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Bibliomanische FAB / [K2]
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Meine Mutter war eine leidenschaftliche, aber auch wilde Leserin.
Sie hatte keine höhere Schulbildung, trug jedoch an Büchern
nachhause, was sie kriegen konnte. Wir lasen kreuz und quer
Romane jeder Couleur. Ich weiß noch, Koeppen kam aus der
Arbeitstasche meines Onkels Karl. Der war Elektriker und bekam
vom Pförtner einer Druckerei, in der er oft zu tun hatte,
Fehldrucke zugesteckt. Dieser Onkel, der um das Lesefieber bei
uns wusste, stemmte seine Tasche immer auf den Küchentisch und
sagte: "Schaut mal, ob für Euch was dabei ist". Für mich war eben
Koeppen dabei. In der Lektüre hat er mich zu Anfang vollkommen
überfordert. Schon die ersten Seiten waren gespickt mit
griechischer Mythologie, dieser Bildungshorizont ließ sich
zunächst nicht ausmessen. Aber ich wusste, ich muss darüber
weglesen, um zu den schlüpfrigen Stellen zu kommen, auf die ich
insgeheim wartete.
Der Kanon (...) - in seinem Kern ist er etwas
weit Ärgeres, er ist eine jener ganz schlimmen Sachen,
die sicherheitshalber einen in die Irre führenden Namen
tragen. Um den literarischen Kanon zu verstehen, hilft
es, ihn mit zwei Scheuklappen zu vergleichen. Wie diese
ist er eine Vorrichtung, die zum Tunnelblick führt und
ein gleichmäßiges Dahintrotten befördert. Die
Scheuklappen machen das Pferd zur Mähre. Der Kanon
verwandelt das Abschweifen, das spielerische Verharren,
die Bocksprünge unserer Lektürewahl in einen zwanghaft
steten Prozess. Der Kanon ist eine selbstgewählte Fron,
die man von Buch zu Buch schreitend hinter sich bringt.
Warum nur sehnen wir Leser uns nach so etwas? Oder
besser gefragt: Was muss unserem Lesevermögen, unserer
Leserschaft zugestoßen sein, dass wir nach einer
Erlösung durch Scheuklappen verlangen? Warum laufen wir
Gefahr, dieser dogmatischen Versuchung nachzugeben?
Haben wir nicht von unseren ersten Lesetagen an geahnt,
dass es unendlich viele Bücher gibt? Und schien uns
diese Unermesslichkeit nicht lange Zeit ein Glück? War
uns das närrische Nebeneinander von großartigen und
miserablen Werken, wie es jede Buchhandlung darbietet,
lange Zeit nicht gerade recht? Wie ist aus dem
Entzücken über den wunderbar-wüsten Überfluss die Klage
über ein Zuviel geworden? Unsere Sehnsucht nach dem
Kanon zeugt auf verräterische Weise davon, dass auch
unser Lesevermögen einem Alterungsprozess unterworfen
ist. Noch wollen wir lesen, aber das Gelesen-Haben-
Wollen greift langsam um sich. Und irgendwann droht uns
die Fülle der Literatur vom Objekt der Begierde zum
Quell einer Angst zu werden. Vielleicht ist es eine
Todesangst. Die Angst vor dem Tod unserer Fantasie. Die
Poesie ist ewig, aber unsere Phantasie kann kränkeln,
ja sterbenskrank werden. Ach, jedem wahren Leser, jeder
wahren Leserin sollte erspart bleiben, aus einem
solchen Siechtum der Fantasie in einen Tod zu Lebzeiten
- in den Kanon! - flüchten zu müssen.
Die Bücher, die ich Ihnen zu verbrennen rate, fallen ja
keinem Gewaltregime zum Opfer und landen nicht
bündelweise auf kollektiven Scheiterhaufen. Im Gegenteil:
Jedes geht vereinzelt und gemäß Ihrer intimen Entscheidung
den Weg ins Feuer. Gewiss fällt Ihnen gleich der eine oder
andere Kandidat für diesen Flammentod ein. Das
tintenfleckige Reclam-Heftchen, schon zu Schulzeiten
ungeliebt - hat es nicht seit Jahren die Einäscherung
verdient? Der nie gelesene Irrläufer, aus dem Bücherbestand
eines verflossenen Lebensteilzeitbegleiters in Ihr Regal
geraten - muss er Sie partout weiterhin an
Liebesmissgeschick und Trennungsleid erinnern? Erlösen Sie
die beiden aus einer Existenz, die diesen Büchern vielleicht
selbst hochpeinlich ist! Und dann stehen da noch, Rücken an
Rücken, die vielen Romane, denen die erste Lektüre sogleich
jedes Mark ausgesogen hat. Leider Gottes sind die meisten
Bücher so beschaffen, dass sie den einmaligen
Zusammenstoß mit einer vitalen Leserin, mit einem starken
Leser nicht überleben. Warum sollen die Opfer dieser
Verkehrsunfälle in Ihrem Wohnzimmer ewig auf eine
Wiederbeatmung warten? Vielleicht besitzen Sie einen
Kaminofen. Oder Sie grillen gelegentlich im eigenen oder in
einem fremden Garten. Sogar auf freier, feuchter Wiese
dürfen Sie ein zentralheizungsgedörrtes Taschenbuch
abfackeln, ohne sich gleich als Barbar fühlen zu müssen.
Behalten Sie nur, was Sie zu einer erneuten Lektüre
verlocken könnte! Und selbst diese Bücher - auch die von
mir verfassten - sollten eines fernen Tages jüngeren
Schreibwerken Platz machen. Gerade die Langgeliebten
gehen dann ohne Klage. Denn wenn sie wirklich wahr und
groß und gut gewesen sind, steht ihnen sogar das Verlangen
nach Vergänglichkeit und damit die Sehnsucht nach dem
erlösenden Feuer ins papierene Herz geschrieben.
Vor dem Tod fürchtete ich mich jedoch sehr, ich fürchtete
mich so sehr, daß ich nicht einmal in den Spiegel zu
schauen wagte. So verbrachte ich Wochen in diesem
Bannkreis, bis meine Mutter mir einmal die drei Bände von
"Krieg und Frieden" brachte; sie legte sie auf das Tischchen
neben dem Kanapee und verbot mir, sie selbst zur Hand zu
nehmen, sie seien zu schwer. Ich war wirklich geschwächt,
aber als Mutter mir den ersten Band gereicht hatte, stützte
ich ihn gegen die Knie und las im Liegen. So geriet ich
allmählich in einer andere Gesellschaft. Manchmal dachte ich
daran, daß auch die Menschen, von denen ich las, schon tot
waren und auch dann hätten sterben müssen, wenn der Tod
sie auf den Buchseiten nicht ereilt hätte. Doch obwohl sie
tot waren, lebten sie. Und ich wurde mir der seltsamen
Macht der Literatur oder überhaupt der menschlichen
Phantasie bewußt: der Macht, auch die Toten leben und die
Lebenden nicht sterben zu lassen. Ich staunte über dieses
Wunder, über die magische Macht des Schriftstellers, und in
mir begann sich der Wunsch zu regen, etwas Ähnliches
schaffen zu können. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 42f.)
Vernehmt nun die Veranlassung zu dem Feste,
das ich heute mit euch feiern will. Faust, ein
kühner Sterblicher, der gleich uns mit dem
Ewigen hadert, und durch die Kraft seines
Geistes würdig werden kann, die Hölle einst mit
uns zu bewohnen, hat die Kunst erfunden, die
Bücher, das gefährliche Spielzeug der Menschen,
die Fortpflanzer des Wahnsinns, der lrrtümer, der
Lügen und Greuel, die Quelle des Stolzes, und die
Mutter peinlicher Zweifel, auf eine leichte Art tausend
und tausendmal zu vervielfältigen. Bisher waren sie zu
kostbar, und nur in den Händen der Reichen, blähten nur
diese mit Wahn auf, und zogen sie von der Einfalt und
Demut ab, die der Ewige zu ihrem Glück in ihr Herz
gelegt hat, und die er von ihnen fordert. Triumph! bald
wird sich das gefährliche Gift des Wissens und
Forschens allen Ständen mitteilen! Wahnwitz, Zweifel,
Unruhe und neue Bedürfnisse werden sich ausbreiten, und
ich zweifle, ob mein ungeheures Reich sie alle fassen
möge, die sich durch dieses reizende Gift hinrichten
werden. (Friedrich Maximilian Klinger: Faust's Leben,
Thaten und Höllenfahrt)
Orange County behandelt die Vergangenheit so
mißtrauisch wie die Ausländer und die Fremdsprachen,
und ebenso sorgfältig pflegt es sein knowhow in Sachen
Elektronik und Sport. Die Leute sind weder dumm noch
uninformiert, man liest, aber keine Bücher, sondern
Zeitungen und Zeitschriften, Wegwerfbares. Und wenn
Bücher, dann die billigen Paperbacks, die es in den
Supermärkten gibt. Auch diese wegwerfbar. In den
Wohnungen und Häusern sieht man selten ein volles
Bücherregal. Meist stehen ein paar Bücher neben Vasen
und Nippessachen. Eine Privatbibliothek kommt den
Kaliforniern wie ein Antiquariat vor. Und den
Südkaliforniern, die Antiquariate kaum kennen, wie eine
unhygienische Ansammlung von Altpapier. (Ruth Klüger:
Weiter leben)
Bücher, das ist für mich nicht das bedrucktes Papier.
