Bibliomanische FAB  / [M2]


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Maurer, Jörg: Unverfängliche Namensgebung

  "Wissen Sie, ob es in der Nähe des Krankenhauses eine öffentliche Bibliothek gibt? Eine, die es auch schon in den achtziger Jahren gab?" "Wir haben eine große Bibliothek in Brasov." "Wie heißt sie?" "Die hatte auch schon viele Namen. König-Carol-Bibliothek, Hermann- Göring-Bibliothek, Nikolae-Ceasescu-Bibliothek. Jetzt heißt sie, vorsichtshalber, nur Staatsbibliothek." (Jörg Maurer: Der Tod greift nicht daneben. Alpenkrimi)


Mauriac, Francois: Verständnis von Literatur

  "Sie täten besser daran, nicht von Dingen zu sprechen, die Sie nicht verstehen können, die nicht für Sie geschrieben wurden. Sie lassen nur gelten, was Sie schon kennen, was Sie schon anderswo gelesen haben. Das Neue bringt Sie auf, und es hat Leute Ihrer Art immer aufgebracht. Nicht wahr, Jean-Louis? Er hat mir erzählt, daß die Zeitgenossen sich sogar über Racine aufregten..." "Wie kann man im Zusammenhang mit den Hirngespinsten dieses Grünschnabels von Racine sprechen!" "Kümmern Sie sich um Ihr Holz, mein Bester, und lassen sie Ihre Finger von der Literatur! Das ist weder Ihre Sache noch die meine -" fügte sie rasch hinzu, um ihn zu beruhigen, denn er plusterte sich auf wie ein Truthahn, und sein Nacken lief rot an. "Meine Frau und ich halten uns über alle Neuerscheinungen auf dem laufenden... Ich bin der älteste Abonnement des Panbiblion, ich habe sogar das Sonderabonnement auf die Zeitschriften. Auch in dieser Hinsicht sind wir über das Neueste unterrichtet. 'Was die Unterhaltung mit Madame Dussol zu einem solchen Vergnügen macht!, sagte mir neulich am Abend einer meiner Kollegen von der Handelskammer, 'ist ihre Belesenheit. Und da sie ein erstaunliches Gedächtnis besitzt, erinnert sie sich an alles und kann Ihnen den Inhalt eine Romans oder eines Theaterstücks, mit dem sie vor Jahren bekannt wurde, so erzählen, als hätte sie das Buch eben aus der Hand gelegt.' Er drückte soch sogar folgendermaßen aus: 'Eine solche Frau ist geradezu eine wandelnde Bibliothek...'" (Francois Mauriac: Das Geheimnis Frontenac)


Mauriac, Francois: Das Wunder des Lesens

  Dann ging ich sofort in die Bibliothek des "Gesellschaftszimmers" stöbern, die mir, als ich klein war, derartige Glückseligkeiten bereitete, daß es mir scheint, als könnten jene, die sie nicht gekannt haben, nicht wissen, was das Wunder des Lesens ist: wenn kein äußerer Eindruck die Oberfläche eines Ferientages durchdringen, wenn die wirkliche Umgebung mit der vorgestellten Landschaft verschmilzt und wenn sogar der Geruch des Hauses schon dermaßen in uns haftet, daß es für immer bleibt, auch wenn das Haus längst nicht mehr existiert. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain)


Mauriac, Francois: Mücken & Lesen

  Ich ging nicht aus, und da ich diese durch den Gewitterregen abgekühlte Nacht voll und ganz genießen wollte, öffnete ich alle Fenster, was mich allerdings der Mücken halber dazu verdammte, im Dunkeln zu bleiben und nicht zu lesen. (...) Das Lesen bedeutet mir so sehr alles im Leben (ich frage mich manchmal, ob es mir nicht letztlich das Leben selbst ersparen wird), daß ich vielleicht mit meinen zweiundzwanzig Jahren nicht gewußt hätte, was hinter jenem Gemeinplatz "Innenleben" steckt, wenn ich nicht oft und oft durch die Mücken meiner Heimatstadt dazu gezwungen worden wäre, reglos vor diesem vom Fenster eingerahmten Himmelsviereck zu liegen. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain)


Mauriac, Francois: Es bleibt nichts hängen

  Aber wenn ich unter die Leute gehen muß, so nicht, bevor ich mich informiert habe, wie man sich in Paris kleidet. Du wirst dich erinnern, was der arme Lucien de Rubempre auszustehen hatte, weil er angezogen wie in Angoulelme nach Paris kam." Sie fragte halblaut, im Ton jemandes, der keine Antwort erwartet: "Was ist Lucien Rubempre?" "Aber Mama! Du hast doch 'Die Verlorenen Illusionen' gelesen! Ich habe sie dir zum Lesen gegeben." "Oh, weißt du, ich bin nicht wie du: bei mir bleibt nichts von dem hängen, was ich lese, es geht mir bei der einen Seite hinein und bei der anderen wieder hinaus..." (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain)


May, Karl: Räuberhauptleute und Raubritter

  In einer Schankwirtschaft gab es eine Leihbibliothek, und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen. Ich muß zu meiner Schande gestehen (seht an!), daß auch ich, nachdem ich einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte, gänzlich verfiel. (...) Alle diese Räuberhauptleute und Raubritter, von denen ich da las, waren edle Menschen. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegener dieser herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor allem die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern hatte. Und welch ein Eingehen auf die Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hand nimmt. Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und welch bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse Mensch, mag er zehnmal König, Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. Das ist wirklich Gerechtigkeit, das ist göttliche Gerechtigkeit! Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam die mir angeborene Naivität. Ich glaubte an das, was ich da las. (Karl May: Leben und Streben)


McCullers, Carson: Vortäuschung von Lektüre

  Auf dem Nachttisch des Majors lag ein aufgeschlagenes Buch - ein sehr anspruchsvolles literarisches Werk. Darin lag ein Streichholz als Lesezeichen. Der Major blätterte etwas vierzig Seiten weiter - ein glaubhaftes Abendpensum, legte das Streichholz dort hinein und zog unter einem Stapel Hemden in seiner Kommode ein Groschenheft mit dem Titel 'Der wissenschaftliche Krieg' hervor. Er machte es sich bequem und vertiefte sich in die Schilderung eines wüsten interplanetarischen Superkrieges. (Carson McCullers: Spiegelbild im goldnen Auge)


Menasse, Eva: Konservativitätsfaktor

  Es wäre ja die Frage, woher die persönlichen Vorlieben kamen. Gene, Prägung, Peergroup? Warum man schon in der Jugend bestimmte Bands, ja sogar Plattenlabels, anderen zweifelsfrei vorzog (...) Oder warum so viele voller Begeisterung auf E-Books umgestiegen waren, es aber noch immer welche gab, die unbeirrt mit Papierbüchern in den Bussen saßen. Mit einem Buch kann ich wenigstens Mücken erschlagen, hatte Martins Mutter einmal gesagt, was typisch für seine Mutter war. Gut, bei technischen Neuerungen konnte man mit dem individuellen Konservativitätsfaktor argumentieren. Es gab Menschen, die wollten immer das Neueste, und andere waren prinzipiell skeptisch. Lieber etwas Altes, das dafür bestimmt funktioniert! (Eva Menasse: Quasikristalle)


McEwan, Ian: Nadelspitze des Augenblicks

  Schon der erste Vers kann ein Druckgefühl hinter den Augen auslösen. Romane und Filme katapultieren einen, rastlos modern, wie sie sind, vorwärts ode rückwärts durch die Zeit, über Tage, Jahre oder gar Generationen hinweg. Die Lyrik hingegen mit ihren Eindrücken und Urteilen balanciert auf der Nadelspitze des Augenblicks. Sich verlangsamen, vollkommen innehalten, um ein Gedicht zu lesen und zu verstehen, das ist, als erwerbe man althergebrachte Fertigkeiten wie das Kitzeln von Forellen oder das Errichten von Trockenmauern. (Ian McEwan: Saturday, S. 178)


McEwan, Ian: Aus einem Traum erwacht

  Er bat sie, ihm von den Büchern zu erzählen, die sie so gern las. Er hörte genau zu und verkündete dann, sie sei unterfordert - von ihren "Romanen für junge Erwachsene" hielt er überhaupt nichts. Er überredete sie, es mit 'Jane Eyre' zu versuchen, las ihr die ersten Kapitel laut vor und malte ihr das Vergnügen aus, das sie noch erwartete. Sie hielt durch, doch nur ihm zuliebe. Die Sprache fand sie ungewohnt, die Sätze waren lang, die Bilder, sagte sie immer wieder, würden in ihrem Kopf nicht deutlich. Perowne versuchte es selbst auch mit dem Buch und machte so ziemlich dieselbe Erfahrung. Doch John ließ nicht locker, und nach hundert Seiten hatte Jane es seiner Enkelin angetan, und sie konnte kaum zu den Mahlzeiten mit dem Lesen aufhören. Eines Nachmittags ging die Familie über die Felder spazieren, nur Daisy blieb daheim und hatte noch einundvierzig Seiten zu lesen. Als sie zurückkehrten, saß sie unter einem Baum beim Taubenschlag und weinte - nicht wegen der Geschichte, sondern weil sie das Buch zu Ende gelesen hatte, weil sie aus einem Traum erwacht war und begriff, daß all dies die Schöpfung einer Frau war, die sie niemals kennenlernen sollte. Sie weinte, sagte sie, vor Bewunderung und auch vor Freude darüber, daß man sich so etwas ausdenken konnte. (Ian McEwan: Saturday, S. 184)


McEwan, Ian: Auswenig lernen

  Zwar hatte er all die Jahre immer brav versucht, alles zu lesen, was sie ihm aussuchte, doch wußte er, daß sie ihn dennoch für ungehobelt hielt, für einen unrettbaren Materialisten. Sie findet, es mangle ihm an Phantasie. Da mag etwas dran sein, doch hat sie ihn trotzdem nicht ganz aufgegeben. Bücher stapeln sich an seinem Bett, und heute abend wird sie ihm neue bringen. Dabei hat er die Darwin-Biographie noch nicht durch, und mit der über Conrad hat er noch nicht mal angefangen. Seit dem Sommer mit Bronte und Kafka kümmerte sich Grammaticus um Daisys Lesepensum. Hinsichtlich der Grundlagen hatte er festem altmodische Ansichten und glaubte auch nicht, daß Lesen immer nur vergnüglich sein mußte. Außerdem fand er, daß Kinder auswendig lernen sollten, und war bereit, dafür zu zahlen. Shakespeare, Milton und die King-James-Bibel - fünf Pfund für zwanzig auswendig gelernte Zeilen aus den Absätzen, die er ihr angestrichen hatte. Dies seien die Quellen aller guten englischen Prosa und Lyrik; er hielt Daisy dazu an, sich die Silben auf der Zunge zergehen zu lassen und ihre rhythmische Kraft zu fühlen. Mit fünfzehn verdiente sie sich in den Sommerferien ein kleines Vermögen im Chateau, indem sie Teile von 'Paradis Lost', der Genesis und diverse düstere Grübeleien von Hamlet deklamierte oder sogar vorsang. Sie sagte Browning auf, Clough, Chesterton und Masefield. In einer guten Woche verdiente sie fünfundvierzig Pfund. Selbst heute, Jahre später, mit dreiundzwanzig, behauptete sie, zwei Stunden lang pausenlos Gedichte "herunterrasseln" zu können. (Ian McEwan: Saturday, S. 185f.)


