Bibliomanische FAB  / [K1]


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Käßmann, Margot: Lesen daheim

  Bei uns zu Hause war Lesen immer sehr wichtig: Meine Mutter hat reines Amüsement, etwa, ins Kino zu gehen, eher abgelehnt. Ganz spät im Bett liegen und schmökern, das durften meine Schwestern und ich aber. Meiner Mutter bedeuteten Lesen und Bildung sozialen Aufstieg. Für mich waren Bücher eher so faszinierend, weil ich durch sie in fremde Welten eintauchen konnte. Eine Schwester und ich haben manchmal dasselbe Buch gelesen und dann darüber gesprochen. Das tun wir auch heute noch... (Margot Käßmann, Bischöfin in Hannover)


Kästner, Erich: Ein Gesetz der Kunst

  Man wird, wenn man Geschichten schreibt, sehr oft gefragt: "He Sie, ist das, was Sie geschrieben haben, auch wirklich passiert?" Besonders die Kinder wollen das immer genau wissen. Da steht man dann da mit seinem dicken Kopf und zieht sich am Spitzbart. Manches in den Geschichten ist natürlich wirklich passiert, aber alles? Man ist doch nicht immer mit dem Notizblock hinter den Leuten hergesaust, um haarklein nachzustenographieren, was sie geredet und getan haben! Oder man wußte noch gar nicht, als ihnen dies und das zustieß, daß man jemals darüber schreiben würde! Ist doch klar, nicht? Nun stellen sich aber viele Leser, große und kleine, breitbeinig hin und erklären: "Sehr geehrter Herr, wenn das, was Sie zusammengeschrieben haben, nicht passiert ist, dann läßt es uns eiskalt." Und da möchte ich antworten: Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, daß die Geschichte wahr ist! Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genau so, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können. Habt ihr das verstanden? Wenn ihr das verstanden habt, habt ihr ein wichtiges Gesetz der Kunst begriffen. (Erich Kästner: Pünktchen und Anton, S. 8)


Kafka, Franz: Über das Vorlesen

 Liebste, ich lese nämlich höllisch gern vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl. Ich habe sie aber auch tüchtig angebrüllt und die Musik die von den Nebensälen her mir die Mühe des Vorlesens abnehmen wollte, habe ich einfach fortgeblasen. Weißt Du, Menschen kommandieren oder wenigstens an sein Kommando zu glauben - es gibt kein größeres Wohlbehagen für den Körper. Als Kind - vor ein paar Jahren war ich es noch - träumte ich gern davon, in einem großen mit Menschen angefüllten Saal -, allerdings ausgestattet mit einer etwas größern Herz- Stimm- und Geisteskraft, als ich sie augenblicklich hatte - die ganze Education sentimentale ohne Unterbrechung soviel Tage und Nächte lang, als sich für notwendig ergeben würde, natürlich französisch (o du meine liebe Aussprache!) vorzulesen und die Wände sollten widerhallen. Wann immer ich gesprochen habe, reden ist wohl noch besser als vorlesen (selten genug ist es gewesen), habe ich diese Erhebung gefühlt und auch heute habe ich es nicht bereut. Es ist - und darin soll die Verzeihung liegen - das einzige gewissermaßen öffentliche Vergnügen, das ich mir seit einem Vierteljahr fast gegönnt habe. [Kafka an Felice Bauer]


Kaitaro, Tsuno: Wider die Exklusivität

  Einen Sache möchte ich gerne festhalten: Wir sollten das Lesen nicht als Aktivität ansehen, die nur in besonderen, geplanten Situationen passend erscheint, also in solchen Situationen, wie sie das Klischee von "Mein Haus ist meine Burg" oder "erleuchtetes Fenster, aufgeräumter Schreibtisch" (chinesisches Sprichwort, das sich auf die ideale Leseumgebung bezieht) bedient. Es gibt keine "richtige" Art zu lesen. Wenn du nicht beim Laufen lesen willst, wie ich das mache, macht es dir vielleicht Spaß, in der Badewanne oder auf der Toilette zu lesen. Lesen kann stattfinden, wo und wie auch immer du willst. Es kommt darauf an, diese Gewohnheit von früh auf zu kultivieren, auf jede Art und Weise, die du magst. Wenn Menschen das Lesen als etwas behandeln, was man nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten macht, ist es kein Wunder, dass sie diese Gewohnheit verlieren/aufgeben werden. (Tsuno Kaitaro: Reading While You Walk)


Kaltenbrunner: Das Bücher lesende Wesen

  Der Mann, die Frau, das Kind mit einem Buch, versunken in ein Buch - das ist nicht nur ein seit dem Mittelalter immer wiederkehrendes Motiv der europäischen Malerei und der Wunschtraum jedes Autors, der sich, um Goethe zu zitieren, folgenden Leser wünscht: "Den unbefangensten, der mich, sich und die Welt vergißt und in dem Buche nur lebt." Der Mensch als Bücher lesendes Wesen ist und bleibt darüber hinaus eines der schönsten und überzeugendsten Sinnbilder reifer Humanität. Er lebt nicht nur in der Realität, sondern in der Wirklichkeit. (Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 8)