Sie sind Landkarten menschlicher Erfahrung. Für mich
selbst sind Bücher die Verbindung zu Autoren, zu deren
Texten ich Vertrauen habe (...) Das ist wie ein zweites
Gemeinwesen. In einer Zeit, in der wir nicht wissen,
wie rißfest die Wirklichkeiten sind, sind Netzwerke
über 2000 Jahre, wie sie die Bücher darstellen, kein
Luxus, kein Freizeitbedarf, sondern notwendiges
Überlebensmittel. Es ist diese Vertrauenswürdigkeit,
wegen der ich die Bücher allen anderen Medien vorziehe.
(...) Einen Leser stelle ich mir bildlich in der
Dämmerung unter einer Lampe sitzend vor, allein lesend.
Zwei Intimitäten, die des Autors, die des Lesers,
korrespondieren miteinander. Ihr Thema heißt:
gemeinsame Erfahrung. So bilden sie (mit vielen
anderen) die Öffentlichkeit der Bücher: Ich bin allein,
aber ich bin nicht wirklich allein.
Bücher sind weder Schonkost, noch sind sie Trostmittel.
Aber ihr Netzwerk tröstet. Vor seinem Tod kaufte Heiner
Müller, seine erste Operation hatte er hinter sich, ich
bin sicher, daß er wußte, daß er nicht mehr lange leben
wird, in Kalifornien ein seltsames Buch: eine
Übersetzung von Ovids Metamorphosen aus dem
Lateinischen übersetzt in englische Blankverse, etwa
300 Jahre alt. Dieses Buch führte er zuletzt immer mit
sich und eigentlich sollte eine Serie von
Theaterstücken aus dieser Wurzel entstehen. Solche
Bündnisse über die Zeiten bilden die Mehrheit, an die
in unserer zweiten "Welt der Nacherzählung" ich innig
glaube, weshalb ich Bücher für eine Gottesgabe halte
und für die Schlüssel zu einer Öffentlichkeit, an der
wir, möglicherweise ohne es zu wissen, längst
gemeinsam arbeiten.
Zu welchem eigentlichen Zweck werden die
Bücherinstitute aus einer anderen Zeit
weiterbetrieben? "Bibliotheken sind das Gedächtnis
der Menschheit", hat Leibniz gesagt. Bibliotheken
sichern das Material für den Prozess unserer
kulturellen Selbstverständigung. Eine
Gesellschaft, die über die Grundlagen ihres
Zusammenlebens immer wieder einen Konsens
herstellen muss, braucht ein funktionierendes
Reservoir der geistigen Überlieferung. Die Bücher
in der Bibliothek – Inhalt, äußere Gestalt und
Schicksal zusammengenommen – repräsentieren die
wirkungsmächtigen Hauptstrecken der Tradition,
aber auch ihre vergessenen Irr- und Umwege, also
die kanonisierten und ausgegrenzten Linien
gleichermaßen. Jede alte Bibliothek bewahrt etwas
auf, was in keiner anderen zu finden ist. Je
weiter man in die Geschichte zurückgeht, umso
unähnlicher werden die Bibliotheken in ihren
Beständen. Deshalb ist jede Bibliothek mit
historischen Beständen von Wichtigkeit für das
kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Jede
Epoche aktiviert sie in neuer Weise.
(Michael Knoche)
Ich denke ja immer noch, dass ich nur ein gutes Buch
schreiben kann, wenn ich massiv auf
Gedankenstromtechnik zurückgreife. Wortwitz ist,
zusammen mit Sprachrhythmus, bei dieser Technik
wichtiger als alles andere. Der Leser muss in den Strom
hineingezogen werden, muss reinkommen in das eigene
Denken, muss das Gefühl bekommen, dass er vorausahnen
kann, was vom Autor vorgedacht wurde, wird dann aber
wieder durch einen unerwarteten Kommentar überrascht
und somit noch stärker an den Strom gebunden, der für
den Leser als Leitfaden durch das Denken des Autors
dient. Die Handlung ist dabei irrelevant und bildet
lediglich den Rahmen in dem die Sichtweise des Autors
offenbart wird.
[x]
Ein Autor hat es ja immer leicht. Veröffentlicht er
erstmal sein Werk, so wird die Hauptarbeit, nämlich die
Auslegung des Textes, von Horden von
Literaturrezensenten übernommen. Sie übertragen den
Text auf die heutige Zeit, den Nationalsozialismus oder
nach Tibet. Und in jedem Stück Text kann man
tagesaktuelle, geschichts- und gesellschaftskritische
Stellen entdecken, wenn man nur lange genug danach
sucht. Auch wenn sie gar nicht da sind. Der Leser
akzeptiert eine der Interpretationen, vornehmlich die,
die am besten auf sein Leben passt, und ist vom Werk
hellauf begeistert.
(©
Michael Koch)
Weil das Neue in der Literatur unter avantgardistischem
Generalverdacht steht, man aber trotzdem nicht darauf
verzichten zu können glaubt, hat sich die Kritik in
Ermangelung präziser poetologischer Kriterien
angewöhnt, von einem "ganz neuen Ton" zu sprechen. Das
"Neue" muss offenbar immer neu konstatiert werden.
Nachdem die Postmoderne die unbekümmerte Wiederkehr
schöner Gestrigkeit und die sogenannte Popliteratur uns
eine neue Spielart des Jugendbuchs beschert haben, ist
das Neue der ästhetischen Form allein vielleicht nicht
mehr zuzumuten. Musil sprach davon, dass die Literatur
die Konkurrenz der aktuellen wissenschaftlichen Systeme
nicht nur aushalten, sondern überbieten müsse. Diese
Forderung liesse sich heute leicht übertragen auf die
neuen Medien oder die neuen Technologien. Dann müsste
die Literatur den technologischen Vorsprung mit ihren
Mitteln zu überflügeln versuchen. Es leuchtet sofort
ein, dass sie dabei schnell den Kürzeren zöge. Vielmehr
scheint, auch wer die Nanotechnik zum Sujet seines
Schreibens wählt, nicht umhinzukönnen, sich auf das zu
besinnen, was die Literatur immer schon besser konnte
als alle Medien zusammengenommen: die Konventionen der
Weltbetrachtung im Kopf auseinander zu nehmen und im
Kosmos der Buchstaben wieder zusammenzusetzen. Auch das
ist die wiederkehrende Dauer des Neuen. (Andrea Köhler)
Außerdem stand da noch der geliebte Lesesessel mit
verstellbarer Rückenlehne und ausziehbarem Fußteil: eine
durchdachte Konstruktion, die selbst eine ausgiebige Siesta
ohne Bandscheibenvorfall ermöglichte. (Gerhard Köpf: Ein
alter Herr, S. 41)
Da begann der alte Herr zu zweifeln. Er zweifelte mit jener
bohrenden Gründlichkeit an sich, mit der er früher seine
wissenschaftlichen Arbeiten verfaßt hatte. Obgleich er
leidenschaftlich gerne las, hatte er sich vorgenommen, solche
Lektüre zu meiden, die seine Resignation nur beförderte,
anstatt sie zu mildern. Aber er konnte so wenig vom Lesen
lassen wie vom Rauchen. Mitunter fand er sich jedoch vor
seinen Regalen ohne zu wissen, was er eigentlich suchte.
Schritt er seine Bücherwände ab, oder waren es die
Heldengräber seiner geistigen Emigrationsarmee? Nach und
nach zweifelte er an den Möglichkeiten seines Glücks, und alle
Entwürfe des Lebensabends schienen bereits widerlegt.
(Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 14)
Ich habe nie verstanden, warum die Literaten ein derartiges
Getöse um die Angelegenheit von alten Knackern und jungen
Dingern machen. Wir Mediziner sind da ungleich nüchterner,
wenngleich ich mir die Liste Deiner Belege durchaus vorstellen
kann. Du wirst mir von Chaucer bis Svevo, von Philipp Roth bis
Garcia Marquenz, von Cervantes bis Martin Walser auf Anhieb
alle jene Belegstellen zu den fragwürdigen 'Herrenreitern in
Not' aufzählen können, die sich um einen letztlich lächerlichen
Sachverhalt drehen, der nicht umsonst als Topos in die
Geschichte der menschlichen Komödie eingegangen ist.