McEwan, Ian: Leichte Lektüre

  Ich behielt meine alten Lesegewohnheiten bei, drei bis vier Bücher pro Woche. In diesem Jahr hauptsächlich modernes Zeug, Taschenbücher, die ich in Trödelläden oder Buchantiquariaten in der High Street kaufte, manchmal auch, wenn ich mir das leisten zu können glaubte, bei Compendium in der Nähe von Camden Lock. Wie gewohnt schlang ich alles gierig in mich hinein, zuweilen jedoch mit Anflügen von Langeweile, die ich - ohne Erfolg - zu unterdrücken suchte. Von außen hätte man meinen können, ich blätterte in einem Nachschlagewerk, so schnell schlug ich die Seiten um. Und tatsächlich habe ich auf meine gedankenlose Art wohl nach etwas gesucht, nach einer Version meiner selbst, einer Heldin, in die ich hineinschlüpfen könnte wie in ein Paar alter Lieblingsschuhe. (...) Ich gestand es mir nicht ein, aber eigentlich wäre leichtere Lektüre für mich das Richtige gewesen, irgendwelche billigen Liebesschmöker. Unterdessen hatte ich durch Cambridge, oder durch Tony, einen gewissen Geschmack, wenn nicht Snobismus entwickelt. Ich stellte Jacqueline Susann nicht mehr über Jane Austen. Manchmal schimmerte mein Alter Ego flüchtig zwischen den Zeilen auf, es schwebte mir wie ein freundliches Gespenst aus den Büchern von Doris Lessing, Margaret Drabble oder Iris Murdoch entgegen. Und verschwand gleich wieder - ihre Frauenfiguren waren zu gebildet oder zu klug oder nicht ganz einsam genug in der Welt, um ich zu sein. (Ian McEwan: Honig)


McEwan, Ian: Lektürefragen

  Zu meinem Glück ging es im Großteil der englischen Literatur jener Zeit formal eher anspruchslos darum, die Gesellschaft widerzuspiegeln. Kalt ließen mich jene Autoren, die in Süd- und Nordamerika grassierten und sich selbst unter das Personal ihrer Romane mischten, fest entschlossen, die armen Leser daran zu erinnern, dass alle Figuren und sogar sie selbst reine Erfindung waren und dass es einen Unterschied zwischen Fiktion und dem Leben gab. Oder im Gegenteil klarzustellen, dass das Leben ohnehin eine Fiktion war. Nur Schriftsteller, dachte ich, gerieten je in Gefahr, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Ich war eine geborene Empirikerin. Schriftsteller wurden meiner Ansicht nach dafür bezahlt, anderen etwas vorzuspielen, und an geeigneter Stelle sollten sie ruhig von der realen Welt, die uns allen gemeinsam war, Gebrauch machen, um ihren ausgedachten Geschichten Plausibilität zu verleihen. Also bitte kein listiges Schachern um die Grenzen ihrer Kunst, keine Illoyalität dem Leser gegenüber, indem sie unter irgendwelchen Masken zwischen realer und imaginierter Welt hin und her wechselten. In den Büchern, die mir gefielen, war kein Platz für Doppelagenten. Zu jener Zeit prüfte und verwarf ich Autoren, die mir intellektuelle Freunde in Cambridge dringend ans Herz gelegt hatten - Borges und Barth, Pynchon und Cortázar und Gaddis. Kein Engländer darunter, fiel mir auf, und keine Frau, egal welcher Herkunft. Da war ich skeptisch wie manche Leute aus der Generation meiner Eltern, die nicht nur Geruch und Geschmack von Knoblauch verabscheuten, sondern auch allen misstrauten, die ihn verzehrten. (Ian McEwan: Honig)


McEwan, Ian: Lesezeichen (1)

  In unserem Sommer der Liebe hatte mich Tony Canning öfters getadelt, weil ich Bücher aufgeschlagen und mit der Schriftseite nach unten herumliegen ließ. Das beschädige den Buchrücken, und dann gehe ein Buch immer an einer bestimmten Stelle von allein auf, was einem willkürlichen und sachfremden Eingriff sowohl in die Absichten des Autors als auch in das Ermessen eines anderen Lesers gleichkomme. Daher schenkte er mir ein Lesezeichen. Kein großartiges Geschenk. Offenbar hatte es in irgendeiner Schublade herumgelegen. Ein grüner Lederstreifen mit krenelierten Enden und dem in Gold eingeprägten Namen einer walisischen Burg oder Festungsanlage. (...) Soweit ich weiß, habe ich das Lesezeichen damals nie benutzt. Stattdessen prägte ich mir die Seitenzahl ein und gewöhnte mir auf diese Weise ab, Buchrücken kaputtzumachen. (...) Ich habe gesagt, nach seinem Tod sei mir kein Unterpfand seiner Liebe geblieben. Aber ich hatte das Buchzeichen. Ich säuberte es, strich es glatt, hielt es in Ehren und in Gebrauch. Es heißt, Schriftsteller seien abergläubisch und hätten ihre kleinen Rituale. Das gilt auch für Leser. Ich zum Beispiel hielt mein Lesezeichen zwischen den Fingern und streichelte es beim Lesen mit dem Daumen. Bevor mir spätabends die Augen zufielen, legte ich das Lesezeichen an die Lippen und erst dann zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und deponierte es neben dem Stuhl auf dem Boden, griffbereit für das nächste Mal. (Ian McEwan: Honig)


McEwan, Ian: Lesezeichen (2)

  Das Buch, in dem ich am Abend zuvor gelesen hatte - Eating People is Wrong von Malcolm Bradbury -, befand sich an seinem Platz neben dem Stuhl auf dem Boden. Aber das Lesezeichen lag auf dem Sessel. Dabei war niemand im Haus gewesen, seit ich es am Morgen verlassen hatte. Natürlich vermutete ich zunächst, ich sei am Abend zuvor von meinem Ritual abgewichen. Kann ja passieren, wenn man müde ist. Vielleicht war ich aufgestanden und hatte das Lesezeichen auf dem Weg zum Waschbecken fallen lassen. Ich erinnerte mich jedoch deutlich. Der Roman war so kurz, dass ich ihn in zwei Abenden hätte durchlesen können. Aber meine Lider waren schwer. Ich war bei weitem nicht bis zur Hälfte gekommen, als ich den Lederstreifen geküsst und zwischen die Seiten achtundneunzig und neunundneunzig gelegt hatte. Ich erinnerte mich sogar noch an den letzten gelesenen Satz, weil ich, bevor ich das Buch zuklappte, noch einmal einen Blick darauf warf. Es war eine Dialogzeile: "Intellektuelle sind keineswegs immer liberal eingestellt." (...) Als der Morgen graute, war ich längst überzeugt, dass Müdigkeit meine Erinnerung getrübt, dass ich die Absicht mit der Tat verwechselt und das Buch ohne das Lesezeichen weggelegt hatte. (Ian McEwan: Honig)


McEwan, Ian: Groschenhefte, Hochliteratur & alles dazwischen

  Dank meiner Mutter studierte ich das falsche Fach, aber ich hörte nicht auf zu lesen. Gedichte und Theaterstücke hatte ich in der Schule links liegenlassen, aber ich glaube, Romane bereiteten mir mehr Vergnügen als meinen Unifreunden, die sich wöchentlich an Aufsätzen über George Eliots Middlemarch oder Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeiten abrackern mussten. Ich las dieselben Bücher, im Eiltempo, plauderte zuweilen mit Leuten darüber, die mein niedriges Diskussionsniveau tolerierten, und las weiter. Lesen war meine Methode, nicht über Mathe nachzudenken. Vielmehr (oder weniger?), es war meine Methode, überhaupt nicht zu denken. Wie gesagt, ich war schnell. Trollopes "The Way We Live Now" verschlang ich in vier Nachmittagen auf dem Bett! Ich erfasste ganze Textblöcke und Absätze auf einen Blick. Ich brauchte meine Augen und Gedanken nur weich wie Wachs werden zu lassen, um den Eindruck frisch von der Seite aufzunehmen. Alle paar Sekunden schlug ich zur Irritation meiner Umgebung mit einer ungeduldigen Handbewegung eine Seite um. Meine Bedürfnisse waren schlicht. Themenkomplexe oder gelungene Wendungen interessierten mich nicht, und Beschreibungen von Wetter, Landschaften und Interieurs überblätterte ich sowieso. Ich wollte Figuren, an die ich glauben konnte, ich wollte neugierig darauf gemacht werden, wie es mit ihnen weiterging. Am liebsten las ich von Menschen, die sich ver- oder entliebten, aber es störte mich auch nicht, wenn sie sich zwischendurch mit anderen Dingen befassten. Selbst wenn es banal war, ich mochte es, wenn am Ende jemand sagte: "Heirate mich!" Romane ohne weibliche Figuren waren eine tote Wüste. Conrad kam deshalb für mich nicht in Frage, die meisten Erzählungen von Kipling und Hemingway ebenso wenig. Überhaupt machten große Namen keinen Eindruck auf mich. Ich las alles, was mir in die Finger kam. Groschenhefte, Hochliteratur und alles dazwischen - ich verschlang sie unterschiedslos. (Ian McEwan: Honig)


