zwangs-Vollstreckung.
Kurzum, ein Schmöker nach dem andern
Darf wieder auf die Bretter wandern.
Der Mensch, der so mit halben Taten
Beinah schon hätt den Geister verraten,
Ist nun getröstet und erheitert,
Daß die Entrümpelung gescheitert.


Roth, Eugen: Bei lustiger Gelegenheit

  Ein Mensch, auf sturen Ernst erpicht,
Liest dieses Buch am besten nicht.
Die gute Absicht, zu erheitern,
Die brächte der gewiß zum Scheitern.
Dieses Buch kennt keinerlei Verpflichtung
Zur Weltgeschichte oder Dichtung:
Es ist ein Scherz, der seinerzeit
Bei lustiger Gelegenheit
Als Lichtbildervortrag manchen freute,
Und will auch gar nicht mehr sein heute
Als ein bescheidener Versuch - Es schaut bloß so aus,
als wär's ein Buch.
(aus: Die Frau in der Weltgeschichte)


Rothmann, Ralf: Schreiben geht zu langsam

  Schreiben stelle ich mir wahnsinnig vor. Das alles so hinzufummeln mit den Sätzen und der Grammatik und so ... Ginge mir echt zu langsam. Du fühlst etwas, willst es ausdrücken, und dann überlegst du, wie das mit diesem Relativpronomen war, und ob eine Genitivkonstruktion jetzt stilvoll ist oder nicht, und welchen Verlag du nimmst, und plötzlich - flupp ist das Gefühl weg. Dabei hast du noch kein Wort geschrieben! (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 58)


Rothmann, Ralf: Schwankender Halt

  Er zwang sich, zu Hause zu bleiben, las viel und planlos, wie um etwas hinter sich zu bringen, und wünschte sich dabei eine Lektüre, die ihm das dauernde, quälende Gefühl nahm, nicht genug zu lesen, richtiger, nicht mehr genug Zeit zu haben, um in Ruhe weniger zu lesen. Von jedem Buch, besonders von jedem wissenschaftlichen, erhoffte er sich eine letztendliche Erklärung, freilich ohne zu wissen, wofür. Daß alles neue Fragen aufwarf, denen gemäß er seine Lektüre wählte, gab ihm schließlich einen schwankenden Halt, fragend, dachte er, war er ein wenig mehr auf der Welt. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 16)


Rothmann, Ralf: Ruhe! Er liest!

  Wer liest denn heute noch. Früher, ja, da habe ich die Bücher verschlungen, hatte immer eins vor der Nase. Erst Kinderkram, dann Enid Blyton und Karl May, dann Stephen King. Aber wenn ich ehrlich bin: Konzentriert gelesen habe ich selten. Brauchte sie eher, um mich dahinter zu verschanzen und meinen eigenen Träumen nachzuhängen. Denn wer las, war unantastbar, dem ging keiner an den Kragen; vor der Intelligenz, auch vor der vermeintlichen, hatte man so viel Respekt wie vor dicken Muckis. Und wenn Opa Jupp wieder einen Sklavendienst von mir wollte, Bier holen, Kompost stechen, Taubenschlag auskratzen, zischte Oma Mia: "Laß den Jungen in Ruhe, der liest!" - Ein feiner Trick. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 58)


Rothmann, Ralf: Ulysses

  Ich sagte, daß ich meistens läse, und wir kamen auf meine gerade beendete Lektüre zu sprechen, den "Ulysses" von James Joyce, wobei Dr. Hernandez große, begeisterte Augen machte. - Ein schreckliches Buch, nicht wahr! Aber man sollte es kennen, Sie haben recht. Ich finde, es wird überschätzt. Das ist kein Gesang aus freier Lunge, wissen Sie, das ist geschriftstellert, knarrt vor Willenskraft und läßt bei aller Großspurigkeit doch kalt. Überhaupt ein fragwürdiges Seelchen, dieser Joyce. Denken Sie nur an die Briefe an Nora. Ich hatte diese Briefe nicht gelesen - mich aber derart lange und mühevoll durch den "Ulysses" gearbeitet, daß ich ihn jetzt unbedingt verteidigen wollte. Nur wie? Im tiefsten Herzen war mir das "Jahrhundertbuch", von einigen Passagen abgesehen, tatsächlich immer fremd geblieben. (Ralf Rothmann: Stier, S. 268)


Rothmann, Ralf: Goethe-Zwang

  Ich machte mir einen Tee und las weiter. Es war für die Schule, und ich fand Goethe... naja. Nicht weil er schlecht war. Das nicht. Aber weil man ihn gut finden sollte. (Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen, S. 26)


Rothmann, Ralf: Begegnung

  Der Journalist war der erste schreibende Mensch, dem ich überhaupt begegnete, und wir gingen in die Kantine, wo er mir schnell auf die Schliche kam. Seine Kinnladen standen genau im rechten Winkel zu der Angst, ich könnte ihn bitten, Gedichte von mir zu lesen. (Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen, S. 181)


Rothmann, Ralf: Bücher beschützen

  Bücher beschützen. Dem Leben, das nachfühlbar erzählt wird, kann für kurze Zeit das Diffuse und Bedrohliche genommen werden. Nicht zuletzt rührt die Geborgenheit im Buch auch daher, daß gebannt ist, was den Lesenden ängstigt oder beunruhigt; gefesselt in der Formulierung, hat es keine Macht mehr über ihn, jedenfalls für die Dauer der Lektüre. Nur das Glück fühlt sich nicht wohl im Text, das Glück muß fliehen. Ein Reh ohne Scheu, das riecht immer gleich nach Disneyland. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 8)