Komm mir jetzt bitte nicht mit Goethe und Ulrike von Levetzow,
sondern denk lieber an das schreckliche Ende von Humbert
Humbert und Lolita. Lieber Freund, Du kennst doch Deinen
Cicero. Und was ruft er Dir zu? 'Otium cum dignitate' Halte
Dich daran, dann bleiben Dir Peinlichkeiten ebenso erspart wie
unnötiger hormoneller Kummer. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr,
S. 84)
Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim,
gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein
Liebhaber, unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren
wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre
Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich
breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was
gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß
ich wie trunken. Das Alphabet trug mich fort. (Wolfgang
Koeppen: Jugend, S. 130)
"Der Zwang zu schreiben quält mich entsetzlich. Den
Rat, den ich einem jungen Mann geben würde, der
Schriftsteller werden möchte: Er sollte sich nicht,
oder erst spät, möglichst spät, in die furchtbare
Sklaverei begeben, vom Schreiben leben zu müssen. Zu
empfehlen wäre ein Familienvermögen, wie Proust es
besaß. Wer unglücklicherweise sein Brot verdienen muß,
sollte keinen halbliterarischen Beruf wählen, nicht
Redakteur, Dramatiker, Lektor werden, eher
Börsenmakler, Bankangestellter oder Portier in einem
Bordell, nichts, was an den Kräften zehrt. Wenn ich
aber schreibe, freut es mich. Ich bin manchmal sogar
zufrieden mit dem, was ich schreibe, und dann wieder
bin ich überzeugt, eine Tätigkeit auszuüben, die
vollkommen sinnlos ist, eine Tätigkeit, die versucht,
Sinnloses zu gestalten, was wiederum ganz sinnlos ist."
(Martin Lüdke: Tasso oder die Disproportion. Wolfgang
Koeppens wahres opus magnum)
Ich lernte neu lesen, mit einer längst vergessenene
Hingabe an jeden Satz, an jedes Adjektiv; ich lernte
neu lesen, so wie einer nach langer Bettlägerigkeit
neu gehen lernt und beglückt die Spannung seiner
Muskeln und Sehnen erlebt. Ich glaube, die Römer
mußten so gelesen haben, als die Bücher noch auf
langen Rollen handschriftlich vervielfältigt wurden:
andachtsvoll, Satz um Satz, jeden Tag nur einige Zoll
von der Rolle, um den Rest für morgen zu sparen. Die
Autoren damals wußten, wie sorgfältig man sie las
und vertrauten ihren Lesern. Heute mißtrauen alle
Autoren ihrem Publikum. (Arthur Koestler:
Autobiographische Schriften. Abschaum der Erde)
Literatur erhält mich am Leben, sie tröstet, ermuntert,
belebt, sie unterhält mich, regt zum Hinterfragen ein,
läßt mich zustimmen oder widersprechen. Sie ist immer
und überall verfügbar. Nichts einfacher, als ein Buch
mit sich herumzutragen und hineinzuschauen. Literatur
ist also Lebensquell für mich. Mit Büchern wird die
Welt zwar nicht besser, als sie momentan ist, aber man
kann wenigstens mit anderen Misanthropen ein gepflegtes
Leiden an dieser Welt kultivieren oder aber Anlaß
finden, ihm etwas entgegenzusetzen. Man ist, wenn man
Bücher hat und liest, nie allein, weder in seinem
Optimismus noch in seinem Pessimismus. Der Einwand,
Literatur verleite doch auch zum Eskapismus, ist
zweifellos richtig. Wenn ich aber schon flüchte, dann
in die richtige und die schönste aller Richtungen.
Bücher lesen und verschlingen
will mir immer nicht gelingen
Entweder die Arbeit oder tausend Pflichten
die meine Leselust vernichten
Oder es fallen einem die Lider
nach der erste Seiter nieder.
Und man sinkt mit wohligen Schauer
In seligen Schlaf von einiger Dauer
Erwacht am Morgen mit dem Gedanken
vergeblichen Lesens und vieler Schranken.
Und faßt den Vorsatz; entgegen dem Fluch
liest du heute Abend zu Ende das Buch.
Bücher ausleihen, das ist wie zu einer Nutte gehen. Ein
Dienst, den man beansprucht, durch den man Lust
erfährt, der einem aber zu nichts verpflichtet, wo die
Ware einem wieder entschwindet. Bücher ausleihen ist
für mich eine haarsträubende Unverbindlichkeit. Bücher
MUSS man besitzen, mit ihnen ist man verheiratet.
Allerdings gleicht die Ehe mehr einem Harem. Die
private, häusliche Bibliothek ist mein Harem.
Zum Glück hab ich mir eine super Strategie
ausgeknobelt, wie ich Katja kriegen kann: Ich werde ihr
anonym ein paar Liebesgedichte zustecken, und wenn die
Liebesreime ihren Hormonzyklus durchgekurbelt haben,
oute ich mich vor ihr: "Die sind von mir, Catty-Baby.
Und jetzt bin ich dein persönlicher Johann Wolfgang!"
(Jaromir Konecny: Doktorspiele, S. 28)
Der Fritz gab uns gleich am Anfang der Deutschstunde
eine lange Leseliste. Schlimmer als die Einkaufszettel
meiner Mutter! Das sollten wir in den Ferien alles
lesen? Alle Autoren auf der Liste waren schon irre lang
tot. Darf man überhaupt ein Buch von so 'nem Typ
aufschlagen? Ist das nicht Grabschändung? "Was kannst
du mit sechszehn groß lesen?", sagte Harry. "Vor lauter
Wichsen kommst du doch zu gar nichts." (Jaromir
Konecny: Doktorspiele, S. 72)
Vater kam herein, blätterte in einem Buch. "Die
Verwandlung von Franz Kafka!", sagte er. "Die
Titelauflage. Hab gar nicht gewußt, daß ich das habe.
Ein Sammler würde dafür sicher ein paar Tausend Euro
zahlen!" "Dann finde den!", sagte Mutter: "Wir schulden
dem Finanzamt ein paar Tausend Euro. Ich weiß nicht, wo
ich das Geld auftreiben soll. Wenn du nicht bald etwas
verdienst, müssen wir das Haus aufgeben. Langsam habe
ich das Gefühl, daß ich mehr Steuer zahle, als ich Geld
verdiene. Gestern hab ich beim Finanzamt angerufen und
den Beamten dort angebettelt, ob ich die Vorsteuer erst
im September zahlen könnte, und da sagt mir der Typ,
wenn wir bis Ende des Monats nicht zahlen würden, müsse
er Maßnahmen ergreifen. Ja, wo sind wir denn? Ein
junger Bursche kann jetzt Maßnahmen ergreifen und eine
ganze Familie in den Ruin treiben! Bald kriege ich von
denen Bescheid über das vorletzte Jahr. Verkauf ein
paar von deinen Büchern, bevor wir beim Sozialamt
landen!" Klar würde Vater sich nie von einem seiner
Bücher trennen. "Ich bin kein Händler mit alten
Büchern", brummte er verlegen. "Ich kenne keine
Sammler!" Er versuchte, der Mutter einen Guten-Morgen-
Kuß auf die Backe zu geben, aber sie zuckte weg. Jede
Berührung von meinem Vater versetzte Mutter in Panik.
Vater hat's wohl immer noch nicht gecheckt. So was von
unsensibel! Sex hatten die sicher keinen mehr. Nach
vierzig hockst du als Mann wohl wieder in der
Wichsfalle. (...) Gleich lief er an mir vorbei in den
Keller. Zehn Minuten später schleppte er einen
Bananenkiste mit alten Büchern in sein Zimmer. Er würde
jetzt uralte Schinken streicheln und sie verliebt
angucken. Typischer Fall von Realitätsverlust. Mir war
endgültig klar, daß du als Lusche und Bücherwurm ohne
Kohle bei den Frauen keine Chance hast. (Jaromir
Konecny: Doktorspiele, S. 77/78)
"Den seltsamsten Beruf", berichtet er, "hat der
ostjüdische Batlen, ein Spaßmacher, ein Narr, ein
Philosoph, ein Geschichtenerzähler. In jeder kleinen
Stadt lebt mindestens ein Batlen. Er erheitert die
Gäste bei Hochzeiten und Kindstaufen, er schläft im
Bethaus, ersinnt Geschichten, hört zu, wenn die Männer
disputieren, und zerbricht sich den Kopf über unnütze
Dinge. Man nimmt ihn nicht ernst. Er aber ist der
ernsteste aller Menschen... Seine Geschichten würden
wahrscheinlich in Europa Aufsehen erregen, wenn sie
gedruckt würden. Viele behandeln Themen, die man aus
der jiddischen und aus der russischen Literatur kennt."
