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Bibliomanische FAB / [N]
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Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und
obendrein dumm wie Beton. Ein gesegneter Mangel an
Beobachtungsvermögen (daher eine absolute Unkenntnis
der Umwelt und eine völlig Unfähigkeit, irgend
etwas beim Namen zu nennen) ist eine Eigenschaft, die
man bei durchschnittlichen russischen Literaten
ziemlich häufig antrifft, als ob ein gütiges Geschick
am Werke sei, das dem Unbegabten den Segen der
Sinneswahrnehmung versagt, damit er nicht leichtfertig
das Material verfusche. (Vladimir Nabokov: Die Gabe, S.
513)
"Foggs Reise" und "Holmes' Erinnerungen" las Lushin
in zwei Tagen, und als er sie ausgelesen hatte, sagte
er, das sei nicht, was er hätte haben wollen - die
Ausgaben seien unvollständig. Von den übrigen
Büchern gefiel ihm "Anna Karenina" und hier
besonders die Schilderung der Wahlen zu den
Landständen und das von Oblonskij bestellte Mahl.
Auch die "Toten Seelen" machten auf ihn einen
gewissen Eindruck; außerdem erkannte er unverhofft
einen ganzen Abschnitt als ein langes, qualvolles
Diktat aus seiner Kindheit wieder. Neben den
sogenannten Klassikern brachte ihm seine Braut auch
alle möglichen frivolen französischen Romane. Alles
war geeignet, wenn es Lushin nur zu zerstreuen
vermochte - selbst jene zweifelhaften Novellen, die
er zwar peinlich berührt, aber mit Interesse las.
Dagegen versetzten ihn Gedichte (zum Beispiel ein
Rilke-Bändchen, das sie auf Anraten des
Buchhändlers gekauft hatte) in einen Zustand banger
Zweifel und Schwermut. Aus diesem Grund verbot der
Professor auch die Lektüre von Dostojewskij, der -
wie der Professor sich ausdrückte -
niederschmetternde Auswirkungen auf die Psyche des
heutigen Menschen habe, weil man da wie in einen
furchtbaren Spiegel... "Ach, Herr Lushin denkt über
die Bücher nicht weiter nach", sagte die Braut
munter. "Und Gedichte versteht er wegen der Reime
nicht so recht, Reime machen ihm zu schaffen." Und
seltsam: zwar hatte Lushin bisher noch weniger
Bücher gelesen als sie, hatte das Gymnasium nicht
abgeschlossen und sich für nichts anderes als für
Schach interessiert, und doch spürte sie bei ihm
Ansätze einer Bildung, die ihr fehlte. Es gab Buchtitel
und Namen von Helden, die Lushin aus irgendeinem
Grunde von Hause vertraut waren, obwohl er die
Bücher selbst nie gelesen hatte. Seine Sprache war
unbeholfen und voller ungefüger, lächerlicher Worte -
doch manchmal schwang darin ein Ton mit, der auf
andere Worte hindeutete, die er nur nicht
aussprechen konnte. Trotz seiner Unwissenheit, trotz
der Armut seines Wortschatzes war da kaum
wahrnehmbar ein Vibrieren in ihm, hallten Laute
wider, die er irgendwann in sich aufgenommen hatte.
(Vladimir Nabokov: Lushins Verteidigung, S. 191f.)
"Nun, nun", sagte Albinus. "Es gibt eine Menge von
Leuten, die deine Bücher lieben." "Nicht so, wie ich
sie liebe", sagte Conrad. "Es wird eine ganze Zeit
vergehen - vielleicht ein ausgewachsenes Jahrhundert
-, bis mein Wert erkannt ist. Das heißt, wenn die
Kunst des Schreibens und Lesens nicht ganz
vergessen ist bis dahin; und ich fürchte, sie wurde im
letzten halben Jahrhuhndert in Deutschland schon
ziemlich gründlich vergessen." "Wieso?" fragte
Albinus. "Nun, wenn eine Literatur beinahe
ausschließlich aus dem Leben und den Lebenden
besteht, bedeutet es, daß sie stirbt. Und ich halte
nicht viel von den Freudschen Romanen über das
einfache Leben. Du magst einwenden, daß es nicht
die Menge ist, auf die es in der Literatur ankommt,
sondern die zwei oder drei wirklichen Schriftsteller,
die abseits stehen und nicht von ihren gewichtigen,
schwülstigen Kollegen beachtet werden. Trotzdem ist
es manchmal recht anstrengend. Es macht mich wild,
wenn ich die Bücher sehe, die ernst genommen
werden." (Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel, S.