Melle, Thomas: Eskapismus

  Und außerhalb des Sozialen immer schon der Eskapismus: erst eine Fernsehsucht als Kind, dann die Comics, Unmengen davon. (...) Dann sämtliche der kleinen Kriminalromane à la "TKKG" und "Die drei ???", alles von Karl May, hin zu Jules Verne, und durch die bestaunte Bibliothek eines angeheirateten Onkels schließlich früh bei "Homo Faber", Brecht und der "Blechtrommel" gelandet. Da war es dann um mich geschehen. Es war vorbei. Genau das wollte und würde ich machen, der Weg war vorgezeichnet. Einem Jungen mit meinem Hintergrund würde man an sich eher eine andere Berufswahl nahelegen, wenn er schon die Chance hat. Bürgerliche Berufe wie Jurist oder Arzt wären doch solide und ein Sprung nach oben gewesen? Oder vielleicht zum Fernsehen? Aber das wollte ich nicht, ja, ich konnte es schon nicht mehr. Ich wollte Schriftsteller werden. Dass es, gerade im Literaturbereich, ebenfalls krasse Klassenunterschiede gibt, war mir noch nicht bewusst, und falls ich es ahnte, war es mir in meiner bald antrainierten Arroganz egal. Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit halbtags als Schreibkraft bei einem kleinen Ratgeberverlag, so dass ich, wenn ich Bücher kaufte, in den Vorzug eines Preisnachlasses kam. Ich kaufte und las alles. Dazu wünschte ich mir zu den entsprechenden Festanlässen immer mehr Gesamtausgaben, die ich meistens auch bekam. Darin las ich mich fest. Das war mit dem Leben draußen nicht mehr zu vergleichen. Es war einfach das Geilste, was mir je passiert war. Und zugleich spielte das Leben die größte Rolle in diesen Büchern, wurde verhandelt, gebrochen, reflektiert, noch das Hässlichste in Schönheit umgewandelt. Genau so, dachte ich, so und nicht anders. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken)


Melle, Thomas: Inneres Exil

  In der Jugend standen in meiner unmittelbaren Umgebung zunächst keine Vorbilder zur Verfügung, es war einfach alles eng und klein und furchtbar, also mussten sie aus der Ferne herbeigeschafft werden, die Vorbilder, die Stars. Die evangelische Leihbücherei wurde wöchentlich aufgesucht, die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen raunten schon, das werde was mit dem, und das Ferne in den Büchern war ein Versprechen, eine Wette auf die Zukunft, ein Raum, der mir offenstand, ein Weg aus dieser Enge der Unmittelbarkeit. Denn die Künstler hatten aus ihren Schwächen und Beschränktheiten doch selbst etwas anderes, etwas Öffnendes, über sich selbst Hinausweisendes gemacht, Kunst, drastische Kunst, die mir die Spucke wegbleiben ließ. Ich las wie verrückt und schottete mich mehr und mehr ab. Inneres Exil, Doppelleben, schon früh verstand ich, überspitzt gesagt, was vielleicht damit gemeint war. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken)


Melle, Thomas: Bibliothek eines Manikers

  Früher bin ich ein Sammler gewesen. Süchtig nach Kultur, hatte ich mir über die Jahrzehnte eine imposante Bibliothek aufgebaut, die ich mit großer Liebe zum Detail ständig ergänzte und erweiterte. Mein Herz hing an diesen Büchern, und ich liebte es, im Rücken all die Schriftsteller zu wissen, die mich früher geprägt und begeistert hatten, dazu die Kollegen, deren Neuerscheinungen mir immer wieder vor Augen führten, dass die Zeit voranschritt und die Dinge sich änderten. Ich hatte die Bücher nicht alle gelesen, aber ich brauchte sie alle, und ich konnte jederzeit nachlesen, was ich wollte, und mich in einem Buch erneut oder erstmals verlieren. (...) Die Sammlung und die Bibliothek waren auch bei mir zu einem Bestandteil meiner Persönlichkeit geworden. (...) 2006 hatte ich den größten Teil meiner Bibliothek verkauft, vor allem die Klassiker. Plötzlich waren mir, dem Maniker, die vorher geliebten Bücher ein Ballast, den ich so schnell wie möglich loswerden wollte. 2007, in der Depression, betrauerte ich diesen Verlust dann sehr. Ein Sammler hatte die Objekte seiner Leidenschaft in alle Winde verstreut, und eine Rückholaktion war nicht möglich. Drei Jahre harrte ich zwischen den dezimierten Beständen aus, dann wurde ich wieder manisch und verkaufte, 2010 war das, den größten Teil der übriggebliebenen Rumpfbibliothek (...). Ich vermisse diese Bücher noch heute. Meist rede ich mir ein, dass auch bei normaler psychischer Konstitution eine Verschlankung der Bibliothek nicht die schlechteste Idee gewesen wäre (aber eine Verschlankung bloß!) oder dass ich irgendwann eh genug gehabt hätte vom ständigen Archivieren und Horten, um einem neuen, befreienden Minimalismus zu frönen, weiße Wände, ein Sofa, ein Tisch mit Gerhard-Richter-Kerze drauf, mehr nicht. (...) Die Bibliothek ist verloren auf immer, aber in meinem Rücken wächst derzeit langsam, ganz langsam eine neue heran. Andere verkaufen freiwillig sämtliche Bücher und sehen das als Fortschritt an, die Kindles in der Hand, die Flatrates vorsorglich kostenoptimiert. Ich war ein altmodisches Exemplar, auf gewisse Weise, trotz aller Internetaffinität ein Typ, der einen anderen, älteren Begriff von Literatur hatte, mit einer Bibliothek im Rücken und Alkohol im Atem. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken)


Menasse, Robert: Jung und voll Selbstmitleid

  Ich habe Gewalt kennengelernt. Ich wurde in der Hauptschule oft verprügelt. Ich war kein "Raufer". Ich wurde einfach geschlagen. Warum habe ich nie zurückgeschlagen? Mit dieser Erfahrung begründete ich den Satz: "Ich hasse Gewalt." Ich war der, der nickte, wenn Pazifisten redeten. Man könnte auch sagen, ich war feig. Zum Glück. Ich war ein Leser. Ich begann eine Buchhändlerlehre. Ich las andere dicke Bücher. In der Buchhandlung Bacher im ersten Bezirk war ich, abgesehen vom alten Herrn Pocensky, einem müden und traurigen Sozialisten, der einzige Mitarbeiter, der las. Herr Opocensky gab mir immer wieder Bücher aus seiner privaten Bibliothek, Ignazio Silone oder Panait Istrati, gewaltige Literatur, Weltliteratur, für die es heute keine Welt mehr gibt. Weil die Mitfühlenden ausgestorben sind wie so viele andere Arten. Das Elend, die Armut, die Erniedrigung der Menschen. Ich mußte weinen, als ich diese Bücher las. Ich war jung, wollte Spaß im Leben, und las Bücher, bei denen ich weinen mußte. Das stimmt nicht. Ich hatte auch Spaß. Na ja, Spaß. Ich habe den Verdacht, daß Mitgefühl einer unappetitlichen Voraussetzung bedarf: des Selbstmitleids. (Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 58)


Menzel, Wolfgang: Myriaden von Dichtern

  Kein Jahr vergeht, in welchem die Meßcataloge nicht hundert neue lyrische Werke, eben so viel oder noch mehr Romane und wenigstens halb so viel Schauspiele verzeichnen. Die Zahl unserer lebenden Dichter ist eine Myriade, und nicht einmal zu viel für die mehr als tausend jetzt in Deutschland bestehenden Buchhandlungen. Die Poesie, ehemals monarchisch, priesterlich oder wenigstens aristokratisch, ist demokratisirt worden, und nicht nur glaubt sich jeder, sobald es ihm nur einfällt, berechtigt zu schreiben und drucken zu lassen, sondern eine zahlreiche Classe von Proletariern der Presse wird von den Verlegern zur poetischen Fabrikarbeit förmlich gedungen. Ein Kriterium des guten Geschmacks gibt es nicht mehr. Reiche Verleger und Lobassecuranz- gesellschaften unter den Literaten selbst, oder das politische und kirchliche Parteiinteresse diktiren das öffentliche Urtheil. Nie zuvor ist daher so viel Schlechtes angepriesen und verbreitet, so viel Gutes verachtet und unterdrückt worden. (Wolfgang Menzel: Deutsche Dichtung, 1859)


Meyerhoff, Joachim: Ein Leser

  Mein Vater ließ sich in seinen Ohrensessel fallen und nahm sein Buch. Hielt es, wie es seine Gewohnheit war, sehr nah vor die Augen, wodurch sein Gesicht fast ganz verschwand. Für Stunden entzog er sich so unser aller Sicht, und nur seine Glatze ragte wie ein spiegelglatter Himmelskörper halb über den Horizont des Buchrandes. (Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war)


Meyerhoff, Joachim: Erpressung eines Langsamlesers

  Meine Lieblingslektüre waren Bücher der Reihe "Alfred Hitchcock - Die drei Fragezeichen". Es waren Krimis, bei denen man selbst versuchen sollte, dem Verbrecher auf die Schliche zu kommen - und hin und wieder bekam man von einem kleinen Hitchcock- Schattenriss einen Tipp. Auf der letzten Seite stand die Lösung. Ich war ein sehr langsamer Leser und brauchte oft wochenlang für einen einzigen Band. Davon, dass ich Bücher verschlang, konnte wirklich keine Rede sein. Mein mittlerer Bruder nutzte diese Langsamkeit gnadenlos aus. Er stahl mein Buch, las die letzte Seite und erpresste mich: "Wenn du nicht sofort mein Zimmer aufräumst, sag' ich dir, wer der Mörder ist." Wenn ich mich weigerte, rief er wie bei einer Oscar-Verleihung: "Der Name des Mörders ist ...!" Ich rannte sofort in sein Zimmer und räumte auf. Für mich war das eine ernst zu nehmende Drohung. Die Vorstellung, vier Wochen lang fünfzig Seiten umsonst gelesen zu haben, machte mich gefügig. Die einzige Chance, diesem Ausgeliefertsein zu entgehen, bestand darin, möglichst schnell an das Ende des Buches zu gelangen und mich dadurch unangreifbar zu machen. Oft habe ich dann das Drei-Fragezeichen-Buch in der durch meine Knechtschaft äußerst knapp bemessenen Zeit in nur drei Tagen zu Ende gelesen. Das war ein befreiender Moment. Mein Bruder sagte: "Los, putz die Speichen von meinem Rennrad!" Ich sagte: "Nee, mach ich nicht!" Er, wie immer: "Der Name des Mörders ist ...!", und ich, leicht gelangweilt: "Mr. Green vom Segelklub!" (Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war)