Damit wird angedeutet, daß diese Geschichten offenbar
nicht so spontan und neu geschaffen wurden, wie es Roth
darstellt. Dies nur in Parenthese, als Rückverweis auf
das, was ich über die südslawischen Barden gesagt habe.
(Hans-Joachim Koppitz: Gedrucktes Buch - gesprochenes
Wort)
Die Gewohnheit, ein Buch still für sich in seinem
Zimmer zu lesen, blieb daher lange unbekannt. Noch bis
ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, innerhalb der
Familie gewöhnlich vorzulesen. Es ist häufig bezeugt,
daß zum Beispiel in England zur Zeit der Königin
Victoria ein Familienmitglied als Vorleser fungierte
oder daß man das Buch von einer Stimme zur anderen
wandern ließ. Ein großer Teil, selbst der neueren
Literatur, war nicht für die private Lektüre gedacht,
sondern ausgerichtet auf Rezitation, auf die Mimesis
der gehobenen Stimme und die Antwort des lauschenden
Ohres, wie es George Steiner einmal ausgedrückt hat.
Lesen und Vorlesen hatte damit eine heute weithin
verlorengegangen soziale Funktion, was schon angedeutet
wurde. Bedenkt man, daß in Deutschland und in den
anderen europäischen Ländern bis ins 17., 18.
Jahrhundert, bis zur Aufklärung, überwiegend religiöse
und erbauliche Literatur auf dem Buchmarkt abgeboten
wurde - im Spätmittelalter natürlich Bibeln, Auszüge
daraus, Postillen, Plenarien, Legenden, erbauliche
Chroniken und dergleichen, nach der Reformation in
noch größerem Maße natürlich Bibeln, Postillen usw. -,
so ersieht man daraus, daß Lesen, gleich weithin
Vorlesen, vielfach einen religiösen oder teilweise
religiösen, zumindest erbaulichen Charakter hatte.
Besonders trifft das später auch auf konventikelhafte
Kreise, im Pietismus etwa, und auf andere religiöse
Kreise im Protestantismus und Lesepraxis zu. Dabei war
auch der weniger Gebildete, dem das Lesen schwerfiel,
und der weniger Bemittelte, der sich kaum Bücher kaufen
konnte, einbezogen in die Gemeinschaft der im Hause
Versammelten. (Hans-Joachim Koppitz: Gedrucktes Buch -
gesprochenes Wort)
Im 18. Jahrhundert, besonders in Der zweiten Hälfte,
verbreitete sich die Kulturtechnik Lesen in einem
bisher unbekannten Ausmaß. Lesen war nicht länger eine
reine Gelehrtentätigkeit. Man las jetzt
Taschenkalender, Musenalmanache, Moralische
Wochenschriften und vor allem Romane: Schauerromane,
Ritterromane, empfindsame Romane. War dieses Übermaß an
Lesekost auch bekömmlich für die Jugend und für das
weibliche Geschlecht? Gehörte das Buch, vormals
Inventar der Klöster und Studierzimmer, wirklich in die
guten Stuben der Bürger oder gar in die freie Natur?
Die neue "Lesesucht" und "Lesewuth" wurde den Gelehrten
verdächtig; sie mußten enttäuscht feststellen, daß
Aufklärung und Beförderung der Sitten nicht die
einzigen Motive des Lesens sind. Seitdem hinken sie den
Phänomenen hinterher. Über die Lesesucht konnte man
Bücher lesen, im Fernsehen wird über die Gefahren des
Fernsehens diskutiert, und die Suchmaschine im Internet
liefert Hunderte von Ergebnissen, wenn man das
Stichwort "Internetsucht" eingibt. Die Argumente gegen
das Lesen sind nicht tot. Wie viel von ihnen
reaktionäres Vorurteil und wie viel richtige
Beobachtungen sind, ist nach wie vor schwer zu
entscheiden.
Über das Lesen nicht nur im 18. Jahrhundert erfährt man
viel in dem autobiographischen Roman Anton Reiser von
Carl Philipp Moritz. Erzählt wird die oft triste
Geschichte einer Jugend etwa zwischen 1760 und 1780.
Das Leben des Anton Reiser ist beinahe von Anfang an
ein Leben mit Büchern. Mit ihnen verbringt er seine
glücklichsten Momente, gibt sich während eines
besonders verzweifelten Abschnittes seiner Schulzeit
ganz der Lesesucht hingibt. Er ging zu einem
Antiquarius und holte sich einen Roman, eine Komödie
nach der anderen und fing nun mit einer Art von Wut an
zu lesen. – Alles Geld, was er sich vom Munde absparen
konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu
leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn
kennen lernte und ihm ohne jedesmalige Bezahlung Bücher
zum Lesen liehe, so hatte sich Reiser, ehe er es
merkte, tief in Schulden hineingelesen. Das Lesen war
ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den
Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre
Sinne in eine angenehme Betäubung bringen. Vorzüglich
lagerten Reiser und sein Freund sich am Abhang des
Steigerwalds mit Blick in das anmutsvolle Tal. Hier
saßen sie oft stundenlang und lasen sich aus
irgendeinem Dichter wechselweise vor; welches die
meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit und ein
peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber
einander nicht gestanden. Wenn man erwägt, wie viele
kleine Umstände sich ereignen müssen, um das
Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu
machen, so kann man sich denken, mit wie viel kleinen
Unannehmlichkeiten Reiser und sein Freund bei diesen
empfindsamen Szenen kämpfen mußten: wie oft der Boden
feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind
das Blatt verschlug...
Die Lektoren, die sagen: dies Buch ist langweilig ,
ahnen oft nicht, welche Stümper des Lesens sie sind.
Sie wollen nur lesen, was sie unterhält oder
anspricht. Sie gehen dem Lesen, was sie unterhält
oder anspricht. Sie gehen dem Lesen als Arbeit aus
dem Wege und wundern sich, daß sie bei aller
Belesenheit nicht vorandringen, sondern sich im
Kreise bewegen, dessen Radius gleich null ist, das
heißt also um sich selbst. (Philipp Krämer: Lob des
Lesens und der Bücher, S. 11)
Die Gefahr ist heute nicht das "Verlesen", das
Vergessen des Lebens über dem Lesen, wie es die
Gefahr des mittelalterlichen Ritters war, sich zu
"verliegen". Die Gartenlaubenromantik ist dahin,
wiewohl es Gärten und Lauben, Geißblatt und
rankende Rosen zu unsrer Beglückung genug noch
gibt, wie zur Biedermeierzeit unsrer Urgroßväter. Die
Gefahr ist heute das "Zerlesen", das flüchtige
Vielerlei, das luftige Geplätscher in allerlei seichtem
Gewässer, das Probieren und Naschen an mancherlei
Tischen, das öberflächliche "Lebenskampf - leicht
gemacht" oder das einfältige "Fünf Minuten täglich -
und nicht mehr nervös" oder das törichte "Kleine
Liebe - ganz groß" oder das prahlerische "Fremde
Sprachen - leicht gemacht". Lesen als
Schnellstanhäufung zusammenhanglosen Wissens.
Lesen als Selbsttäuschung, Sensation oder Kitzel.
Lesen als Flucht vor dem Leben, die gemildert und
verfälscht Erholung vom Leben, die gemildert und
verfälscht Erholung vom Leben genannt wird. Lesen
als künstliche Selbstübersteigerung. Lesen als
Verwechseln des großen Lebens anderer mit dem
kleinen eigenen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und
der Bücher, S. 9)
Die Leichtigkeit des Lesens hat sich im Schrifttum
eingebürgert, seitdem die allgemeine Hast und die
Zeitschriften, die diese Bewegung beschleunigen oder
anspornen, zur Herrschaft gelangt sind... Die Kunst,
mit Muße und in Abgeschiedenheit zu lesen und dabei
wohlweislich die Unterscheidungen zu treffen, eine
Kunst, die ehedem der Zähigkeit und dem Eifer des
Schriftstellers dank einer gleichwertigen Gespanntheit
und Geduld entsprach, geht verloren: sie ist verloren.
(Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S.
14)
Es ist keine Frage: Je schneller sich ein Buch liest,
um so weniger hat es Aussicht, zweimal gelesen zu
werden, um so seichter muß es sein. Je mehr Geduld
wir aufwenden müssen, um uns in ein Buch
"einzulesen", wie wir uns in Stifter und Carossa erst
einlesen müssen, desto mehr Funde und
Entdeckungen werden wir machen. Die besten Bücher
verschenken sich nicht, sie wollen erobert sein.
(Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S.