148)
Ein grämlicher Sklave, so wurde er Mrs. Flankard zur
Verfügung gestellt, einer exaltierten und prätentiösen
Dame mit gerötetem Gesicht und Polypenaugen, deren
enormer Liebesroman "Das Mannsbild" unter der Bedingung
angenommen worden war, daß er drastisch überarbeitet,
erbarmungslos zusammengestrichen und teilweise neu
geschrieben würde. Die neugeschriebenen Stückchen, ein
paar hier und da, sollten die schwarzen blutenden
Lücken überbrücken, die der reichlich entfernte Stoff
zwischen den stehengelassenen Kapiteln hinterlassen
hatte. Dieser Job war von einer Kollegin von Hugh
erledigt worden, einem hübschen Pferdeschwanz, der die
Firma inzwischen verlassen hatte. Als Romanautorin war
sie noch unbegabter als selbst Mrs. Flankard, und jetzt
war Hugh dazu verdonnert, nicht nur die Wunden zu
heilen, die sie dem Manuskript beigebacht, sondern auch
die Warzen, die sie intakt gelassen hatte. (Vladimir
Nabokov: Durchsichtige Dinge, S. 36)
In der Tat sind von allen Gestalten, die ein großer
Autor erschafft, seine Leser die besten. Er ist es -
der gute, der exzellente Leser -, der den Künstler
immer wieder davor bewahrt hat, von Kaisern,
Diktatoren, Priestern, Puritanern, Philistern,
politischen Moralisten, Polizisten, Postmeistern und
Aufschneidern vernichtet zu werden. Der gute, der
bewundernde Leser identifiziert sich nicht mit dem
Jungen oder dem Mädchen im Buch, sondern mit dem Geist,
der dieses Buch ersonnen und erschaffen hat. (Vladimir
Nabokov)
Er war ein lauter, robuster, kleiner Mann, und in der schlampigen
Dunkelheit seiner Gedichte steckte ein Schimmer wirklichen
Talents. Aber da er sein Bestes tat, die Leute mit einem enormen
Schwall nichtssagender Worte zu schockieren (er war der Erfinder
des von ihm so genannten "submentalen Grunzens"), scheinen seine
meisten Produkte heute so läppisch, so falsch, so altmodisch
(hypermoderne Sachen haben die seltsame Angewohnheit, schneller
als andere zu veralten)... (Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des
Sebastian Knight)
Das Handwerkszeug war vorhanden, nun will es gebraucht werden.
Meine erste Pflicht nach Sebastians Tod war, sein Eigentum zu
sichten. Er hatte mir alles hinterlassen, und ich besaß einen
Brief von ihm, der mich anwies, einige seiner Papiere zu
verbrennen. So dunkel, wie er formuliert war, meinte ich zuerst,
es handele sich um Entwürfe oder aufgegebene Manuskripte, aber
bald entdeckte ich, daß er sie alle - bis auf ein paar
vereinzelte Seiten, die zwischen anderen Papieren verstreut waren
- selber längst vernichtet hatte, denn er gehörte zu jener
seltenen Sorte von Schriftstellern, die wissen, daß nichts außer
der vollkommenen Leistung übrigbleiben darf: dem gedruckten Buch;
daß sich dessen Vorhandensein schlecht mit dem seines spukhaften
Zerrbildes verträgt, des ungeschliffenen Manuskripts, das mit
seinen Schwächen prahlt, wie ein rachsüchtiges Gespenst den Kopf
unter dem Arm trägt; und aus diesem Grund die Abfallprodukte
seiner Werkstatt, ganz gleich, welches ihr sentimentaler oder
kommerzieller Wert wäre, in keinem Fall erhalten bleiben durften.
(Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight)
Sein Ringen mit den Worten war ungewöhnlich qualvoll, und zwar
aus zwei Gründen. Das erste war der bei Dichtern seines Schlages
übliche: die Überbrückung des Abgrunds zwischen Ausdruck und
Gedanke; das markverzehrende Gefühl, daß die rechten, die
einzigen Worte am anderen Rand in der nebligen Ferne warten, und
die Kälteschauer des immer noch nackten und bloßen Gedankens, der
diesseits des Abgrunds steht und nach ihnen ruft. Für fertige
Phrasen hatte er keine Verwendung, denn was er sagen wollte, war
von außergewöhnlicher Beschaffenheit, und außerdem wußte er, daß
im Grunde keine Idee wirklich existiert, wenn ihr nicht die Worte
genau nach Maß angelegt werden. So daß der Gedanke, um ein
treffenderes Bild zu gebrauchen, zwar nackt schien, in Wahrheit
aber nur darum bat, daß seine Kleidung sichtbar werden möge.
(Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight)
Der Leser, für den Vera schreibt, ist trotzdem nicht ihr
Mann, sondern jener schon erwähnte vielfache Dritte,
den sie sich während des Schreibens genauso
zurechtzimmern muss, wie sie es mit der Erzählerin
und der Geschichte tut. Sie meint damit keine
Zielgruppen oder besonders Gebildete oder besonders
Betroffene, sondern sie denkt sich allein den Leser,
den diese Geschichte verdient, der zu ihr gehört. Er
muss hohen Ansprüchen genügen! Beeindruckbar sein
wie ein Kind, weise wie ein Uralter, voller Kraft,
Phantasie, Mut, Wissen, Erinnerung an Verzweiflung
und Glück, und er mus einen untrüglichen inn für
literarisches Genie haben! Leser, die weniger zu
bieten haben, werden in Veras Phantasien nicht
zugelassen, es sei denn in Alpträumen. (Stan
Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten)
Wenn es denn möglich ist, in dieser Welt ein Maß des
absoluten Guten zu genießen, eine gewisse Vollkommenheit
und ein gewisses Glück, dann wird man diese Dinge nirgends
besser finden als in der Zwiesprache, in der nützlichen und
angenehmen Unterhaltung, die ein gelehrter Mann in einer
Bibliothek finden kann, und es ist kein unnütz Ding, Bücher zu
besitzen, ut illi sint coenationum ornamenta, quam zu
studiorum instrumenta [ob sie nun Schmuck des
Speiszimmers sind oder Mittel zum Studium]. Da, welcher ihrer
besitzt, sich mit Recht einen Kosmopoliten oder Weltbürger
nennen kann, kann er alles wissen, alles sehen und nichts
versäumen; kurz, da sein Glück ganz in seinen eigenen
Händen liegt, kann er damit verfahren, wie es ihm beliebt, er
kann sich darauf einlassen, wann und so viel er will, und kann
ohne Hindernisse, ohne Arbeit und ohne Mühen sich belehren
lassen und auch die letzten Einzelheiten wissen Von allem,
war ist, was war und was noch sein kann / Auf Erden, zur See
und in den fernsten Winkeln des Himmels.
Eingestehen müssen wir bei biografischen
Einschnitten wie diesen, dass die besten Bücher
unser Leben nicht ordnen, sondern verwirren, dass die
scheinbare Ordnung der Regale allenfalls den
deutschen Nutzwald widerspiegelt, in dem die Fichten
aufgereiht stehen wie Armeen, die nicht von der
Stelle kommen, bis sie gefällt werden, sich
verwandeln in Papier, in Zeitungen und Bücher, von
denen es heißt, dass sie ein Segen seien und
bisweilen auch ein Geschäft.
(Michael Naumann)
"Gleich wenn wir nach Hause kommen... Ich werde mich an mein kleines
gelbes Pult setzen..." Voller Zärtlichkeit stellte sie sich das
kleine Pult aus lackiertem Holz vor, das an ihre Größe angepaßt war,
die Öllampe mit ihrem grünen Porzellanschirm, das diffuse und
milchige Licht auf ihrem Buch. "Nein, ich werde nicht lesen... All
diese Bücher, das macht mich ruhelos und unzufrieden...
(Irène Némirovsky: Die süße Einsamkeit)
Gewiß, gewiß, pflichtete Swann etwas verwundert bei.
Was ich den Zeitungen vorwerfe, ist, daß sie uns alle
Tage auf unbedeutende Dinge aufmerksam machen, während
wir drei- oder viermal in unserem Leben die Bücher
lesen, in denen Wesentliches steht. In dem Augenblick,
wo wir jeden Morgen fieberhaft die Zeitung
auseinanderfalten, sollte plötzlich eine Vertauschung
der Dinge stattfinden und in der Zeitung, ich weiß
nicht was, die - Pensées von Pascal stehen! (er hob
diesen Titel mit ironischer Emphase hervor, um nicht
pedantisch zu erscheinen). Und in dem Band mit dem
goldenen Schnitt, den wir alle zehn Jahre nur einmal
öffnen, fügte er hinzu, indem er für die Angelegenheiten
der Gesellschaft jene Verachtung bekundete, die gerade
manche Weltleute gern zur Schau tragen, sollten wir
lesen, daß die Königin von Griechenland nach Cannes
gegangen ist und daß die Fürstin von Léon ein Kostümfest
gegeben hat. Dann wäre das richtige Verhältnis wieder
hergestellt. (Uwe Nettelbeck)
Das Gefährlichste aber, vor dem er auf das Schärfste
warnen wolle, der einzige Faktor, der ganze Kompanien
armer junger Seelen in den Nebel des Wahnsinns
getrieben habe, das war das Bücherlesen. Diese
schlechte Angewohnheit war in der letzten Generation
immer üblicher geworden, und Vater war ungemein
dankbar, weil ich selbst bis jetzt derartige Tendenzen
nicht gezeigt hatte. Das Irrenhaus war überfüllt mit
Leuten, die zu viel gelesen hatten. Einmal waren sie
wie du und ich gewesen, körperlich kräftig, ohne
Angste, zufrieden und im Gleichgewicht. Dann hatten sie
angefangen zu lesen. Meist aus irgendeinem Zufall
heraus. Eine Erkältung mit ein paar Tagen Bettruhe. Ein
schöner Buchumschlag, der die Neugier weckte. Und
plötzlich war die Unsitte geboren. Das erste Buch
führte zum nächsten. Und zum nächsten und wieder
nächsten, Glieder einer Kette, die geradewegs in die
ewige Nacht der Geisteskrankheit führte. Man konnte
ganz einfach nicht aufhören. Das war schlimmer als
Drogen. Gut möglich, dass man in aller Vorsicht mit
Büchern umgehen konnte, aus denen man etwas lernte, wie
Nachschlagewerke oder Reparaturhandbücher. Das
Gefährliche war die Belletristik, da wurden die
Grübeleien geboren und ermuntert. O Scheiße! Derartige
Gewohnheiten schaffende, gefährliche Produkte dürften
nur in staatlich kontrollierten Geschäften gegen
Vorzeigen des Ausweises verkauft werden, rationiert,
und nur an Leute in reifem Alter. (Mikael Niemi:
Populärmusik aus Vittula, S. 225f.)