Meyerhoff, Joachim: Vaterlexikon

  Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. Sosehr ich ihn auch für sein Wissen bewunderte, so sehr hat mich dieses im Sessel sitzende Vaterlexikon oft zur Weißglut gebracht. Als ich nach einer vierwöchigen Reise aus der Türkei zurückkam - da war ich schon wesentlich älter -, hatte mein Vater vier Wochen lang alles über die Türkei gelesen. Keine Stadt, in der ich war, die er nicht kannte. Keine Sehenswürdigkeit, über die er nicht viel mehr wusste als ich. Ich sagte: "Und dann waren wir in Kaisery, und stell dir vor, da gab es eine Straße, in der nur Teppichhändler waren." "Ja, Kaisery", sagte mein Vater, "ist ja auch ein jahrhundertealtes Zentrum der Teppichknüpfkunst. Habt ihr euch denn die weltberühmten Teppichknüpfereien angesehen? Sie befinden sich etwas außerhalb der Stadt. Dort liegen auf einer riesigen Fläche Teppiche unter freiem Himmel. Weil die Farben - die Färbereien kann man übrigens nach telefonischer Voranmeldung auch besuchen -, weil die Farben unmittelbar nach dem Färben so grell sind, dass die Teppiche erst in der prallen Sonne, unter dem Einfluss der sehr starken anatolischen Sonnenstrahlen, ihren berühmten matten Glanz erhalten." Irgendwann hatte ich dann das Gefühl, nie in der Türkei gewesen zu sein. Oder höchstens wie ein ungebildeter Trottel an allem auch nur annähernd Interessantem vorbeigestolpert zu sein. "Was!", rief mein Vater entrüstet, "ihr wart in Sivas und habt euch nicht den nur zehn Kilometer entfernten weltberühmten Süßwassersee namens Eber Gölü angesehen? Zu dem pilgern Ornithologen aus der ganzen Welt, um Tausende von Flamingos zu beobachten." Ich hatte noch nie von diesem See gehört, erinnerte mich dann aber tatsächlich, in Sivas Heerscharen von Menschen mit riesigen Teleobjektiven gesehen zu haben. Der Höhepunkt solcher feindlichen Übernahmen bestand darin, dass ich rief: "Ja, aber ich war wenigstens da!" Mein Vater legte triumphierend seine Hand auf den Stapel mit den Büchern über die Türkei und antwortete: "Ich auch!" (Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war)


Michell, John: Liberaler Wahnsinn

  Vor der Bibliomanie, dem leidenschaftlichen Verlangen, Bücher zu berühren, zu besitzen und anzuhäufen, haben viele Schriftsteller gewarnt; vor allem solche, die selbst einen Anflug davon verspürt haben. Andere haben diese Sucht mit der Begründung verteidigt, mit zunehmendem Alter nehme bei den Menschen zwangsläufig auch der Grad der Verrückheit zu, und so sei es am besten, sich auf eine der liberalen Formen des Wahnsinns, wie zum Beispiel die Bücherleidenschaft, einzulassen. (John Michell: Exzentrische Leben und merkwürdige Angewohnheiten, S. 164)


Milosz, Czeslaw: Aber die Bücher

  Aber die Bücher wird es in den Regalen geben,
Wahrhaftige Wesen, die irgendwann frisch, noch feucht,
aufgetaucht sind,
Wie leuchtende Kastanien unter dem Baum im Herbst,
Und liebevoll berührt zu dauern anfingen,
Trotz der Feuerscheine am Horizont,
Der in die Luft gesprengten Schlösser,
Der wandernden Stämme, beweglichen Planeten.

  Wir sind da – sagten sie, selbst als man ihnen die Seiten herausriß,
Oder wenn lodernde Flammen ihre Buchstaben tilgten,
Um wie viel dauerhafter als wir, deren anfällige Wärme
Zusammen mit dem Gedächtnis erkaltet, sich verflüchtigt, vergeht.
Ich stelle mir die Erde vor, wenn es mich nicht mehr geben wird –
Na und? Überhaupt kein Verlust, die Wunderdinge bleiben,
Die Kleider der Frauen, der feuchte Jasmin, das Lied im Tal.
Aber die Bücher wird es in den Regalen geben, die wohlgeborenen,
Von Menschen, auch aus der Helle, von den Gipfeln.


Milosz, Czeslaw: Eins nach dem anderen

  Ich bin zum Lesen nie ruhig genug gewesen, und es gab eine Zeit, da hätte ich meines Vaters Bücher den Schweinen vorgeworfen, wenn ich geglaubt hätte, es könnte ihnen guttun. Ein solcher Bücherbestand verwirrte mich. Als ich anfing, etwas über Frankreich zu lesen, stellte ich fest, daß ich nichts über Rom wußte, das doch davor lag, und über Griechenland, und dann weiter Ägypten und so die ganze Zeit bis zum Ur-Abrgund. Ich wußte ganz einfach nicht genug, um nur ein einzelnes Buch zu lesen. (Czeslaw Milosz: Tal der Issa, S. 234)


Mirbeau, Octave: Die Wirkungslosigket der Bücher

  "'Neulich hatte ich einen Arbeiter von der Schreinerei im Haus, der gekommen war, um meinen Bücherschrank zu reparieren. Er ist ein intelligenter Mann; und er plaudert gern.'" - Es folgt ein zu Herzen gehender, unheimlich (!) modern anmutender Disput zwischen dem Hausherrn und dem Handwerker, dem 3 Kinder weggestorben waren, über Kinderarmut und Bevölkerungspolitik, der mich verwundert nachschauen ließ, wann das Buch erschienen war. Als Abschluß dieser Episode dann: "Als er seine Arbeit beendet hatte, betrachtete er die Bände, die eingeordnet auf den Regalen der Bibliothek standen 'Voltaire...' sagte er... 'Diderot... Rousseau... Michelet... Tolstoi... Kropotkin... Anatole France... Ja, das alles ist wunderschön... Doch wozu nützt es? ... Die Ideen schlummern in den Büchern... Die Wahrheit und der Wohlstand treten nie aus ihnen heraus...' Er packte sein Werkzeug zusammen und verabschiedete sich traurig." (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers)


Möring Marcel: Fiktion ist gleich Lüge?

  "Jeder Roman ist ein Lüge, Onkelchen. Fiktion ist per definitionem unzuverlässig und daher unbrauchbar." Herman hatte die Augenbrauen hochgezogen. "Allenfalls", hatte ich gesagt, "vermittelt ein Roman einem ein Bild einer bestimmten Wahrnehmung. Aber selbst dann - es ist alles so privat, den Anforderungen so unterworfen, die nichts mit Gesellschaft, Politik und Wirklichkeit zu tun haben, daß jeder 'Gebrauch' eines Romans das gleiche ist, wie aus den Eingeweiden eines Hundes die Zukunft zu lesen." (Marcel Möring: In Babylon, S. 190)


Möring Marcel: Das Wesen der Dinge

  "Flaubert", sagte ich, "war der Lehrmeister von Guy de Maupassant, von dem wir diese Erzählungen gelesen haben. Maupassant gab seine Texte Flaubert immer zu lesen, aber der war nie zufrieden. Eines Tages kam Maupassant wieder mit etwas an, und da sagte Flaubert: Du beschreibst Dinge, als komme es nicht so darauf an. Wenn du von einem Baum sprechen willst, dann mußt du zu einem Baum gehen und diesen Baum so lange anschauen, bis du nicht mehr 'einen Baum' siehst, sondern diesen speziellen, das Wesen dieses Baumes. Wenn du soweit bist, dann fängst du an zu schreiben." (Marcel Möring: In Babylon, S. 90)


Moers, Walter: Präambel

  Es ist keine Geschichte für Leute mit dünner Haut und schwachen Nerven - welchen ich auch gleich empfehlen möchte, dieses Buch wieder zurück auf den Stapel zu legen und sich in die Kinderbuch-Abteilung zu verkrümeln. Husch, husch, verschwindet, ihr Kamillenteetrinker und Heulsusen, ihr Waschlappen und Schmiegehäschen, hier handelt es sich um eine Geschichte über einen Ort, an dem das Lesen noch ein echtes Abenteuer ist!... Ja, ich rede von einem Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn treiben kann. Wo Bücher verletzen, vergiften, ja, sogar töten können. Nur wer wirklich bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um an meiner Geschichte teilzuhaben, der sollte mit zum nächsten Absatz folgen. Allen anderen gratuliere ich zu ihrer feigen, aber gesunden Entscheidung, zurückzubleiben. Macht's gut, ihr Memmen! Ich wünsche euch ein langes und sterbenslangweiliges Dasein und winke euch mit diesem Satz Adieu! (Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher)