Rothmann, Ralf: Initiation

  Seit seinem vierzehnten Jahr arbeitete er um des Geldes willen in verschiedenen Berufen und Zusammenhängen, die ihm alle immer dasselbe sagten: Wehe, du kommst zu spät. Wehe, du mauerst zu langsam. Wehe, du gehst zu zeitig. In den Augen seiner Lehrherren, Vorarbeiter und Meister war er zudem selten richtig im Kopf: ein Geistesabwesender, der sich schon die Finger quetschte, wenn er einen Zollstock auseinanderklappte; ein Idiot in der Wolke, der in der Mittagspause, wenn alle ihre Bildzeitungen oder Sankt-Pauli-Nachrichten hervorholten, in Reclam-Heften blätterte. Doch auch wenn viele Bücher mehr als sieben Siegel für ihn hatten und er sich das Verständnis mancher Texte einbilden mußte - die Literatur war die erste und einzige Autorität in seiner Jugend, die ihm sagte: Du spinnst nicht! Du liegst richtig mit deinen Träumen! Das Leben ist kein Fertighaus, das Leben erwartet etwas Einmaliges von dir, eine Form, und es ist völlig in Ordnung, ein Pferd zu umarmen oder einen Baum mit Liebling anzusprechen. Und darum wollte er Schriftsteller werden. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 156)


Rowohlt, Harry: Aus einem Interview

  In einem Interview wurde Harry Rowohlt die Frage gestellt, ob er auch Bücher weitergäbe. Er antwortete: "Ja, das habe ich auch schon mal in einem Grußwort zur Hamburger Antiquariatsmesse geschrieben, dass auf diese Weise die eigene Bibliothek immer schlechter wird. Weil man nur gute Bücher weiterverleiht, die man dann aber nie zurückkriegt, während der halbe Meter Gabriele Wohmann, den man beim Zusammenziehen übernommen hat, bleischwer dasteht. Na ja, wie Stehsatz halt." Und auf die Frage, ob er in Büchern Trost fände, erwiderte Rowohlt: "Ich finde, dass Literatur kein Lebenshelfer sein sollte. Wie es bei Bohumil Hrabal heißt: Kunst ist nicht dazu da, dass man besser einschläft. Sie soll wie eine im Taschentuch vergessene Rasierklinge sein, sodass man, wenn man sich schnäuzt, sich die Nase aufschneidet und den Herrn Künstler fäustlings belehrt, so ginge es ja nicht."


Ruge, Elisabeth: Macht Lesen klüger?

  Glücklich macht es sicher auch. Klüger natürlich, keine Frage. Ich glaube aber auch, dass Lesen "besser" macht. Schon weil viele Romane voraussetzen, dass man sich mit Empathie in die Position eines anderen begibt, sich ganz in die Welt eines anderen Menschen versenkt. Da kann man schon nicht mehr borniert an der eigenen Perspektive festhalten.


Rühmkorf, Peter: Einen Ausdruck verschaffen

  Ich glaube dass der Schriftsteller dazu da ist - und speziell der Lyriker - , um dem Unangepassten, um dem Nebengleisigen, um dem, was nicht auf der Hauptstrasse läuft, eine Stimme und einen Ausdruck zu verschaffen. Ich glaube, dass sich in der Stimme des Schriftstellers, in der Stimme des Lyrikers, andere Ichs erkennen können. Dass andere Menschen sagen: Das habe ich eigentlich über mich sagen wollen, ich hab's bloß noch nicht richtig gefasst gehabt.


Ruppelt, Georg: Sprache üben

  Ich bin der festen Überzeugung, dass man gute Sprache nur durch gute Sprache lernt. Und dazu gehört eben auch etwas Mühe. Dazu gehört auch, sich in ältere Sprachstile einzulesen. Ich wette, wenn jemand sein Deutsch verbessern will, kann er das innerhalb weniger Wochen oder Monate schaffen, indem er einfach nur liest. Und zwar gute Texte, die sowohl sprachlich wie inhaltlich zu einer Klasse gehören, die man so im Alltagsleben nicht antrifft. (Georg Ruppelt)


Rushdie, Salman: Bücher demütigen

  Neben einer zehnbändigen Ausgabe von Richard Burtons Übersetzung von "Tausendundeine Nacht", die langsam vom Moder und vom Bücherwurm zerfressen wurde, was dem tief verwurzelten Vorurteil gegen Bücher anzulasten war, das Changez dazu bewog, Tausende der schädlichen Dinger zu erwerben, um sie dann zu demütigen, indem er sie ungelesen verrotten ließ, stand in einem Regal in Changez Chambchawalas mit Teakholz getäfeltem Arbeitszimmer eine Wunderlampe [...], die danach verlangte, daß man an ihr rieb. (Salman Rushdie: Die Satanischen Verse, S. 44)


Rushdie, Salman: Respektlosigkeit

  Ein Buch besorgt. Aus dem Munde Gibrils, des Autodidakten, klang es wie: Stoff besorgt. Für ein Mädchen aus einem Haus, in dem Bücher verehrt wurden - ihr Vater hatte ihnen befohlen, jedes zufällig zu Boden gefallene Buch zu küssen, und dessen Reaktion darin bestanden hatte, ihnen übel mitzuspielen, Seiten herauszureißen, die sie behalten wollte oder für schlecht befunden hatte, in die Bücher hineinzukritzeln und sie zu zerkratzen, um klarzustellen, wer das Sagen hatte -, war Gibrils gutmütige Respektlosigkeit, Bücher als das zu nehmen, was sie waren, ohne das Bedürfnis zu verspüren, vor ihnen niederzuknieen oder sie zu ruinieren, etwas Neues; und, wie sie fand, auch Sympathisches. (Salman Rushdie: Die Satanischen Verse, S. 313f.)


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