Kaltenbrunner: Individuelle Integrität

  Der ein Buch lesende Mensch ergreift die schicksalhafte Befindlichkeit des Alleinseins und Auf-sich-gestellt- Seins und erhöht sie zu einer sublimen Form individueller Freiheit und Integrität. In seiner stillen Versunkenheit erinnert er daran, daß eine vollkommene Gesellschaft eine Gesellschaft von Einsiedlern wäre. Er erfährt sich, im Sinne Kiergegaards, als "Einzelnen" - was nicht ausschließt, daß er sich mit anderen Einsamen solidarisch fühlt. Jedes Buch ist die Inkarnation eines Bewußtseins. Durch Lektüre vermag ein anderer, eben der Leser, in dieses Bewußtsein einzudringen, an ihm teilzuhaben, es sich und sich ihm anzugleichen in einem geistigen Abenteuer, welches immer auch frühere Leseerfahrungen aktualisiert. "Der Leser ist der erweiterte Autor" (Novalis), ja geradezu der Mitschöpfer des Buches. Denn Literatur ist nur insofern wirklich, als sie im Bewußtsein ihrer Leser lebt. Jede Generation gibt andere, neue Leseantworten auf dasselbe Buch. Und umgekehrt: Jedes wirklich neue Buch verlangt auch einen neuen Lesestil, eine noch nie dagewesene Form von Rezeption. (Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 9)


Kaltenbrunner: Der lesende Delinquent

  Ein deutscher Offizier, der um die letzte Jahrhundertwende in China weilte, wurde Zeuge einer Massenhinrichtung. Auf einem Feld stand eine Kette von Männern, die, einander nachrückend, dem Scharfrichter entgegengingen. Einer der letzten der Reihe liest, unbeteiligt an dem, was um ihn herum vorgeht, in einem Buch. Der Offizier reitet zu ihm und fragt: "Was liest du?" Der Chinese antwortet: "Warum störst du mich?" Der Offizier erwidert: "Wie kannst du 'jetzt' lesen?" Der Mann sagt: "Jede gelesene Zeile ist Gewinn." Daraufhin reitet der deutsche Offizier zu dem General, der die Vollstreckung des Todesurteils befohlen hat, und bittet ihn, den Mann zu begnadigen. Es gelingt ihm, den Verurteilten freizubekommen. Als er dem Lesenden mitteilt, er könne nach Hause gehen, klappte dieser sein Buch zu, bedankte sich kurz und verließ, als ob nichts geschehen wäre, die Richtstätte. (Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 9)


Kaltenbrunner: Literalität

  [Wir] können uns nicht mehr auf unsere Beherrschung traditioneller Fähigkeiten verlassen. Als Kommunikatoren, als Darsteller, als schöpferische Menschen - und als Bürger - verlangt [die elektronische Revolution] eine neue Art von Literalität. Es wird eine visuelle Literalität sein, und sie wird ein ebensogroßer Fortschritt gegenüber der Literalität des geschriebenen Wortes sein, wie diese ein Fortschritt gegenüber der rein mündlichen Überlieferung in der frühen Menschheitsgeschichte war. (Vorsitzender des Verwaltungsrates der Fernsehgesellschaft ABC, 1981; in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Mensch und das Buch, S. 44)


Kaltenbrunner: Bücherfreunde und Bibliomane

  Das Lesen der Bücher ist der springende Punkt, an dem sich der Bücherfreund vom Bibliomanen unterscheidet. Der Bücherfreund weiß zwar den Seltenheitswert eines Buches zu schätzen, aber in erster Linie zieht ihn der Inhalt an. Der richtige Bibliomane aber wirft nicht einmal einen Blick in das Buch, wie man sehen wird. Ihm ist die Sammelei an sich das Wichtigste, er will seine Sammelwut befriedigen. Im Grunde ist es ihm egal, was er sammelt - mit derselben Leidenschaft könnte er sich auch auf Hosenknöpfe oder gar auf Galgenstricke verlegen, wie Sir Thomas Tyrhitte, ein steinreicher englischer Galgenfledderer mit Nerven wie die von ihm gesammelten Stricke.(Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 75)