Moers, Walter: Buchlinge

  "Wir essen nicht wirklich Bücher", erlöste ihn Gofid. "Nicht in dem Sinne, daß wir Papier fressen wie ein Bücherwurm. Es ist nur so, daß wir vom Lesen satt werden." "Wie bitte?" "Es ist uns ein bißchen peinlich", sagte Golgo, "daß etwas so Hochgeistiges wie Lesen bei uns mit etwas so Profanem wie Verdauung einhergeht. Aber so ist das nun mal. Wir ernähren uns vom Lesen!" "Das kann ich nicht glauben!" lachte ich. "Das ist wieder einer von euren Scherzen, stimmt's?" "Übers Lesen machen wir keine Witze", sagte Gofid mit ernster Miene. "Das ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe! Und ich bin mit verrückten Geschichten in der letzten Zeit wirklich verwöhnt worden. Wie soll denn das funktionieren?" "Können wir dir auch nicht sagen", sagte Golgo. "Wir sind Buchlinge, keine Wissenschaftlicher. Aber daß es funktioniert, das kann ich dir bestätigen. Bei mir sogar ein bißchen zu gut." Er drückte mit besorgter Miene auf seinen Fettwülsten herum. "Ich kann lesen, was ich will, ich werde einfach nicht dick", sagte Danzelot. Golgo funkelte Danzelot an. "Wie ich diese leptosomen Typen hasse, die in sich reinstopfen können, was sie wollen, und dabei kein Gramm zunehmen! Gestern hat er drei dicke Barockromane gelesen - drei! - und sieh ihn dir an ! Schlank wie ein Aal! Wenn ich so was mache, muß ich nachher wochenlang Diät lesen."! "Bücher sind unterschieldich nahrhaft?" fragte ich. "Natürlich, man muß sehr darauf achten, was man liest. Romane haben's in sich, da muß man aufpassen. Ich bin zur Zeit auf einer strengen Lyrik-Diät. Drei Gedichte pro Tag, mehr ist nicht drin." Golgo stöhnte. "Zur Zeit auf einer strengen Lyrik-Diät!" höhnte Gofid. "Du hast heute damit angefangen." "Wir brauchen nur Wasser und schlechte Luft", sagte Danzelot. "Ansonsten genügt uns Lektüre. Wir versuchen immer noch rauszukriegen, welche Bücher die wertvollsten Närhstoffe enthalten." "Klassiker!" rief Golgo streng. "Das ist noch nicht raus!" widersprach Gofid. "Ich habe mich mal jahrelang von avantgardistischer Berghutzen-Lyrik ernährt, und ich war damals in der Form meines Lebens." "Es eigentlich zu schön, um wahr zu sein", sagte Danzelot. "Wir sind die einzigen in den Katakomben, die sich nicht in diesen gnadenlosen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden, von Jagen und Gejagtwerden einzureihen brauchen. Zu lesen gibt's immer genug." "Eher zuviel!" stöhnte Golgo. "Eher zuviel!" "Manchmal denke ich, daß wir die einzigen sind, die wirklich was von der Literatur haben", grinste Gofid. "All die anderen haben nur Arbeit mit den Büchern. Sie müssen sie schreiben. Lektorieren. Verlegen. Drucken. Verkaufen. Verramschen. Studieren. Rezensieren. Arbeit, Arbeit, Arbeit - wir dagegen müssen sie nur lesen. Schmökern. Genießen. Ein Buch verschlingen - wir können's wirklich. Und werden auch noch satt davon. Ich möchte mit keinem Schriftsteller tauschen." Golgos Augen leuchtete. "Man fängt zum Beispiel mit ein paar leichten Aphorismen an, vielleicht von Orca De Wils (Oscar Wilde), und danach nimmt man ein Sonett zu sich, sagen wir mal: eins von Wimpershlaak (William Shakespeare), die sind alle lecker. Und anschließend eine magere Novelle oder ein paar Kurzgeschichten. Schließlich kommt man zum Hauptgang: Ein Roman von, na ja, zum Beispiel Balono De Zacher, du weißt schon, so eine richtig fette Dünndruckschwarte von dreitausend Seiten, mit all diesen delikaten Fußnoten! Und dann als Nachtisch..." "Jetzt reiß dich mal am Riemen!" rief Danzelot. "Heute morgen erst mit der Diät angefangen, und schon drehst du durch." Golgo verstummte. Ein Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel. Mir fielen alle möglichen Fragen ein: "Kann man ein Buch auch zweimal...?" "Wenn man es komplett verdaut hat - ja. Man kann ein Buch immer wieder essen." "Was schmeckt besser: Lyrik oder Prosa?" "Geschmackssache." "Gibt es schwerverdauliche Lektüre?" "Von Horrorromanen kirget man Alpträume. Trivialliteratur sättigt nicht auf Dauer. Abenteuerromane sollen schlecht für die Nerven sein." "Sättigen Schriftsteller mit größerem Wortschatz mehr als andere?" "Eindeutig." "Was ist mit Sachbüchern?" "Mehr was für zwischendurch." "Und Kochbücher?" "Jetzt willst du uns veräppeln.""Was ist mit gedruckten Verrissen?" "Hinterlassen einen schlechten Nachgeschmack." (Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher, S. 265ff.)


Moers, Walter: Eine waghalsige Unternehmung

  Hier fängt die Geschichte an. Sie erzählt, wie ich in den Besitz des 'Blutigen Buches' kam und das Orm erwarb. Es ist keine Geschichte für Leute mit dünner Haut und schwachen Nerven - welchen ich auch gleich empfehlen möchte, dieses Buch wieder zurück auf den Stapel zu legen und sich in die Kinderbuch-Abteilung zu verkrümeln. Husch, husch, verschwindet, ihr Kamillenteetrinker und Heulsusen, ihr Waschlappen und Schmiegehäschen, hier handelt es sich um eine Geschichte über einen Ort, an dem das Lesen noch ein echtes Abenteuer ist! Und Abenteuer definiere ich ganz altmodisch nach dem 'Zamonischen Wörterbuch': "Eine waghalsige Unternehmung aus Gründen des Forschungsdrangs oder des Übermuts; mit lebensbedrohlichen Aspekten, unberechenbaren Gefahren und manchmal fatalem Ausgang." Ja, ich rede von einem Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn treiben kann. Wo Bücher verletzen, vergiften, ja, sogar töten können. Nur wer wirklich bereit ist, für die Lektüre dieses Buches derartige Risiken in Kauf zu nehmen, wer bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, u an meiner Geschichte teilzuhaben, der sollte mir zum nächsten Absatz folgen. Allen andern gratuliere ich zu ihrer feigen, aber gesunde Entscheidung, zurückzubleiben. Mach's gut, ihr Memmen! Ich wünsche euch ein langes und sterbesnlangweiligews Dasein und winke euch mit diesem Satz Adieu! (Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher, S. 9)


Moers, Walter: Eine gute Tat

  Danzelot: "Vor einiger Zeit sandte mir ein junger zamonischer Dichter von außerhalb der Lindwurmfeste ein Manuskript. Mit dem üblichen verschämten Blabla, daß dies nur ein bescheidener Versuch, ein zaghafter Schritt ins Ungewisse sei und so weiter, und ob ich nicht mal sagen könnte, was ich davon hielt - und vielen Dank im voraus! Nun, ich habe es mir zur Pflicht gemacht, und ich darf mit Fug und Recht behaupten, daß mich diese Lektüre einen nicht unerheblichen Teil meines Lebens und einige Nerven gekostet hat." (Danzelot hustete ungesund.) Danzelot: "Aber die Geschichte war nicht lang, nur ein paar Seiten, ich saß gerade am Frühstückstisch, hatte mir eine Tasse Kaffee eingeschenkt und die Zeitung schon ausgelesen, also nahm ich mir den Text gleich vor - jeden Tag eine gute Tat, du weißt schon, warum nicht gleich zum Frühstück, dann hatte ich es hinter mir. Ich war durch langjährige Erfahrung auf das übliche Gestammel eines mit Stil, Grammatik, Liebeskummer und Weltekel ringenden Jungschriftstellers vorbereitet, also seufzte ich und begann mit der Lektüre." (Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher, S. 17)


Mörike, Eduard: Verspätete Rücksendung

  Herrn Bibliothekar Adelb. v. Keller bei verspäteter
Zurücksendung einer Ausgabe des Catullus

  Das Buch:
Da bin ich endlich! - Blicke nicht so streng, o Herr!
Wie? oder wäre was verlautet wirklich wahr,
Du wärst uns ernstlich böse? Nun, so höre mich:
Zwar nahezu zwei Jährchen blieb ich aus; jedoch
Nicht schmutziger, bei meiner Ehre, komm ich heim,
Als ich, dem Zeugnis aller Grazien gemäß
(Die mir gleichwohl bei jeder Zeile lächelten),
Von jeher war. Auch hattest du mich eben nicht
So groß vonnöten, wenn ich's redlich sagen darf,
Denn über eine ganze Welt von Büchern ja
Bist du Gebieter, der mit jeglichem vertraut
In seiner eignen Sprache zu verkehren weiß.
Dort in der Reihe steh ich dutzendfach bereit;
Bald nackt, bald mit preiswürdgen Kommentarien,
Worin sich meine Schlankheit wie im Reifrock bläht;
Nur bin ich nirgend wie mich einst die Muse schuf. -
Du warst die Zeit in meinem Vaterlande, heißt's;
Hätt ich denn etwa mit gedurft? Ich zweifle fast.
Du hast, Beneidenswerter, kaum einmal an mich
Im schönen Rom und am Benacus-See gedacht,
Wo jedes Wellchen, blinkend in des Morgens Hauch,
Noch von den Scherzen meines Vaters fröhlich lebt.
Darum vergib dem Manne, der so lang mich hielt,
Und, hoch dich achtend, ungern dich beleidigt weiß.
Indem er herzlich danken möchte und der Schein
Des Undanks ihm das beste Wort verkümmern will,
Hat er, o glaub's, den Fehler schon genug gebüßt.