16)
Wie, so fragen wir noch einmal, wie kann ich wissen,
ob ein Buch gut oder schlecht ist, ob es für mich
etwas bedeuten kann, wenn in der öffentlichen
Meinung gewichtige Stimmen laut werden, die ebenso
das eine wie das andere behaupten? Wenn du noch
nicht so weit fortgeschritten bist in der Kunst des
Lesens - und es ist dies der höchste Stand, den du
als Leser erreichen kannst -, daß du nach wenigen
Seiten schon den Geist erkennst, der hier mit dir sein
Spiel treibt, dann versuche es einmal mit dem
Warten. Wir brauchen oft gar nicht lange zu warten,
und schon ist das Interesse an jenem wichtigen, das
"Gesicht der Zeit völlig verändernden" Werk gänzlich
erlahmt. Es ist wie weggewischt und führt in
Schaufenstern von Althändlern und auf Berliner
Straßenbücherwagen ein billiges Dasein. Es gab eine
wahre Industrie zur Erzeugung tageswichtiger Werke,
die jedoch nur leben konnte, wenn sie in der
folgenden "Saison" etwas Neues vorlegte, das
tunlichst das Heutige auf den Kopf stellen mußte. Wir
waren die Opfer. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und
der Bücher, S. 19)
Das Meer der Bücher erwartet Sie. Es ist herrlich, sich
in es hineinzustürzen. Im Alter aber steht man als
Angler in geduldigem Warten, so wie in den
Bücherbrettern die Bücher selber stehen in
geduldigem Warten, bis unsre Hände nach ihnen
greifen, den Staub abschütteln und sie öffnen, um
uns von ihnen schenken zu lassen, was wir brauchen:
Kraft durch Bücher. (Philipp Krämer: Lob des Lesens
und der Bücher, S. 36)
Um zu nüchterner Betrachtung äußerer, doch
keineswegs zu verachtender Hilfen bei arbeitendem
Lesen zu kommen, sei dies empfohlen: Der arbeitend
Lesende bediene sich eines Bleistifts. Er unterstreiche
die Worte, Sätze, Abschnitte, die ihm von besonderer
Wichtigkeit waren. Er findet sich mit ihrer Hilfe später
schnell zurecht, vielleicht gar gerät er in
verwundertes Staunen, was ihm einmal wichtig war
und worüber er hinweggelesen. Allein aus der
Bleistifttätigkeit des Lesenden ließe sich eine
Seelenbeschreibung ablesen. Und weil sich der
Lesende durch Unterstreichen auf verräterische Weise
preisgibt, darum kann er seine Bücher nicht beliebig
verleihen an andere. Erst recht nicht, wenn der
Bleistift nicht nur unterstreicht, sondern Bemerkungen
des Beifalls oder Zornes einfügt oder auch nur mit
Ruf- und Fragezeichen, mit kurz einfließenden
Hinweisen auf andere Werke mitarbeitet (Philipp
Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 24)
Nur die leichten Unterhaltungsbücher kann man
verleihen, und es sollte mehr und mehr eine
Taktfrage derer sein, die es angeht, keinen
Bücherliebhaber dadurch in Verlegenheit zu bringen,
daß man ihn um Leihüberlassung eines wichtigen
Buches angeht, wie man sich ja auch nicht einen
schönen Hut oder Gürtel oder Möbel entleiht. Bücher,
die einen zuinnerst angehen, soll man besitzen. Man
braucht sie immer wieder. Sie müssen zur Hand sein
im Augenblick ihrer Bestimmung. Zeige mir deine
Bücher, laß mich nur ein wenig darin blättern, und ich
will dir sagen, wer du bist. (Philipp Krämer: Lob des
Lesens und der Bücher, S. 25)
Man kann statt des Vorlesers nicht etwa "den
Rundfunk" anstellen. Der Rundfunk verhält sich zum
persönlichen Vorleser wie das Kino zum Theater. Weil
beide ihre eignen Gesetze und ihren eignen Sinn
haben, darum wird keines durch das andere
überflüssig, wie zum Verwechseln ähnlich sie sich
auch sehen mögen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens
und der Bücher, S. 31)
Wir müssen schließlich in einer Abhandlung fragen,
die vom Lesen und von den Büchern spricht -, ist
eigentlich durch den Rundfunk das Lesen vermindert
oder gar verdängt worden? Mitnichten! Er hat das
Lesen ebensowenig beeinträchtigt wie etwa sein
älterer Bruder, der Fernsprecher. Vielleicht sogar hat
er manchem Buch erst den Weg gebahnt. Nur das
Schreiben haben beide geschwächt. Von uns wird man
nicht so lange und zahlreiche Briefe veröffentlichen
wie von Cicero oder Schleiermacher. Wir haben andere
Wege der Mitteilung und können uns häufiger sehen
und uns sprechen. Das Tagebuch ist im Aussterben
begriffen, weil wir nicht mehr hören müssen. Liest
aber ein Dichter im Rundfunk aus seinem Werk und
hat er uns getroffen, so verlangen wir nach seinen
Büchern. Das Rundfunkwort verweht. Die Bücher
dauern in der Zeit. Darum ist der Rundfunk kein Feind
der Bücher. Beide suchen einandern, weil sie einander
bedürfen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der
Bücher, S. 33)
Das Archiv hatte, als Johanser es zum ersten Mal
durchstöberte, schlaraffische Gefühle erzeugt. Oft ließ
er sich über Nacht einsperren, um in den Schätzen zu
wühlen und die Geheimnisse des Giftschrankes zu
erkunden. Wie ein Kind kam er sich vor, das man bei
Ladenschluß in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses
vergessen hatte. Er sortierte die Autographen seiner
literarischen Lieblinge, strich weihevoll über die von
ihnen zum Wort gelenkte Tinte, ärgerte sich, wenn er
etwas nicht entziffern konnte, und grübelte über
mancher Hieroglyphe stundenlang. Urtextforschung wurde
zum beinah religiösen Erlebnis, er fühlte sich
bevorzugt unter allen Menschen und lebte in einem
Rausch, der an Glücksintesitäten die Liebe zu Kathrin
noch hinter sich ließ. Bald war Johanser ein
Handschriftenexperte geworden, der Falsifikate und
inkorrekte Zuschreibungen traumwandlerisch sicher
erkennen konnte und mit dem individuellen Strich
Hunderter fast vergessener Dichter vertraut war. Das
Archiv, ein Saal, stuckbeprunkt, Kassettendecke,
glatte, kühle Granitsäulen, rotbraun, vier Meter hoch.
Zwischen den Säulen metallene Regale, die den Raum in
Schluchten teilten. Hinten, auf einer Empore, das
breite Schreibpult, von der Arroganz einer kafkaesken
Kanzlei. Zettelkästen umrahmten eine voluminöse
Schreibmaschine. Manchmal, beim Betrachten der Regale,
dachte Johanser über die Verfallsdaten der Kunst nach.
Bei vielen Autoren hatte nur ein einziger zu Ruhm
gelangter Vers genügt, ihrem zigtausendseitigen Werk
die Gnade der Archivierung zukommen zu lassen - was dem
Autor keine Gelesenheit eintrug, doch immerhin
Gewesenheit attestierte. (Krausser, Helmut: Thanatos,
S. 40)
Mir gefiel die Geschichte. Sie erschien ausbaufähig, so
hergeholt und konstruiert sie auch klang. Einige
Änderungen würden wohl nötig werden, dachte ich, um das
Ganze glaubhafter zu gestalten, organischer. Von
Brücken hatte sich mit mir den Richtigen ausgesucht. Es
galt, dem ganzen Brimborium, dem Konstrukt, dem
Skelett, Fleisch auf die Knochen zu hieven, und zuletzt
eine Haut. Zuallerletzt ein Schimmern auf der Haut.
(Helmut Krausser: Eros, S. 139)
Am zweiten Mai, einen Tag nach der Bücherverbrennung
unliebsamer Autoren, neben Rosa Luxemburg auch Freud,
Brecht und Heinrich Mann, überlegten Max und Karl
Loewe, aus purer Scham das Land zu verlassen. Sie waren
beide unabhängig voneinander vor Ort gewesen, hatten
Erich Kästner in der Menge der Zuschauer erkannt, der
mitansehen mußte, wie seine eigenen Bücher dem
Scheiterhaufen übereignet wurden. Goebbels hielt eine
geifernde Rede an die deutschen Studenten, benutzte die
Worte Schmutz und Unrat. Und die Funken knackten; ein
lauer Wind trug Aschefetzen über den Platz. Der Kopf
einer Magnus-Hirschfeld-Statue, dessen Sexualkunde-
Institut den Nazis schon lange ein Dorn im Auge gewesen
war, wurde auf eine Lanze gespießt und geschwenkt.