Um 1420 zeigen erstmals zwei Bilder Maria als Lesende vor
dem Ofenschirm in Kaminnähe und suggerieren damit,
wohlige Wärme sei eine ideale Voraussetzung selbst für die
Aufnahme des göttlichen Wortes. In einigen
Verkündigungsszenen liest Maria auch nicht, wie üblich,
ausschließlich im "Buch der Bücher" die Ankündigung ihrer
eigenen Bestimmung: ein zweites Buch liegt aufgeschlagen
neben dem gerade gelesenen; und das eine Mal ist sie von
ihrer Lektüre offenbar so sehr gefesselt, daß selbst der
verkündigungsbereite Engel unbemerkt bleibt und zu warten
gezwungen ist. (Fritz Nies: Bahn und Bett und Blütenduft.
Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, S. 31)
Mariendarstellungen werden schließlich auch zum Anlaß, die
im Nachmittelalter gängige Verbindung von Frauenlektüre
mit typisch fraulichen Tätigkeiten einzuführen: Einmal liest
Maria beim Spinnen (um 1390), ein andermal beim Stillen
(vor 1430) und unzählige Male mit dem Kind auf dem Arm.
Auf einem jener Bilder führt Hans Memling einen höchst
ungewöhnlichen, respektlosen Umgang mit dem Buch vor
Augen, dessen Einband man sonst bei der Lektüre nicht
selten durch ein untergelegtes Tuch zu schützen pflegte:
Memlings Jesusknabe greift seiner Mutter auf eine Weise in
die kostbaren Seiten, die diese sichtbar in Mitleidenschaft
zieht - Zeichen gewiß weniger der Unvernunft eines
leseunkundigen Kleinkinds als jener Überlegenheit des
Allwissenden, der keines Buchs zur Deutung des
Heilsgeschehens bedarf. (Fritz Nies: Bahn und Bett und
Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, S. 31)
Wie sich selbst bei einigen der erwähnten Marienbilder
andeutete, verlor die Lektüre im 15. Jahrhundert einen
Gutteil jener sakralen Aura, die ihr im Früh- und
Hochmittelalter meist eigen gewesen war. Lesen erscheint
nun mehrfach, wie ebenfalls bereits angedeutet, im Umfeld
der erotischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
Auch die vom Lesen lange ausgehende Faszinationskraft
wirkt nicht mehr überall. Das illustrieren Unterrichtsszenen,
in denen Schüler sichtlich unaufmerksam sind, dem
lesenden Lehrer den Rücken zukehren oder allen möglichen
Unsinn treiben. Und zu Ausgang des Jahrhunderts wird
unübersehbar, daß Lesen nicht stets den Zugang zum
ewigen Heil oder wenigstens zu irdischer Weisheit verbürgt:
Die Illustrationen von Sebastian Brants Narrenschiff prangern
den an, der "nit die rechte kunst studiert", sich mit einer
Fülle von (mindestens sechzehn!) "inutilibus libris" abgibt
und so zum Bücher-Narren macht. (Fritz Nies: Bahn und
Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der
Leserbilder, S. 32)
Zu einem Standardthema der Karikatur ist auch der (fast
stets erwachsene männliche) Leser geworden, der sich
durch Sinneneindrücke seiner Umgebung nicht mehr
angeregt, sondern in seinem Lesegenuß beeinträchtigt fühlt.