Monikova, Libuse: Analphabetismus

  Wenn sie Bildchen brauchen, um ein paar Sätze zu verstehen, wundert es mich nicht, daß sie auf unsere Briefe nicht antworten! Es gibt dort bereits mindestens zwanzig Millionen Analphabeten, und sogar Lehrer sollen schon beim Buchstabieren Schwierigkeiten haben. Verstehen Sie das? Und das ist eine Nation, die uns voraus sein soll. Ich habe Coca-Cola getrunken; das mit dem Analpabetismus ist natürlich schlimmer. Sehen Sie sich hier den Bücherschrank eines Lastwagenfahrers an! Jeder Tuwiner, jeder Niwche kann lesen und schreiben, vielleicht nur die ganz Alten nicht. Die Jukagiren, sie sind 600 an der Zahl, aber alphabetisiert! Auch die 100 Oroken auf Sachalin lesen. Wissen Sie, was Literatur hier für die Menschen bedeutet? Wenn in der 'Liturnaja Gazeta' ein Mißstand angeprangert wird, hat es größere Folgen, als wenn es in der Prawda steht. (Libuse Monikova: Die Fassade, S. 280)


Michel de Montaigne: Nichts ohne Heiterkeit

 An den Schwierigkeiten, auf die ich beim Lesen stoße, beiße ich mir nicht die Zähne aus; wenn ich ihnen ein- oder zweimal auf den Leib gerückt bin, lasse ich es dabei bewenden. Wenn ich mich darein verbisse, so verlöre ich mich dabei und meine Zeit dazu: denn ich habe einen quecksilbrigen Geist. Was ich nicht auf den ersten Anhieb durchschaue, das durchschaue ich erst recht nicht, wenn ich mich darauf erpiche. Es gelingt mir nichts ohne Heiterkeit, und zu lange Bemühung und Anspannung macht mir den Verstand blind, lustlos und matt. Mein Blick und vewirrt sich darob. Ich muß ihn abwenden und nur ab und zu wieder darauf lenken, so wie man uns heißt, um den Farbglanz des Scharlachs zu beurteilen, die Augen zu verschiedenen Malen sehr schnell darüber hingehen zu lassen und wieder wegzublicken. Bin ich dieses einen Buches überdrüssig, so nehme ich ein anderes zur Hand; und widme ihm nur die Stunden, in denen mich das Nichtstun zu langweilen beginnt. Ich greife kaum je nach neuen, weil mir die alten mehr Kraft und Fülle zu haben scheinen; auch nicht nach den Griechen, weil sich mein Geist nicht gern mit meinem kindlichen und schülerhaften Verständnis ihrer Sprache zufrieden gibt.


Moor, Margriet de: Erzählung versus Roman

  Eine Erzählung zu schreiben ist nicht einfacher, als einen Roman zu schreiben. Beide Gattungen erfordern exakt dieselbe Konzentration auf Stil und Komposition. Sie bereiten einem während des Schreibens auch exakt dieselben Ängste und Freuden. Allerdings ist bei einer Erzählung das Ringen schneller und kürzer. Daß die Mühsal absehbar ist, bringt eine Atmosphäre der Freiheit mit sich, die zu zweierlei Dingen einlädt. Sie sind wie eine chemische Verbindung voneinander durchdrungen. Das eine ist das Eingehen technischer Risiken. Das andere: jedes Thema, das deine Aufmerksamkeit erregt, anzupacken. Literarische Themen sind im Prinzip in unendlicher Menge vorhanden. Allein schon in der Lebensgeschichte jedes Menschen steckt ein Roman. Der Gedanke, für das Schreiben all dieser dicken Bücher sei einem die Ewigkeit bestimmt, mag ein erhebender Gedanke sein, für den sterblichen Schriftsteller ist es nur gut, daß es die kurzen Erzählungen gibt. (Margriet de Moor: Ich träumte also - Anmerkungen, S. 199)


Moor, Margriet de: Balzac

  Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine Reisegefährtin ein Buch aus ihrer Tasche angelt. Ich spüre, sie tut es, um es mir zu zeigen. Ich schaue hin. Ich bin sprachlos. Balzac. Auf dem Umschlag eine Frau mit zwei Kindern, ein blasser Junge, ein gesundes, rosiges Mädchen. Das Frauchen blickt mich mit ihren durch die Brille verzerrten Suppenaugen an. Stumpf, mit einer Art Ungehaltenheit, wie man sie bei erfahrenen Kennern sieht, die nur noch von einem Gleichgesinnten aus ihren Betrachtungen zu reißen sind. "Der einzige Romancier, der etwas davon versteht", teilt sie mit. Ich nicke, überflüssig zu fragen: wovon denn?, denn ich habe den ganzen Morgen an nichts anderes gedacht als daran, welche gnadenlose Auswirkung die Liebe auf einen Menschen haben kann. Ich betrachte noch einmal den Umschlag und lese: Le lys dans la vallée (Die Lilie im Tal). Aha. (Margriet de Moor: Mélodie d'amour)


Mora, Terezia: Realität und Erfindung

  Der Grund, warum ich zu schreiben angefangen habe, sagte Alegria zu einem früheren Zeitpunkt mutmaßlich ebenfalls zu Omar, war, daß das Leben von Anfang an als zu anstrengend vorkam. Alles und jeder, der mir begegnete, stürzte mich in Verwirrung und raubte mir fast den gsamten Lebensmut. Ich fühlte mich ohnmächtig und wütend. Alles hatte diese Wirkung auf mich, bis auf die Figuren, die ich seit frühester Jugend selbst erfand. Ich bin glücklich und stolz, daß es mir gelungen ist, mittlerweile alles, was mir begegnet, so zu betrachten, als hätte ich es erfunden. Seitdem kann ich jeden lieben. (Terezia Mora: Alle Tage, S. 43)


Mora, Terezia: Der Antiquar

  Letztes Frühjahr, damals noch: nach dem Unterricht, ging Mercedes in ein Antiquariat in der Nähe ihrer Schule. Ein wirklich winziges Antiquariat, zwischen Eingangstür und Kassentisch ist gerade soviel Platz, daß sie, die nicht sehr groß ist, sich bequem hinlegen könnte, sollte sich dafür ein Anlaß ergeben. Indem man sich zum Beispiel verirrt und bis zum Ladenschluß nicht wieder herausfindet aus diesem vorgeblich so winzigen Raum. Das wäre durchaus vorstellbar, denn es ist alles so voll gestellt mit Büchern, überall stapeln sie sich, in Regalen, auf Tischen, auf dem Boden, daß es wohl keinen lebendigen Menschen gibt, geben kann, der sich hier zurecht findet. Fragen Sie mich doch einfach, riet der Besitzer. Selbstporträt des Künstlers als der Gesalbte, die cognacfarbenen Christushaare reichen bis unter die Tischkante, hinter der er in sehr gerader Haltung sitzt. Ob er Beine hat? Wonach suchen wir denn? Mercedes dachte an etwas in der Art eines zweisprachigen Rimbaud-Bandes. Er an ihrer Stelle würde da lang gehen. Der Mann, der wie Dürer aussah, zeigte die Richtung an. Es ist nicht weit. Die Gazellen sind nur zwei Tagesmärsche entfernt, dachte Mercedes, während sie schmunzelnd durch das staubige Chaos balancierte. Die Kanten der Büchertürme berührten sie am Schenkel: weiße Staubstreifen auf dunkler Kleidung. In den anderen Gängen scharrte es. Andere Kunden oder Mäuse. Ratten. Tauben. Mercedes, die eine Abneigung gegen gewisse Tiere hat, bekam eine Gänsehaut. Haben Sie es? Die Stimme des Besitzers. Normalerweise müßten Sie jetzt genau davor stehen. Sie sah ins Regal, und tatsächlich, genau auf Augenhöhe: ein zweisprachiger Rimbaud. Sie lachte. Von diesem Typ muß ich den anderen erzählen. Könnte es sein, daß es ein Antiquariat gibt, in dem jeder das findet, was er sucht? (Terezia Mora: Alle Tage, S. 270)


Moreira, Régis De Sá: Schundfrei

  Der Buchhändler weigerte sich, Schund zu verkaufen. "Aber wer war er denn, dass er entschied, was Schund war?", gab man ihm gelegentlich - und nicht immer mit erlesener Höflichkeit - zu verstehen. Nun, immerhin war er der Buchhändler. Und das schien ihm hinreichend. Die unzufriedenen Leute brauchten doch nur die eine oder andere der zahlreichen Buchhandlungen der Stadt aufzusuchen oder ihre eigene Buchhandlung zu eröffnen und somit ihren eigenen Schund zu kaufen oder zu verkaufen. Der Buchhändler sah nicht ein, warum er das tun sollte. Er lehnte Schund ab. (Régis De Sá Moreira, Das geheime Leben der Bücher)


Morgan, Sydney Owenson: Geschichtsschreibung

  Literarische Fiktion, ob als flüchtige Unterhaltung beabsichtigt, oder als indirektes Mittel zu Unterweisung, war immer in höchst unverfälschter Form ein Spiegel jener Zeit, in der sie verfaßt wurde. Sie reflektiert Moral, Gewohnheiten, Verhalten, Charakterbesonderheiten und die vorherrschende Meinung. Auf diese Weise ist die Literatur vielleicht die lebendigste Form von Geschichte.


Morgenstern, Christian: Europens Bücher

  Korf ist fassungslos, und er entflieht,
wenn er nur Europens Bücher sieht.

  Er versteht es nicht, wie man
zentnerschwere Bände leiden kann.
Und ihm graut, wie man dadurch den Geist
gleichsam in ein Grab von Stoff verweist.

  Geist ist leicht und sollte darum auch
leicht gewandet gehn nach Geisterbrauch.

 Doch der Eruopäer ruht er dann,
wenn er ihn in Bretter "binden" kann.


Morgenstern, Christian: Der eingebundene Korf

  Korf läßt sich in einen Folianten einbinden,
um selben immer bei sich zu tragen;
die Rücken liegen gemeinsam hinten,
doch vorn ist das Buch auseinandergeschlagen.
So daß er, gleichsam flügelbelastet,
mit hinter den Armen flatternden Seiten
hinwandelt oder zu anderen Zeiten
in seinen Flügeln rastet.


Morgenstern, Christian: Palma Kunkel

  Ein Anonymus aus Tibris
sendet Palma ein Exlibris.
Auf demselben sieht man nichts,
als den weißen Schein des Lichts.
Nicht ein Strichlein ist vorhanden.
Palma fühlt sich warm verstanden.
Und sie klebt die Blättlein rein
allenthalben dankbar ein.