Unter dem Applaus von 70.000 Zuschauern. Leider hingen
die Brüder zu sehr an ihren neuen Wohnungen und ihrem
vom Erbe des Vaters gepolsterten Alltag, um Deutschland
sofort den Rücken zu kehren. Max beruhigte sich
alsbald, redete sich die Sache klein. Es seien nur
Bücher verbrannt worden, keine Menschen. Karl verwies
auf einen prophetischen Spruch von Heine, wonach, wo
Bücher verbrannt werden, am Ende auch Menschen – aber
Max wiegelte ab. Griffige Sprüche seien eben nur
Sprüche, keine Orakel, und Theater bleibe Theater, wie
pyromanisch illuminiert auch immer. (Helmut Krausser:
Nicht ganz schlechte Menschen)
Normalerweise geht einem diese Kolumne fast schon zu leicht von
der Hand. Ein Buch fällt einem in die Finger. Dann fällt man in
seinen Keller. Und wenn dann der Wein und das Buch und der Kopf
so richtig schön zusammengestoßen sind, fällt einem über diesen
Vorgang etwas ein. Das geht natürlich nicht immer so. Es gibt auch
schwierigere Fälle. Dieses war so einer.
Da sitzt man fern vom eigenen Keller, wirklich fern,
nämlichschräg links vom Central Park im minibarfreien New Yorker
Hotelzimmer mit Thomas Morans "Wasser trage mich" auf den Knien,
einem doppelbödigen und blutigen Roman der von der dramatischen
Liebe eines irischen Mädchens zu einem getarnten IRA-Kämpfer
erzählt (Lichtenberg, München. 304 S., 39,80 Mark). Ein
schwieriger Fall: Guinness geht nicht für eine Weinkolumne.
Irischen Wein gibt's gar nicht. Deutschen Wein nur daheim im
Keller (weit weg!).
Komplizierte Fälle (und spannende Bücher) verlangen einfache
Lösungen: In den nächsten Liquor-Shop, ein abenteuerliches
Etikett suchen, kaufen, trinken, weiterlesen.
Derlei Zufälle spielen einem immer wieder glückliche Begegnungen
auf die Zunge. Der Tasman Bay Sauvignon Blanc, im
neuseeländischen Nelson abgefüllt war einer. Trocken, sehr
trocken, fruchtig, nicht zu fruchtig, ein bisschen spitz. Das
perfekte Äquivalent für Morans tragfähiges Wasser.
Jetzt müssen wir erst einmal etwas zugeben. Wir haben
uns geirrt. Das Buch, das gute alte Tote-Bäume-Buch,
ist gar nicht tot. Es erfreut sich bester Gesundheit.
(...) Wir schrieben Nachrufe auf das Buch, diesen
publizistischen Langweiler, vor Jahrhunderten erfunden
und seitdem - seien wir ehrlich - nicht wirklich
relauncht. (...) Auch wenn allenthalben wieder die
Kulturpessimisten herumschleichen auf der Messe, vom
Untergang des Lesens faseln und über Bohlen lästern. Es
besteht Hoffnung für den wichtigsten Kulturträger der
Welt. Eine bessere Form der Informationsübermittlung,
der literarischen Unterhaltung ist noch nicht gefunden.
Ob sie je gefunden wird? Wozu eigentlich?
Es gibt genügend Leute, die mich für bescheuert
halten, weil ich Bücher mehrfach lese. Die finden
nichts schlimmer, als schon am Anfang zu wissen,
wer den Mord begangen hat und wer wen am Ende
kriegt. Vielleicht sind die auch einfach intelligenter
als ich. Aber für mich ist die Lektüre dieser Bücher ein
bisschen wie keine Sorgen haben. Ich weiß, was mich
erwartet, ich weiß, dass nichts allzu Schlimmes
passieren wird und ich weiß, dass am Ende das Gute
siegt. Das sind Qualitäten, die mir besonders dann
wichtig sind, wenn ich sonst nicht viel weiß.
christina-kretschmer
Es war die Autorin La Motte, die ihrem dreizehnjährigen
Abel in einem Hotelzimmer an der Mosel verraten hat,
daß es zwei Formen der Rettung vor unbestimmter Furcht
gibt: Kriminalromane und alle diejenigen Wirkstoffe,
deren Name das Wort Codein enthält. Schon sie ließ
durchblicken, daß beides kombinierbar war. (Friedrich
Kröhnke: Ein Geheimnisbuch, S. 123)
Ich lungerte oft den ganzen Tag herum, stöberte in
alten Projekten oder las hemmungslos und ohne
Richtung in den Büchern, die wie durch Zauberkraft sich
immer noch vermehrten und seit dem Auszug meiner
Ehefrau selbst dort heimisch geworden waren, wo sie
vorher nicht geduldet wurden, in der Küche und im Bad.
Wie eine unheilbare Krankheit hielten die Bücher die
Wohnung besetzt, und die jetzt überall ausgesprochene
Drohung, das Zeitalter des Buches ginge seinem Ende zu,
schien ihre Abwehrkräfte nur zu steigern. Wie oft hatte
ich mir vorgenommen, wenigstens eine ungefähre Ordnung
in die Massen zu bringen! Musikbücher ins Musikzimmer,
deutsche Literatur ins Schlafzimmer, die lateinischen
Klassiker in den Erker, Geschichte auf den Flur, die
Poesie in die begehbare Speisekammer, die nach der
Scheidung wieder leer geworden war. Mein fataler
Ordnungssinn hatte zur Folge, daß ich Kisten für
unentschiedene Fälle anlegte, die sich auf dem Boden
ausbreiteten und immer dann, wenn ich mir nicht mehr zu
helfen wußte, in eine gerade freie Lücke gestellt
wurden. Plötzlich fand sich Lukrez neben den Essays von
Mandelstam in der russischen Abteilung wieder, und ich
hatte den Verdacht, der jeder vernünftigen
Klassifizierung spottete, daß beide die Nachbarschaft
genossen. Eigentlich gab es nichts Schöneres, als den
ganzen Tag lesend zwischen den Büchern herumzustolpern.
(Michael Krüger: Die Cellospielerin, S. 24f.)
Auf der anderen Seite glaube ich, dass in einer
vernetzten Gesellschaft die Notwendigkeit der
Konzentration, Besinnung und Ruhe zunehmen wird. Je
lauter, gefährlicher und unwägbarer die Welt wird,
desto mehr wird man Orientierung, Deutung und Auslegung
suchen. Deshalb bin ich sicher, dass auch essayistische
Bücher, die uns diese Welt zu erklären versuchen, in
Zukunft ein größeres Publikum finden. Das Buch als
Speicher geballten Wissens und geballter Imagination
wird es also auch in Zukunft geben, und eine Form der
Nachdenklichkeit hat eine größere Zukunft als es in den
vergangenen zehn Jahren schien.
Im Zeitalter der Messung und der Statistik - die ja ursprünglich
zur Überwachung erfunden wurde... (...) Inzwischen wissen
wir, daß z.B. die Messung des literarischen Geschmacks,
wie sie durch die Software von Scannerkassen an
buchhändlerischen 'Points of Sale' möglich geworden ist,
nach ihrer Transsubstanziation in Bestseller-Listen, doch
eher zur Belohnung eingesetzt wird. (Michael Krüger;
Faude, Ekkehard: Literatur & Alkohol. Zur Konvergenz
von Flüssigkeitsbedarf und exzessivem Buchstabenverbrauch,
S. 16)
Nehmen wir uns den Pro-Kopf-Verbrauch von Wein in
Westeuropa vor, dann hellen sich die Hintergründe auf, laut
Statistik von 1977 tranken die Westdeutschen im Jahr 23,4
Liter Wein, die Iren nur 4,3 Liter, die Spanier 65,0 Liter, die
Italiener 93,5 Liter und die Franzosen 100,9 Liter. Wenn wir
damit den Pro-Kopf-Verbrauch von Büchern vergleichen,
erhalten wir ein deutlicheres Bild:
Deutschland: 23,4 Liter Wein = 20 Bücher pro Jahr
Irland: 4,3 Liter Wein = 4 Bücher pro Jahr
Spanien 65,0 Liter Wein = 4 Bücher pro Jahr
Italien: 93,5 Liter Wein = 6 Bücher pro Jahr
Frankreich: 100,9 Liter Wein = 12 Bücher pro Jahr
Aus dieser Statistik folgt zwingend, daß Deutschland und
Irland, vom Standpunkt des Weins aus betrachtet,
ausgeglichen arbeiten: 23,4 Liter Wein lassen die Lektüre von
20 Büchern zu (BRD) bzw. 4,3 Liter 4 Bücher (Irland);
wohingegen die Franzosen 100,9 Liter Wein brauchen, um
läppische 12 Bücher zu lesen. Ich glaube, ich brauche das
volkwirtschaftliche Übel nicht näher auszumalen. Auf der
Produktionsseite zeigt sich freilich ein anderes Bild. Ein
deutscher Professor zum Beispiel braucht nach
Pittmann/Schneider, Wolgenbüttel 1982, rund 18 Liter Wein
für die Abfassung eines philosophischen Buches von ca. 360
Seiten, das heißt 0,05 Liter oder einen Schluck pro Seite;
während ein französischer Philosoph bereits für einen Aufsatz
zur Ethik von 30 Seiten ca. 24 Liter rechnet, das heißt eine
Sieben-Dezi-Flasche pro Seite. Ich glaube, ich brauche nicht
näher auszuführen, woher die relative Trockenheit deutscher
philosophischer Bücher rührt. (Michael Krüger; Faude,
Ekkehard: Literatur & Alkohol. Zur Konvergenz von
Flüssigkeitsbedarf und exzessivem Buchstabenverbrauch, S.