Thematisiert wird die Belästigung durch die Hausglocke,
laute Musik, durch Mitfahrende in der Straßenbahn und im
Zug, durch Haustiere, Oma-Besuche, Verehrer der Tochter,
häufiger noch durch eigene oder fremde Kinder. Sie lärmen,
stören den Lesenden durch ihren Bewegungsdrang oder
hartnäckige Fragen und Mitteilungen, spielen ihm Streiche
oder wollen ihn als Spielkameraden gewinnen. Als Haupt-
Störfaktor allerdings wird die Geliebte bzw. Ehefrau
präsentiert. In den vorangegangenen eineinhalb
Jahrhunderten hatte sie die Lesesucht des Partners meist
geduldig ertragen oder zu Seitensprüngen genutzt und nur
vereinzelt versucht, ihn von seiner Lektüre abzubringen.
Nun bemüht sie sich, wie schon angedeutet, unter
massivem Ensatz ihrer körperlichen Reize darum, den
Lesenden zu verführen, ihn in Gespräche zu verwickeln, für
Handreichungen im Haushalt oder Mitwirkung bei der Sorge
um den Nachwuchs zu gewinnen. Sie fordert
Liebesbeteuerungen, kritisiert die vom Lesewurm
veursachte Unordnung, stört seine Ruhe mit Putzwasser,
Staubsauger, oder sogar dem Feuerlöscher, fährt ihm mit
dem Rasenmäher über die ausgebreitete Zeitung. Dieses
Thema des von anderen gestörten und auf diese Störung
gereizt reagierenden Lesers, in Europa wie in den USA
unermüdlich variiert, gehört zu den wohl augenfälligsten
unserer Jahrhunderthälfte. (Fritz Nies: Bahn und Bett und
Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, S. 84)
Eine interessante Variante der 'extensiven' Leserrolle geben
jene Darstellung, die bekannte historische Persönlichkeiten
inmitten einer Vielzahl von Büchern oder ihrer Bibliothek
zeigten. Möchten solche Bilder doch dem Betrachter
suggerieren, die betreffende Persönlichkeit habe als
ausnehmend eifriger Leser zu gelten. Dieser Bildtypus
begegnet mit zunehmender Nähe zur Gegenwart - und
damit sinkenden Buchpreisen - erwartungsgemäß immer
häufiger. Doch die Belegserie reicht vom Mittelalter bis in
unsere Tage und demonstriert auf eindrucksvolle Weise
jenes hohe Prestige, das der ständige Umgang mit vielen
Büchern über die Jahrhunderte hinweg vermittelt. (Fritz
Nies: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die
Welt der Leserbilder, S. 111)
Vorlesen für einzelne Hörer der gleichen Generation gilt, im
18. und 19. Jahrhundert, insbesondere als
Kommunikationsform zwischen Liebenden, aber auch
zwischen Ehepartnern. In den meisten Fällen jedoch hat der
Vorlesende mehrere Hörer: Familienmitgliedern
verschiedener Generationen, befreundete Literaten, einen
Kreis von Dorfgenossen, von Kneipenbesuchern, von
Freundinnen oder Bekannten, die Mitglieder eines
Lesekränzchens oder Salons, einer Pfarrei, Schüler oder
Lehrlinge, Arbeitssuchende, Zigarrendreher in der Fabrik.
(Fritz Nies: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch
die Welt der Leserbilder, S. 114)
Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das
Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes
Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als
wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und
gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht
vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über
die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst
versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen
verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch
aussann: währenddem sucht es sich seine Leser,
entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue
Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen
- kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele
ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch.
Bevor Christa in mein Leben trat, war Lesen eine
meiner größten Freuden. Ich lag mit einem Buch auf
meinem Bett und ging vollkommen darin auf. Wenn
es gut war, verschmolz ich mit ihm. Wenn es schlecht
war, nahm ich es mit Wonne auseinander und
amüsierte mich königlich über seine Schwächen.
Lesen ist keine Ersatzbefriedigung. Von außen
betrachtet, war mein Leben überaus düftig; von innen
wirkte es wie eine Wohnung, deren einziges Mobiliar
eine prachtvoll bestückte Bibliothek ist; wer sich nicht
mit Überflüssigem belastet, Notwendiges jedoch in
Hülle und Fülle besitzt, erregt Neid und Bewunderung.
(Amelie Nothomb: Böses Mädchen, S. 57)
Pannonica mußte an Schriftsteller denken, die endlos über
ihre Romane schwadronierten. Wozu sollte das gut sein?