Morgner, Irmtraud: Kurze und lange Prosa

  Der operative Montageroman ist ein unverwüstliches Genre. AV: Ah. L.: Ein geradezu ideales Genre zum Reinreden. AV: Donnerwetter. Aber warum zum Teufel schreibt Beatriz de Dia kurze Prosa? L.: Kurze Prosa entspricht ihrem Naturell und ihrer Lebensform. Schreiben ist für sie eine alltägliche, lebensnotwendige Tätigkeit, sie befaßt auch das Alltägliche: das, was auf sie zukommt täglich. Diese Begebnisse sind schwer, auf längere Sicht nicht voraussehbar. Sie wälzen ständig ihre Ansichten von der Welt. Um einen Roman im üblichen Sinne zu schreiben, das heißt um jahrelang etwa an einer Konzeption festzuhalten, muß man sich einer Art des Schreibens zuwenden, die von den Erlebnissen und Begegnungen des epischen Ich absieht. Für Beatriz ist Schreiben ein experimenteller Vorgang. Kurze Prosa ist Preßluft, heftig und sehr angestrengt gearbeitet. Abgesehen vom Temperament, entspricht kurze Prosa dem gesellschaftlich, nicht biologisch bedingten Lebensrhythmus einer gewöhnlichen Frau, die ständig von haushaltsbedingten Abhaltungen zerstreut wird. Zeitmangel und nicht berechenbare Störungen zwingen zu schnellen Würfen ohne mähliche Einstimmung, ich kann nur voll ansetzen oder nicht. AV: Sie können nur voll ansetzen oder nicht? Sie? Ich denk, Frau Dia schreibt den Roman? L.: Ach so, Verzeihung, ja, natürlich, nicht aus Bescheidenheit zieh ich ein Romanensemble kurzer Prosa der orthodoxen Roman vor. Weniges genau befassen bringt mehr als alles streifen. Ein Ensemble kurzer Prosa holt die Lebensbewegung des epischen Ich deutlich ins Buch, ohne sie inhaltlich fassen zu müssen. Lebenswahrheit in Büchern kann nicht sein ohne Bekenntnis des Autors zu sich selbst. Ein Moasik ist mehr als die Summe der Steine. In der Komposition arbeiten sie seltsam zu- und gegeneinander unter den Augen des Betrachters. Lesen soll schöpferische Arbeit sein: Vergnügen. AV: Welche Aussagefähigkeit über die Wirklichkeit billigen Sie der kurzen Prosa zu? L.: Unsere Gesellschaft hat einen Hang zum Totalen: alle Revolutionen haben eine solche Vorliebe. Kurzgeschichten kann man nur im Einverständnis mit dem Leser schreiben. Ihm ist aufgetragen, die Totale zu ergänzen. Das Genre baut auf die Produktivität des Lesers. Kurze Prosa gibt den Auschnitt, das Detail. Genau. Genauigkeit des Details wiegt schwerer als Kolossalität, wenn sie verwaschen ist. Und sie muß verwaschen sein, weil das Epos nicht zu erzwingen ist. Es muß allmählich wachsen. In der Kunst läßt sich nichts erzwingen. Sie ist was Lebendiges. Ich billige der kurzen Prosa eine größere Aussagefähigkeit zu als der langen, weil in diesem Fall weniger mehr ist. (Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 258)


Morgner, Irmtraud: Einige Mängel

  Nie hatte sie viel mehr als Knochen vorzuweisen. Meine Großmutter hatte in normalen Zeiten doppelt soviel wie ihre Schwester gewogen, weshalb sie Berta nicht eigentlich als Frau anerkennen konnte. Zumal Berta nach dem Tod ihres Mannes Emil gelegentlich Bücher las. Eine Beschäftigung, die meine Großmutter nur Leuten zugestand, die nichts zu tun hatten. (Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 268)


Moritz, Karl Philipp: Draußen lesen

  Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich ereignen müssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie vielen kleinen Unannehmlichkeiten Neries und Reiser bei diesen empfindsamen Szenen kämpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug usw. (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser)


Moritz, Karl Philipp: Klopstock lesen

  Neries fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langenweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte und die sie sich doch einander und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte Neries doch noch den Vorteil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit verging: Reiser aber war verdammt, zu hören und über das Gehörte entzückt zu sein, welches ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Leben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß, und welche ihn am meisten zurückschrecken würden, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen.


Moritz, Rainer: Frauen lesen ander(e)s

  Auf jeden Fall lesen Frauen anderes. Männer, diese dem plumpen Effizienzdenken stark verhafteten Gestalten, sehen selten ein, warum es für sie nützlich sein sollte, Romane und anderes erfundenes Zeug zu lesen. Der Sinn des Fiktiven ist dem Manne nicht sofort einsichtig – es sei denn, es geht blutrünstig wie bei Thomas Harris zu, oder aus der Lektüre lässt sich, wie bei Frank Schätzings "Der Schwarm", etwas Handfestes ("Wie erkenne ich einen Tsunami?") lernen. Frauen hingegen wissen, dass das reale Leben permanent Defizite bereithält, und nutzen, wenn sie nicht Ratgeber wie "Mein Pilates-Programm" studieren, gern das imaginäre Lektürereich dazu, sich dies und jenes auszumalen und Leid und Glück erfundener Figuren nachzuempfinden. "Jeder Leser ist der Leser seiner selbst", hat der große Marcel Proust einmal festgehalten, und wenn dem so ist, dann braucht es keine biologistischen Theorien, um die Vielfalt der Leseerfahrungen auch nach Geschlechtern zu sortieren. Wenn Frauen – weshalb auch immer – andere gesellschaftliche Erfahrungen machen, werden sie anders als Männer. (...) Ich bin froh, dass es Romane lesende Frauen gibt, ja. Allein schon um die Defizite auszugleichen, die die nicht Romane lesenden Männer anhäufen.


Moritz, Rainer: Bleibende Erwartung

  Ich komme ebenfalls aus keinem Haushalt, wo im Wohnzimmer die Bücherwände standen. Mein Vater war Einkaufsleiter einer Baufirma, er hat nicht viele Romane gelesen. Ich bin über die Schule zum Lesen gekommen, besuchte dann auch die berühmte Stadtbücherei, und irgendwann war es selbstverständlich. Meine Mutter hat das manchmal fast mit Sorge betrachtet, dass der Junge das Lesen nicht mit dem Leben verwechselt. Lesen war jedenfalls immer mein Liebstes, und heute muss ich von Berufs wegen viel lesen. Was aber bis heute geblieben ist, ist die Hoffnung, schlage ich ein neues Buch auf: Jetzt kommt etwas Großartiges! Etwas, was ich noch nie gelesen habe! Wenn dieses Gefühl, diese Neugier mal nicht mehr da ist, dann ist etwas nicht intakt. Wenn das Lesen zur Mühe wird...


Müller-Gödecke, Cornelie: Plädoyer für Bücher

  Bücher sind nicht nur Regelfüller, die man anderen zeigt um seine Belesenheit herauszukehren oder Ratgeber, die man zur Hand nimmt, wenn Vitaminmangel, Liebesentzug oder Mottenbefall drohen. Bücher sind Begleiter, Bücher sind unersetzlich, Bücher bewahren die Lebensäußerungen von Menschen, Bücher geben die Sicherheit, dass nicht nur der Moment existiert, Bücher riechen gut. Ohne Bücher bin ich arm, ohne Bücher hätte ich wenig Orientierung, ohne Bücher wäre mein Leben so kleinklein wie das der RTL-Kunden, aber dank Henry Miller, Vladimir Nabokov, Bruno Schulz, Johann Wolfgang Goethe, Simone de Beauvoir, Adam Zagajewski... Bücher halten fest, daß die Zeit vergeht, Geist aber existiert, es ist gut, wenn man Bücher um sich hat, auf die man zurückgreifen kann, in denen man sich verblättern kann ich grase regelmäßig das Moderne Antiquariat ab, um Bücher zu finden, die ich, wenn ich sie jetzt nicht kaufe, nie mehr bekomme; ich kaufe mir russische Poesie- Gesamtausgaben, auch wenn ich nie so gut Russisch werde lesen können, aber es ist gut, Anna Akhmatova oder Alexander Blok um mich zu haben. Ohne Bücher ist das Leben arm, der Geist kalt und das Herz ein Stein.


Mulot, Sibylle: In einer Geschichte

  Komisch, die Vorstellung, daß man selbst Gegenstand einer Erzählung wird! Aber so, wie man im Sommer nicht verhindern kann, daß man auf all die Diapositive der Touristen kommt, die die Innenstadt fotografieren, so kann man auch nicht verhindern, daß man in einer Geschichte herumgereicht wird, die andere erzählen. Würde man sie zufällig mitanhören, man würde vor Kälte erschauern. (Sibylle Mulot: Liebeserklärungen, S. 146)


Mulot, Sibylle: Unmöglicher Vorschlag

  "Nachmittags habe ich manchmal so leere Stunden. Antonia ist in der Boutique, die Kinder sind bei meiner Mutter. Was könnte ich dann tun?" "Warum gehst du nicht in die Bibliothek? Venedig muß herrliche Bibliothekn haben, die Biblioteca Marciana zum Beispiel..." Giovanni lächelte schmerzlich wie über einen mißlungenen Witz. "Na hör mal... Ein erwachsener Mann kann doch nicht in die Bibliothek gehen. Was würden die Studenten dazu sagen..." (Sibylle Mulot: Einen Mann für sich allein, S. 152)


Murakami, Haruki: Bücher riechen

  Mitunter hielt ich mir ein Buch, das ich viele Male gelesen hatte, ans Gesicht und sog seinen Geruch mit geschlossenen Augen tief in mich ein. Schon der Duft eines Buches und die Berührung seiner Seiten konnten mich glücklich machen. (Haruki Murakami: Naokos Lächeln)


Muth, Ludwig: Eine zweite Familie

  Die Gewissheit, den Realitätszwängen entfliehen zu können, war und ist heute noch ein starkes Motiv, sich einem Buch zu widmen und es zu kaufen. So betrachtet ist der Buchhandel nicht nur ein Handel mit nützlichen Informationen, er ist auch ein Geschäft mit dem Glück, genauer mit Glücksverheissungen. (...) Mit dem Abstand vom Alltag verändert sich auch das Zeitgefühl. Lesen als "Zeitvertreib" ist durchaus nicht abwertend im Sinne eines billigen Eskapismus zu verstehen. Vertrieben wird nur die äusserlich gemessene Uhrzeit, die das alltägliche Leben skandiert, umgeschaltet wird auf die innere Zeit, die ihren Takt vom gelesenen und erlebten Text empfängt. Dieses Umschalten von einer Zeitdimension in eine andere ist geradezu ein Indiz für das Auftreten von Leseglück, wie in vielen autobiographischen Dokumenten bezeugt ist. Es zeigt an, dass der Übertritt in eine andere Welt gelungen, dass eine zeitweilige Verwandlung vor sich gegangen ist. Im Zustand der Glückserfahrung ist der Leser in einer gewissen Weise ausser sich. Beengende Ich-Grenzen sind gesprengt. Je mehr er sich mit seinem Text identifiziert, desto mehr nimmt er an neuen, fremden Erfahrungen und Erkenntnissen teil. Psychologen sprechen davon, dass der hingebungsvolle Leser eine zweite Familie erwirbt, mit der er in Dialog treten kann.