23ff.)
Für eine Subspezies der Bücherfreunde - die nicht
Bildungsbeflissenen, die Lust betonten - ist das Lesen
keine Fleißarbeit, sondern augesuchtester Müßiggang.
Eine eskapistische, intime Lust, so einzigartig, dass
sie sich mit niemandem teilen lässt. Schon darüber zu
sprechen, fällt schwer. Freunden von der Buchlust zu
erzählen, von dieser Mischung aus Fülle und
Verlorenheit, die einen beim Lesen ereilt, von der
Trauer, wenn ein Buch beendet ist, und von der Gier,
ein neues zu beginnen, ist eigentlich unmöglich. Lasst
uns nicht vom Lesen sprechen! Diese Leidenschaft bedarf
keiner Wörter. Wer sie nicht kennt, wird sie eines
Tages für sich entdecken. Und dankbar sein für jedes
Buch, das ihm nicht bis dahin durch die Qual der
Schullektüre oder die Empfehlung eines Langeweilers
verdorben worden ist. Eltern, lasst euch beim
lustvollen Lesen erwischen, statt euren Kindern die
Bedeutung des Lesens für die Karriere zu predigen!
Lasst uns am Welttag des Buches schweigen vom Lesen.
Literatur lässt sich nur im Stillen entdecken. Wir
rufen an diesem Tag, an dem soviele Reden gehalten
werden, inmitten dieses Rummels, zu einer
Schweigeminute für das Buch auf. Oder nehmen Sie ein
gutes Buch zur Hand - und verwandeln Sie eine Minute in
einen ganzen Nachmittag. Bringen Sie die Welt zum
Stillstand. (Fridtjof Küchemann)
Dabei waren ein paar von unseren Büchern echt selten. Es gab sie
nicht so zu kaufen. Da konntest du Kohle haben bis zum
Gehtnichtmehr, aber wenn's was nicht gab, dann gab's das eben nicht.
Basta. Da nutzte kein Geld der Welt was, sprich: keine Mark der DDR,
logisch. Und ich rede hier nicht von Tomatenketchup,
Badezimmerfliesen, Autos und dem ganzen anderen Schwachsinn, den man
nicht kaufen konnte. Ich spreche hier nur von Büchern, allerdings
von den sogenannten guten. Baudelaire und Konsorten. Aber selbst
wenn es diese Bücher zu kaufen gegeben hätte, wären sie
wahrscheinlich unterm Ladentisch weggegangen. Das sah man ja bei
Karl May, der lange verboten gewesen war, wegen Revanchismus oder
so. Und als sich dann vor ein paar Jahren der Wind drehte, weil er
nicht mehr revanchistisch genug war oder weil sich die Maßstäbe für
Revanchismus geändert hatten, da kamen plötzlich die ganzen
Fliesenleger und Klempner und Autoschlosser in die Volksbuchhandlung
und schnappten den armen Kindern die Karl-May-Bücher vor der Nase
weg. Weil sie ja was nachzuholen hatten zwecks ihrer eigenen
Kindheit. Und selbstverständlich kriegten sie die Bücher als Erste,
weil ja auch Buchhändlerinnen ein Bad hatten, wo, wie bei den
meisten Bürgern unseres Landes, nur Tapete über der Wanne klebte,
die naß wurde beim Duschen und sich irgendwann von der Wand schälte.
Klar, und weil die Buchhändlerinnen obdendrein einen gebrauchten
Moskwitsch besaßen, der jeden Winter von zwei Grad plus abwärts
nicht mehr ansprang. Und weil auch die Toilette der einen oder
anderen Buchhändlerin mal verstopft war und das ausgerechnet am
Sonntag. (André Kubiczek: Skizze eines Sommers)
An Baudelaire kam man praktisch nicht ran. 73 hatte es mal eine
Ausgabe gegeben. Insel Verlag, Leipzig. 'Die Blumen des Bösen.
Der Spleen von Paris.' Stand in keiner Bibliothek - immer
geklaut. War in keinem Antiquariat zu finden. Und einen wie Rimbaud
kriegte man nicht mal unterm Ladentisch, um erst gar nicht Malarme
anzufangen. Die waren quasi verboten, obwohl es keiner so direkt
sagte, und zwar nicht wegen Revanchismus, sondern wegen Dekadenz.
(...) Von den 'Blumen des Bösen' jedenfalls gab's in freier
Wildbahn nur ein einziges Exemplar. Es stammte von
achtzehnhundertnochwas und gehörte der Wissenschaftlichen
Allgemeinbibliothek in der Heinrich-Rau-Allee. Aber wir hatten da so
eine Art Abo drauf, Michael, Dirk und ich. Immer, wenn einer von uns
das Buch abgab, stand der nächste quasi schon hinter ihm in der
Schlange bereit und lieh es sofort wieder aus. Auf diese Weise
schützten wir unsere Stadt vor der Baudelaire'schen Dekadenz. (André
Kubiczek: Skizze eines Sommers)
Delphine löffelte und las weiter in ihrem Taschenbuch. Sie hatte es
des Titels wegen gekauft. Er war ihr ins Auge gesprungen, als sie im
Bücherbrockenhaus stöberte: 'Die vollkommene Leere'. Sie war
mindestens einmal wöchentlich im Bücherbrocki. Es war einer ihrer
Lieblingsorte. Sie mochte den Geruch der alten Bücher, und sie
mochte, daß das Brocki in einem Kellergeschoß lag, in dem es kühl
blieb, egal wie vulgär heiß sich der Sommer draußen gebärdete. Schon
als Kind spielte sie am liebsten im Keller. Dort war es ruhig und
geheimnisvoll. Dort waren all die Dinge, die ihre Eltern nicht mehr
brauchten, von denen sie sich jedoch noch nicht endgültig zu trennen
vermochten. Besonders angetan hatten es ihr die Stapel mit dem
Altpapier, die ihre Mutter mit farbiger Schnur bündelte und ihr
Vater immer hinuntertrug und unter der Treppe stapelte. Bündel, aus
denen sie Zeitschriften zog und zerschnipselte. Jede Visite im
Bücherbrocki war auch eine Rückkehr in ihre Kindheit. Ja, es war
Geborgenheit. Zudem mochte sie die Musik, die gespielt wurde.
Dramatisch klingende klassische Musik, von der sie keine Ahnung
hatte. Was für eine Kombination: Orchestermusik und abertausend
stumme Bücher, die auf neue Besitzer warteten, von denen viele
niemals kommen würden. Die Absichtslosigkeit faszinierte sie. Sie
konnte Stunden damit zubringen, nach nichts zu suchen und Schätze zu
finden. (Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück)
Nachdem sie die Gedichte mehrmals gelesen hatte,
traten endlich auch Tränen gerührter Bewunderung in
ihre Augen, weil ihr die Verse unverständlich
vorkamen und es ihr folglich schien, es läge darin
mehr, als sie selbst zu verstehen vermochte, daß sie
also Mutter eines Wunderkindes war. (Milan Kundera:
Das Leben ist anderswo)
Und Jaromil? Er war stolz darauf, daß der Maler ihm
Bücher aus seiner Bibliothek lieh (der Maler hatte
dem Jungen gegenüber mehrmals betont, daß er
niemandem Bücher ausleihe und Jaromil der einzige
sei, der dieses Privileg genieße), und da er mehr als
genug Zeit hatte, verweilte er träumend über den
Seiten. Die moderne Kunst war damals noch nicht
zum Besitztum der bürgerlichen Schichten geworden
und hatte den anziehenden Charme einer Sektiererei,
die Kindern verständlich ist, die von romantischen
Clans und Bruderschaften träumten. Jaromil war für
diesen Charme empfänglich und las die Bücher ganz
anders als die Mutter, die sie von A bis Z durchlas
wie ein Lehrbuch, über das sie geprüft werden sollte.