Hätten sie ihrem Buch nicht besser gedient, wenn sie ihm bei
seiner Entstehung all die Liebe eingeflößt hätten, deren es
bedurfte? Und wenn sie es nicht schaffen, als es an der Zeit
war, nützte es dem Buch dann nicht immer noch mehr, wenn
sie es dennoch liebten, mit jener wahren Liebe, die nicht
geschwätzig ist, sondern sich durch ein von starken Worten
durchbrochenes Schweigen ausdrückt? Der Schöpfungsakt
ist nicht das Problem - er ist berauschend; erst danach wird es
schwierig. (Amelie Nothomb: Reality-Show, S. 61)
Seit sie ihren Namen preisgegeben hatte, war Pannonica noch
schöner geworden. Sein Glanz hatte ihren Glanz noch
verstärkt. Man ist immer schöner, wenn man einen Ausdruck,
ein Wort nur für sich hat. Sprache ist weniger praktisch als
ästhetisch. Wenn man von einer Rose sprechen will und
keinen Begriff dafür hat, sondern immer nur sagen kann: "das
Ding, das im Frühsommer blüht und so gut duftet", dann ist
das Ding, um das es geht, sehr viel weniger schön. Und wenn
der Begriff so ein prächtiges Wort ist wie etwa ein Name, dann
ist es seine Vorsehung, Schönheit zu offenbaren. (Amelie
Nothomb: Reality-Show, S. 85)
"Ich könnte nicht sagen, daß ich mich langweile. Die
riesige Bibliothek des Kapitäns steht mir offen, und
zum Glück lese ich mit Begeisterung. Gelitten habe ich,
bevor Sie kamen, an der Einsamkeit." "Was lesen Sie?"
"Alles mögliche. Romane, Gedichte, Dramen, Erzählungen.
Ich lese oft wieder dasselbe; es gibt Bücher, die bei
wiederholtem Lesen immer besser werden.
Vierundsechzigmal habe ich 'Die Kartause von Parma'
gelesen, und mit jedem Mal wurde sie aufregender." "Wie
kann man vierunsechzigmal denselben Roman lesen
wollen?" "Wenn Sie sehr verliebt sind, wollen Sie dann
mit dem Angebeteten nur eine Nacht verbringen?" "Das
kann man nicht vergleichen." "Doch. Derselbe Text oder
dieselbe Begierde können in so vielen Abwandlungen
erlebt werden. Es wäre schade, wollte man sich mit
einer einzigen begnügen, besonders wenn die
vierundsechzigte die beste ist." (Amelie Nothomb:
Quecksilber, S. 73)
Eines Abends hatte ich eine Offenbarung. Auf dem Sofa
lümmelnd las ich eine Novelle von Colette mit dem
Titel: Das grüne Wachs. In dieser Geschichte passierte
eigentlich gar nichts, außer daß ein Mädchen Briefe in
Kuverts steckte. Dennoch fesselte mich die Erzählung,
ohne daß ich es hätte erklären können. Ein Satz, der
kaum zusätzliche Informationen enthielt, rief ein
unglaubliches Phänomen hervor: Meine Wirbelsäule wurde
durchzuckt, meine Körperhärchen stellten sich auf, und
ich bekam trotz der Umgebungstemperatur von
achtunddreißig Grad eine Gänsehaut. Fasziniert las ich
die Passage, die diese Reaktion hervorgerufen hatte,
noch einmal und versuchte, den Auslöser festzustellen.
Aber es ging nur um geschmolzenes Wachs, dessen
Konsistenz und Geruch - um nichts eigentlich. Woher
dann dieser spektakuläre innere Aufruhr? Endlich fand
ich es heraus: Der Satz war schön. Darum ging es: um
Schönheit. Natürlich erinnerte ich mich an die
Stilanalysen, die wir in der Schule machten, und daß
der Lehrer sagte: "Dieses Gedicht ist sehr schön, der
oder der Vokal kommt in dem Vers viermal vor", oder so
ähnlich. Solche Zergliederungen waren allerdings so
ermüdend, wie wenn ein Verliebter unbeteiligten Dritten
die Vorzüge seiner Geliebten schildert. Literarische
Schönheit existiert zweifellos. Aber sie ist eine
ebenso unkommunizierbare Erfahrung wie den Zauber der
Geliebten, wenn jemand dafür nicht empfänglich ist. Da
muß er sich schon selbst verlieben oder sich damit
abfinden, daß er es nie verstehen wird. Diese
Entdeckung bedeutete für mich eine kopernikanische
Wende. Lesen war - neben dem Alkohol - das Wichtigste
in meinem Leben. Von nun an war es der Suche nach
dieser unbegreiflichen Schönheit geweiht. (Amelie
Nothomb: Biographie des Hungers, S. 160f.)
"Aber das ist doch interessant, lesen zu lernen", redete Denis
auf sie ein. "Warum?" "Um Geschichten zu lesen." "Was du nicht
sagst! Die Lehrerin liest uns manchmal Geschichten aus dem
Lesebuch vor. Das ist dermaßen langweilig, daß ich nach zwei
Minuten schon nicht mehr zuhöre." (...) Clemence sah plötzlich
ein, daß ihr Mann recht hatte. Sie schritt sofort zur Tat. Aus
ihrem Zimmer holte sie ein riesengroßes Buch aus dem vorigen
Jahrhundert. Sie nahm die Kleine auf den Schoß und blätterte
andächtig mit ihr in der Märchensammlung. Sie hütete sich, ihr
vorzulesen, und beschränkte sich darauf, ihr die wunderschönen
Illustrationen zu zeigen. Es war ein Schock im Leben des Kindes:
Noch nie hatte etwas sie so sehr entzückt wie die Entdeckung
dieser überirdisch schönen Prinzessinnen, die, eingeschlossen in
ihrem Turm, mit blauen Vögeln sprachen, die verzauberte Prinzen
waren, oder sich in schmutzige Lumpen kleideten, nur um vier
Seiten später um so prächtiger wieder an ihrem Platz zu stehen.