Muth, Ludwig: Leseglück und Spannung

  Fiktionale Literatur bezieht ihre Spannung aus dramatischen Konflikten, die sie den Leser nachspüren lässt und die nicht immer ein versöhnliches happy end finden. Vielleicht braucht Literatur geradezu die Darstellung von Kampf und Streit, um das Interesse des Lesers zu gewinnen. "Das Glück ist kein guter Stoff für Dichter", sagt Robert Walser im Gespräch mit Carl Seelig, "es ist zu selbstgenügsam. Es braucht keinen Kommentar. Es kann in sich selbst zusammengerollt schlafen wie ein Igel. Dagegen das Leid, die Tragödie und die Komödie: Sie stecken voll von Explosionskräften." (...) Besteht Leseglück nicht manchmal im atemlosen Miterleben eines unseligen Schicksals, das zum Glück nicht unser Schicksal ist?


Muth, Ludwig: Leseentwicklungen

  Es liegt auf der Hand, dass der Leser, der mit Genuss lesen will, dem Text gewachsen sein muss. Ist der Text für ihn zu anspruchsvoll, wird er sich überfordert fühlen. Unterschreitet er sein Niveau, wird er sich langweilen. Zwischen beiden Extremen muss sich eine Balance herstellen, die aber nicht statisch ist, sondern dynamisch. In dem Masse, in dem die Lesefähigkeit sich entwickelt, werden schwierigere Texte "begehbar", werden leichtere Texte uninteressant. (...) Wird sich der literarische Geschmackssinn von der Jugend zum Erwachsensein weiterentwickeln, dann steigen die Ansprüche an das Buch, Leseglück setzt ein immer höheres Leseniveau voraus. Natürlich gibt es in der biographischen Entwicklung auch Rückbildungen, auch Abstürze. Umfragen unter älteren Menschen haben gezeigt, dass die Leseträume der Kindheit oft Erinnerungen an ein verlorenes Paradies sind. Aus welchen Gründen auch immer haben Menschen im Laufe ihres Lebens verlernt, was Kindern fast naturwüchsig geschenkt ist: das phantasievolle Spiel mit Geschichten, die Imaginationskraft, die Fähigkeit, sich ganz in ein Buch hineinzuversetzen. Sie sind aus der Übung gekommen, das Feedback ist nachhaltig gestört worden.


Muth, Ludwig: Zirkulation von Büchern

  Die Zirkulation der Bücher ist eine völlig unbekannte Grösse. Man ahnt nur, dass die Zahl der Leser und Nutzer am Ende eines Buchlebens um ein Vielfaches grösser ist als die Zahl der Drucke, die von einem Titel über die Ladentheke gegangen ist. Aufs Ganze gesehen rangiert die private Ausleihe vor der öffentlichen Ausleihe. Dieser Sachverhalt ordnet sich der Beobachtung zu, dass das Gespräch untereinander die wichtigste Lektüreanregung ist. «Lies das doch einmal» - das ist ein handfester Beleg für gute Leseerfahrung, und mehr als das, es kann auch ein Zeugnis vertrauensvoller Zuwendung sein. Man teilt einem anderen etwas von dem mit, was einem selbst wichtig ist, und gibt darin etwas von den eigenen Gedanken und Gefühlen preis. (...) Wer ein Buch verleiht, erwartet, wenn auch meist unausgesprochen, eine bestätigende Antwort, er freut sich auf den Austausch der Leseerfahrungen, er hofft auf ein weiterführendes, vertiefendes Gespräch. So entsteht literarische Geselligkeit, die dem Leseklima in einer Gesellschaft wichtige Impulse gibt. Was, von aussen betrachtet, ein Hingeben und Annehmen ist, das ist, von innen betrachtet, ein sensibler Kommunikationsvorgang, der gelingen und misslingen kann, der befriedigt oder enttäuscht. Er ist ein Stück unserer sozialen Kultur.


Muth, Ludwig: Lesetechnische Voraussetzungen

  Tatsächlich ist Bücherlesen, im Vergleich zum Fernsehen etwa, eine widerständige Tätigkeit. Gedanken müssen zu Ende gebracht, Schicksale in der Phantasie mitgespielt werden. Durchhaltevermögen wird ebenso verlangt wie Konzentration und Fähigkeit zur Distanz. Schon die bloße Technik des flüssigen Lesens erfordert Energie. Der österreichische Soziologe Ernst Gehmacher hat das in einem Stundenmaß ausgedrückt: Buchleser im anspruchsvollen Sinne ist nur, wer etwa 250 Wörter pro Minute oder 30 Normalseiten in der Stunde in sich aufnehmen kann. Es gibt aber viele Zeitgenossen unter uns, die höchstens 80 Wörter pro Minute oder 10 Normalseiten pro Stunde lesen können. Ihnen bleibt die Literatur schon durch mangelnde lesetechnische Voraussetzung verschlossen. Es sind viele innere und äußere Widerstände zu überwunden, um schließlich an das "Stromerlebnis" des Lesens heranzukommen. Das Glück, das sich dann einstellt, ist das Gefühl der Bestätigung: Ich habe die Kraft, Schwierigkeiten zu überwinden. Ich habe die Kraft zu mir selbst. "Lesen ist erfahrene Selbstbestimmung' Darum sind Bücher, wie Friedrich der Große sagt, ein nicht geringer Teil des Glücks. (Ludwig Muth: "Bücher sind kein geringer Teil des Glücks...)


Muth, Ludwig: Apostel Paulus

  Die Geschichte des Buches in der Kirche, die Geschichte seiner Autoren und Leser ist in mancher Hinsicht eine Leidensgeschichte. Der Grundkonflikt ist schon in der Gestalt des Völkerapostels vorgeprägt. Im zweiten Thessalonicherbrief tritt Paulus uns als leidenschaftlicher Buchliebhaber vor Augen. In der Einsamkeit der römischen Gefangenschaft beherrschte ihn eine große Bitte: "Den Mantel, den ich in Troas bei Karpus gelassen habe, bring mit, wenn du kommst, auch die Bücher, vor allem die Pergamente." Es war wohl in der Antike nicht die Regel, daß ein Wanderprediger eine Bibliothek mit sich herumschleppte. Wenn er sogar Schriftrollen auf kostbarem und teurem Pergament dabei hatte, muß es sich um einen Buchliebhaber ungewöhnlichen Grades gehandelt haben. Ob Paulus nun den zitierten Wunsch selbst geäußert hat oder ob er ihm, wie manche Exegeten meinen, von einem späteren Redaktor in den Mund gelegt wurde - man konnte sich jedenfalls den Völkerapostel nicht anders vorstellen als einen Mann des Buches. Um so widersprüchlicher erscheint es uns, daß auch die erste Bücherverbrennung der Kirche auf sein Konto geht. Vor seinen Augen, auf seine Veranlassung, mindestens aber mit seiner Duldung ließen die Gläubigen von Ephesus Schriften im Wert von 50.000 Silberdrachmen in Flammen aufgehen. (Ludwig Muth: Was fängt die Kirche mit dem Leser an?)


Muth, Ludwig: Fliegenden Buchstaben

  Die jüdische Überlieferung berichtet von einem frommen Rabbi, den die Römer wegen seiner Schriftverehrung in eine Papyrusrolle einwickelten und wie eine Fackel in Brand setzten. Den Sterbenden fragten seine Schüler: "Meister, was siehst du?" Seine Antwort: "Das Papier brennt, die Buchstaben fliegen in die Luft." Ein bewegendes Bild für die Unzerstörbarkeit der Bücher. (Ludwig Muth: Was fängt die Kirche mit dem Leser an?)


Muth, Ludwig: Konziliares Vergessen

  Dem besorgten Betrachter schien es, als wolle das Zweite Vatikanische Konzil dem Buch einen neuen Rang in der Kirche geben. Feierlich wurde es an jedem Sitzungstag inthronisiert. Doch welch ein Widerspruch: Im Dekret über die modernen Massenmedien kommt das ureigenste Medium der Kirche, das Buch, nicht mit einem einzigen Satz vor. Der Autor fragte nach dem Abschluß des Konzils einen Konzilsvater, wie es denn zu dieser Auslassung habe kommen können. Erst die Frage machte ihn auf die Lücke aufmerksam. Seine Antwort war: "Wir haben es vergessen." Die Weltkirche - 2.132 Bischöfe haben das Dekret angenommen - hat das Buch vergessen. (Ludwig Muth: Was fängt die Kirche mit dem Leser an?)


Muth, Ludwig: Konfessionelle Unterschiede?

  Die Kirche der Reformation hat von der ersten Stunde an das Lesen als einen Heilsweg begriffen und gefördert. Gerade deswegen begegnete die Kirche der Gegenreformation dem Leser mit Mißtrauen. Sie glaubte, ihn mit Index und Zensur bei der Stange halten zu können. So entstand ein konfessionell unterschiedliches Buchklima. Wurzelt hier das eigenartige Phänomen des katholischen Leserdefizits, dem man bis heute in allen Umfragen begegnet? (Ludwig Muth: Was fängt die Kirche mit dem Leser an?)


Muth, Ludwig: Eine Lebensmacht

  "Ich schlug an einem Weihnachtsabend in Potsdam die Heilige Schrift auf - ich hatte sie mir als Knabe in Luthers Übersetzung gekauft - und floh nach wenigen Kapiteln auf die kalte dunkle Straße. Denn es war ja klar: unter diesem Anspruch der Wahrheit kehrt sie das Leben um. Dieses Buch kann man nicht lesen, wie man auch die Exertitien des heiligen Ignatius nicht lesen kann. Man kann es nur tun. Es ist kein Buch. Es ist Lebensmacht." (Ludwig Muth: Was fängt die Kirche mit dem Leser an?)


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