Jaromil, dem keine Prüfung drohte, las keines der
Bücher des Malers richtig durch; er schmökerte
vielmehr darin, blätterte, verweilte da über einer
Seite, verharrte dort bei einem Vers, ohne sich daran
zu stören, daß der Rest eines Gedichts ihm nichts
sagte. Doch dieser einzige Vers, dieser einzige
Prosaabsatz genügte, um ihn glücklich zu machen,
nicht nur durch seine Schönheit, sondern vor allem
dadurch, daß er ihm als Passierschein ins Reich der
Auserwählten diente, der wahrzunehmen verstand,
was anderen verschlossen bliebe. (Milan Kundera:
Das Leben ist anderswo, S. 60)
Graphomanie (die Besessenheit, Bücher zu schreiben)
wird zwangsläufig zur Massenepidemie, wenn die
gesellschaftliche Entwicklung drei grundlegende
Voraussetzungen erfüllt: 1) hoher Grad allgemeinen
Wohlstands, der es den Leuten ermöglicht, sich
unnützen Tätigkeiten zu widmen; 2) hohes
Maß an Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens
und daraus hervorgehend allgemeine Vereinsamung der
Individuen; 3) radikaler Mangel bedeutender
gesellschaftlicher Veränderungen im inneren Leben
eines Volkes. (...) Allerdings beeinflußt das Ergebnis
rückwirkend die Ursache. Die allgemeine Vereinsamung
verursacht Graphomanie, die massenweite Graphomanie
wiederum verstärkt und steigert die allgemeine
Vereinsamung. Die Erfindung des Buchdrucks hat es
der Menschheit ermöglicht, sich untereinander zu
verständigen. Im Zeitalter der allgemeinen
Graphomanie erhält das Bücherschreiben einen
umgekehrten Sinn: jeder ist von seinen Buchstaben
umzingelt wie von Spiegelwänden, durch die von
außen keine Stimme mehr dringt. (Milan Kundera:
Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 128)
... erinnerte mich an einen Vers aus Goethes
West-östlichen Divan: Lebt man denn, wenn andre
leben? In Goethes Frage verbirgt sich das Geheimnis
aller Schriftstellerei: Durch das Schreiben von Büchern
verwandelt sich der Mensch in ein Universum (man
spricht schließlich von Balzacs, Tschechows, Kafkas
Universum), und die Eigenschaft eines Universums
besteht eben darin, daß es einmalig ist. Also wird es
durch die Existenz eines anderen Universums in seinem
Wesen bedroht. Zwei Schuster können, wenn ihre Läden
nicht gerade in derselben Straße liegen, in wunderbare
Harmonie miteinander leben. Sobald sie aber anfangen,
ein Buch über das Los des Schusters zu schreiben,
stehen sie einander im Weg und fragen sich: Lebt der
Schuster denn, wenn andre Schuster leben? (Milan
Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 145)
Das unaufhaltsame Anwachsen der Massengraphomanie unter
Politikern, Taxifahrern, Gebärerinnen, Geliebten,
Mördern, Dieben, Prostituierten, Präfekten, Ärzten und
Patienten beweist mir, daß ausnahmslos jeder Mensch den
Schriftsteller als Möglichkeit in sich trägt, so daß
die Menschen zu Recht auf die Straße gehen und schreien
könnten: Wir sind alle Schriftsteller! Jeder leidet
nämlich darunter, ungehört und unbemerkt im
teilnahmslosen Universum unterzugehen, und will sich
deshalb rechtzeitig in ein Universum von Wörtern
verwandeln. Wenn der Schriftsteller einmal (und das
wird bald der Fall sein) in allen Menschen erwacht sein
wird, werden die Tage der allgemeinen Taubheit und
Verständnislosigkeit anbrechen. (Milan Kundera: Das
Buch vom Lachen und Vergessen, S. 146)
Er beschreibt sein Leben. Die Geschichte eines
Menschen, der drei Tage lang im Meer schwamm, mit dem
Tode rang, die Fähigkeit zum Schlafen verlor und seinen
Lebenswillen trotz allem bewahrte. "Schreiben Sie es
für Ihre Kinder auf? Als Familienchronik?" Er lachte
bitter: "Meine Kinder würde das nicht interessieren.
Ich schreibe es als Buch. Ich glaube, daß es vielen
Menschen helfen könnte." Dieses Gespräch mit dem
Taxichauffeur hat mir mit einem Mal das Wesen des
schriftstellerischen Daseins enthüllt. Wir schreiben
Bücher, weil unsere Kinder sich nicht für uns
interessieren. Wir wenden uns an die anonyme Welt, weil
unsere Frauen sich die Ohren zuhalten, wenn wir mit
ihnen sprechen. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und
Vergessen, S. 127)
"Überhaupt nicht schade. Es ist eine Chance. Heutzutage stürzt
man sich auf alles, was je geschrieben worden ist, um es in einen
Film, eine Fernsehwerbung oder einen Comic zu verwandeln. Da das
Wesentliche in einem Roman aber das ist, was sich nicht anders
als durch einen Roman ausdrücken läßt, bleibt in jeder Adaption
nur das Unwesentliche enthalten. Wenn jemand verrückt genug ist,
heute noch Romane zu schreiben, muß er sie, wenn er sie schützen
will, so schreiben, daß sie sich nicht adaptieren lassen, mit
anderen Worten, daß man sie nicht erzählen kann." (Milan Kundera:
Die Unsterblichkeit)
Bücherlesen ist vonnöten,
soll euch nicht die Dummheit töten:
Wer nicht gerne Bücher liest,
ist für mich ein blödes Biest!
Bücherlesen, liebe Leute,
nicht erst morgen, sondern heute!
Heute gilt's, den Kopf zu füllen,
daß nicht laut vor Lachen brüllen
alle Affen hier im Zoo
über euren Kopf voll Stroh:
Stroh soll raus und Wissen rein,
das gilt nicht für euch allein,
sondern klar für jedermann,
der das Alphabet schon kann.
Ohne Bücher seid ihr Tröpfe,
sogar Holz- und Wasserköpfe!
Nur durch Bücher wissen wir:
Warum gibt es Menschen hier?
Denn kein Schaf gibt euch Bescheid,
keine Katze ist bereit,
Menschenkinder zu belehren,
die nicht auf die Bücher hören.
Hühner, Enten, Spatzen, Spechte
wissen leider nicht das Rechte,
was für Menschen wichtig wär.
Also: Nehmt die Bücher her,
Lest und werdet sacht gescheit,
daß ihr einst die Klügren seid.
Ich gibt viele Leute, die mich begeistern: Franz Kafka,
Gottfried Benn, Hans-Henny Jahn, Heinrich von Kleist,
Peter Handke, Botho Strauss, Thomas Bernhard.
Eigentlich wollte ich ja Professor für Germanistik
werden und nicht Musiker. Das heißt aber noch lange
nicht, dass ich rund um die Uhr lese. Ich sehe auch
ganz gern mal fern. Das Lesen gehört einfach zu meinem
Beruf, ich muss mich ja informieren. Insofern lese ich
manchmal von 10 Uhr morgens bis 18 Uhr abends und mache
das Buch nur dann zu, wenn ich etwas schreibe. Als
professioneller Leser möchte man allerdings nach 18 Uhr
nicht mehr weiterlesen.
Ich entsinne mich eines Buches von Reiner Kunze, in dem er
beschreibt, wie man sich einen eigenen Literaturkosmos
aufbaut: Man liest ein Buch, findet einen Hinweis auf
einen anderen Autor und geht dem nach. So entwickelt
sich Buch für Buch eine eigene Leselandschaft mit
Landmarken. Erst so kann aus der Vielzahl der Bücher
eine lebendige Landschaft werden. Doch die Fülle des
zu Lesenden bleibt unendlich. George Steiner hat in
seinem letzten Buch "Der Garten des Archimedes" eine
Liste der Bücher veröffentlicht, von denen er annimmt,
sie in seinem Leben nicht mehr lesen zu können, und das
hat wer auch als Entschuldigung gegenüber den Büchern
gemeint. Jeder von ins hat irgendwann diese Liste im
Kopf, trotzdem darf man die Ruhe nicht verlieren und
die Lektüre fahrig werden lassen: Lesen auch weiterhin
als Prozeß zuzulassen, der das Geschriebene rekonstruiert,
der das Gedicht aus der Sicht des Lesers noch einmal
schreibt, um die Welt, die vor dem Gedicht liegt,
einzuholen und zu entdecken. Das ist eine Lektüre, die
Zeit braucht. (Aus einem Interview mit Reiner Kunze,
der Interviewer unbekannt, der Text leicht redigiert)
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