Augenblicklich wußte sie, mit einer Gewißheit, wie nur kleine
Mädchen sie haben können, daß sie eines Tages auch ein solches
Geschöpf werden würde, das die Schurken wehmütig, die Hexen elend
und die Prinzen sprachlos machte. "Keine Sorge!" sagte Clemence
zu Denis. Bevor die Woche um ist, kann sie lesen. Die Prognose
blieb hinter der Wahrheit zurück: Schon zwei Tage später hatte
Plectrudes Gehirn sich die lästigen und unnützen Buchstaben, die
sie in der Schule gar nicht aufgenommen zu haben glaubte, zunutze
gemacht und den Zusammenhang der Zeichen mit den Lauten und dem
Sinn erkannt. Nach diesen zwei Tagen las sie hundertmal besser
als die Besten in ihrer Klasse. Was wohl besagt, daß es für die
Pforte zum Wissen nur einen Schlüssel gibt: den Wunsch. Das Buch
war ihr wie eine Anleitung zum Wrdegang künftiger
Märchenprinzessinnen erschienen. Da das Lesen dafür notwendig
war, hatte ihr Verstand sich die Fähigkeit dazu angeeignet.
(Amelie Nothomb: Im Namen des Lexikons)
Liebenswürdig befragt Rinri die Regisseurin nach ihren literarischen
Vorlieben. Sie spricht von ihrer Begeisterung für Louise Labe.
Ein Angeber hätte ausgerufen: "Ah, die schöne Seilerin!', oder den
einzigen Vers rezitiert, den er von ihr behalten hat. Rinri begnügt
sich damit, respektvoll zu nicken. "Mögen Sie Lyrik?", fragt sie.
"Über alles", antwortet er. "Und welches ist Ihr Lieblingsdichter?"
"Omar Khayam", sagt Rinri mit einem unbeschreiblichen Lächeln. "Er
ist phantastisch", stimmt die junge Frau ihm zu. "Seine 'Vierzeiler'
sind wunderbar." Ich strahle vor Stolz, allerdings nicht lange,
denn nun fragt Rinri mich nach meinem Lieblingsdichter. Als ich
den Mund aufmache, merke ich, daß in meinem Hirn etwas durchgebrannt
ist: Ich schlage in meinem Gedächtnis den Ordner "Dichter" auf
und muß leider feststellen, daß er leer ist. Normalerweise ist
das nicht der Fall. Doch jetzt, vermutlich aufgrund der
Gefühlsexzesse dieser Reise und ganz besonders dieses 4. Aprils
habe ich nicht mehr alle Akten im Schrank. (Amelie Nothomb:
Eine heitere Wehmut)
Manchmal wirkt das Erwähnen einer Gebetsintention wie
ein Nachrichtendienst. Pater Marcellus hat bei der
Vesper gesagt: "Laßt uns beten für die Gattin des
Präsidenten von Südkorea." Dann fiel ihm plötzlich ein,
daß niemand außer ihm die neuste Zeitung gelesen hatte,
und er fügte schnell hinzu: "...die ermordet worden
ist." - Dann zuckte es ihm wahrscheinlich durch den
Kopf, daß niemand begreifen konnte, weshalb jemand die
Gattin des Präsidenten von Südkorea hatte ermorden
wollen. Darum fügte er noch an: "... bei einem Versuch,
den Präsidenten selbst zu ermorden!" Dann dachte er
sich, daß mittlerweile die Mönche wohl auch das Ende
der Geschichte wissen wollten. Und so schloß er seine
Fürbitte mit den Worten: "... der jedoch sicher
entkommen ist." So etwas passiert, wenn man
Bibliothekar ist und früher als die anderen die Zeitung
liest! (Henri J. M. Nouwen: Ich hörte auf die Stille,
S. 108)
Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre
Leser, indem sie schreiben, und daher entstehn in
den Werken so viele Spuren des Lesers, so viele
kritische Rücksichten, so manches, was dem Leser
zukommt und nicht dem Schriftsteller.
Gedankenstriche - groß gedruckte Worte -
herausgehobene Stellen - ales dies gehört in das
Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Akzent
willkürlich; er macht eigentlich aus einem Buch,
was er will. (Schlegels Behandlung "Meisters".)
(Ist nicht jeder Leser ein Philolog?) Es gibt kein
allgemeingeltendes Lesen im gewöhnlichen Sinn.
Lesen ist eine freie Operation. Wie ich und was
ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.
Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist
die höhere Instanz, die die Sache von der niedern
Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl,
vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner
Schrift geschieden hat, scheidet beim Lesen wieder das
Rohe und Gebildete des Buchs, und wenn der Leser das
Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein
zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch,
daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischtätige
Gefäße kommt, die Masse endlich wesentlicher
Bestandteil, Glied des wirksamen Geistes. Durch
unparteiisches Wiederlesen seines Buches kann der Autor
es selbst läutern. Bei fremden geht gewöhnlich das
Eigentümliche mit verloren, weil die Gabe so selten
ist, völlig in eine fremde Idee hineinzugehn. Oft
selbst beim Autor. Es ist kein Merkmal größerer Bildung
und größerer Kräfte, daß man über ein Buch richtigen
Tadel fällt. Bei neuen Eindrücken ist die größere
Schärfe des Sinns ganz natürlich.
Eine Idee ist desto gediegener, individueller und
reizender, je mannigfaltigere Gedanken, Welten und
Stimmungen sich in ihr kreuzen, berühren. Wenn ein Werk
mehrere Veranlassungen, mehrere Bedeutungen, mehrfaches
Interesse, mehrerer Seiten überhaupt, mehrere Arten
verstanden und geliebt zu werden hat, so ist es gewiß
höchst interessant - ein echter Ausfluß der
Persönlichkeit. Wie sich die höchst- und
gemeinverständlichsten, gewissermaßen gleichen, so auch
mit den Büchern. Vielleicht gleicht das höchste Buche
einem ABC-Buch. Überhaupt ist es mit den Büchern und
mit allen so wie mit den Menschen. Der Mensch ist eine
Analogienquelle für das Weltall.
Wenn man recht liest, so entfaltet sich in unserm
Inneren eine wirkliche, sichtbare Welt nach Worten.
A. Wenn das aber so fortgeht, so wird man am Ende keine
ganze Wissenschaft mehr studieren können.- So ungeheuer
wächst der Umfang der Literatur.
B. Glaube das nicht. Übung macht den Meister, und auch
im Bücherlesen. Du lernst dich bald auf deine Leute
verstehn. Man hat oft nicht zwei Seiten dem Autor
zugehört, so weiß man schon, wen man vor sich hat. Oft
ist der Titel selbst physiognomisch lesbar genug. Auch
die Vorrede ist ein subtiler Büchermesser. Die Klügern
lassen deshalb jetzt diesen verräterischen
Inhaltsanzeiger gewöhnlich weg, und die Bequemen tun
es, weil eine gute Vorrede schwerer ist wie das Buch -
denn, wie der junge revolutionäre Lessing sich
ausdrückte, so ist die Vorrede Wurzel und Quadrat des
Buchs zugleich, und ich füge hinzu, mithin nichts
anders als die echte Rezension desselben. Die Zitaten-
und Kommentar-Manier der älteren Philologen, was war
sie, als Kind der Armut - an Büchern und des
Überflusses - an literarischem Geist?
A. Ich weiß aber nicht, mir sind der vortrefflichen
Bücher selbst zu viel. Wie lange bringe ich nicht bei
einem guten Buche zu, oder vielmehr jedes gute Buch
wird mir zum Vehikel lebenslänglicher Beschäftigung -
zum Gegenstand eines nie sich erschöpfenden Genusses.
Warum schränkst du dich denn nur auf wenig gute und
geistvolle Menschen ein? Ist es nicht aus demselben
Grunde? Wir sind nun einmal so eingeschränkt, daß wir
nur weniges ganz genießen können! Uns ist es nicht am
Ende besser, einen schönen Gegenstand sich durchaus
anzueignen, als an Hunderten vorbeizustreichen, überall
zu nippen und so mit vielen oft sich widersprechenden,
halben Genüssen zeitig genug sich die Sinne
abzustumpfen, ohne etwas dabei auf ewig gewonnen zu
haben?
In der Frankfurter Innenstadt befindet sich in der Nähe
der Hauptwache ein Einzelhandelsgeschäft mit dem
schönen Namen "Ordnungssinn". Zu dessen umfangreichem
Warenangebot gehört allerlei Nützliches, das einem das
Navigieren durch den eigenen Haushalt erleichtern soll.
Man bekommt dort Regalstützen, Türstopper und
Leselampen, die man am Buchrücken festklemmen kann.
Rätselhaft ist zwar, wie man in einem derart
beschwerten Buch bei fortschreitender Ermüdung lesen
soll, aber das schicke Lampendesign erstickt derlei
Nörgelei rascher, als man vorm Schlafengehen das Licht
ausknipsen kann. (Harry Nutt: Mein schwacher Wille
geschehe)
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