Kaltenbrunner: Unio mystica

  "Denn warum lesen wir?" fragt er [Günter Kunert] dort. Wir würden ganz gewiß nicht Proust oder Kafka lesen, um über den Salon der "Belle epoque" unterrichtet zu werden oder aus philologischem Interesse am Prager Kanzleistil. "Sobald wir uns lesend einem Buch hinzufügen oder beigesellen, erleben wir eine Unio mystica, ein Einswerden mit dem Text, indem wir ihn aus seinem Zustand zeichenhafter Abstraktion erlösen und in unserem Kopf zu Bildern verwandeln, in denen wir persönlich auf nicht ganz geheure Art anwesend sind. Wer diesen Vorgang für trivial hält, ist durch "Wissenschaftlichkeit" erblindet. Ich jedenfalls finde für diesen Vorgang nur eine Analogie: die Initiation. Es ist wie eine Einweihung in ein und Teilnahme an einem Mysterium." Literatur versetze uns in die Lage, meint Kunert, unseren eigenen Lebenskreis fiktiv und doch glaubwürdig zu überschreiten - ein Geschehen, das noch etwas von den urtümlichen Mysterien berge. (Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher)


Kaminer, Wladimir: Container der Schande

  Jedes Buch bewegt sich in dieser Buchhandlung von rechts nach links. Rechts liegen die reduzierten, die aber immer noch gutes Geld kosten, links steht der Container der Schande, in dem die Bücher für 2,95 DM liegen, zum Preis von unbedrucktem Toilettenpapier. (Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee, S. 130f.)


Katajew, Valentin: Wozu das alles?

  Ich dichtete schon lange. Und wie alle jungen Dichter befand ich mich in einem permanenten inneren Wirbel. Wahllos suchte ich die Redaktionen der Lokalblätter auf, las im Gymnasium in der Pause jedem x-beliebigen meine Werke vor, verlangte unbedingt zu wissen, was meine Schulkameraden, Hausgenossen, mein Vater und meine Tante darüber dachten, piesackte mit ebendiesen Werken meinen jüngeren Bruder Shenja, den späteren Schriftsteller Jewgeni Petrow, schickte meine Gedichte sogar an meine Großmutter nach Jekaterinoslaw und stand bei den höheren Töchtern von Odessa in dem Ruf, einen kleinen Knacks zu haben. Und das alles, weil mir niemand das - wie ich damals annahm - wichtigste Geheimnis verraten konnte, das brennende Geheimnis der Poesie, das einen, sofern man die Lösung nicht fand, schier um den Verstand brachte: wozu das alles geschrieben wurde. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 17)


Katajew, Valentin: Vom Dichten

  Schon seit geraumer Zeit hatte sich in mir die Vermutung geregt, daß Versemachenkönnen noch kein Dichten sei. Die gefällige Leichtigkeit der Reime täuschte mich nicht mehr. Schon das äußere Bild eines Gedichts, sein sichtbarer Unterschied zur Prosa, die Unterteilung in Strophen, die das Auge fesselnde Gestaltung der Seiten mit ihren Sternchen, drei Pünktchen und sonstigen Finessen, übte zwar immer noch eine hypnotische Wirkung auf mich aus, ging mir aber doch schon mitunter auf die Nerven. Mich hatte sogar die höchst alberne Idee heimgesucht, man könnte sämtliche in der Welt vorhandenen Reime paarweise, rechts und links, in ein Vokabelheft schreiben und sie auswendig lernen wie das Einmaleins, dazu die Versmaße - Jamben, Choreen, Amphibrachien - was an sich gar nicht so schwer wäre, und die Sache hätte sich. Und der Inhalt? Der war hinreichend bekannt und bot keine ernstlichen Schwierigkeiten: Träume, Trauer, Wehmut, Liebe, der Garten, der Mond, der Fluß, das Stelldichein, Leidenschaft, Blumen, Herbst, Frühling, Winter, seltener Mittag, Betrug, bitteres Los etc. pp. Selbstverständlich in rauhen Mengen das Meer, die Wogen, Buchten, Stürme, Möwen - aber das alles nur ganz allgemein. Eine Buch, sehr wohl, warum nicht? Aber eine allgemeine Bucht, keine konkrete, eine Bücherbucht, die keine realen Vorstellungen aufkommen ließ. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 26)


Katajew, Valentin: Meines Vaters Glück

  Das Wunder echter Poesie hatte sich mir enthüllt, eine neue Welt tat sich auf. An diesem Abend bat ich meinen Vater, mir einen Gedichtband von Bunin zu kaufen. Durch Vaters Kneifer traf mich ein gerührter Blick, wenn ich nicht irre, sogar ein vor Rührung feuchter: Endlich nimmt dieser Lulatsch von Sohn Vernunft an. Statt um Schlittschuhe, einen Fußball, eine Luftpistole, einen Tennisschläger bittet er um ein Buch. Und nicht "Sherlock Holmes" von Conan Doyle, nicht "Das Geheimnis des gelben Zimmers" von Gaston Leroux will er haben, sondern die vortrefflichen Gedichte eines russischen Poeten. Nicht ausgeschlossen, daß dies der einzige wahrhaft glückliche Tag im Leben meines Vaters war. Die Väter werden ihn verstehen, die Söhne vermutlich auch, wenn nicht jetzt, dann mit der Zeit. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 27f.)


Katajew, Valentin: Wechselwirkung

  "Wenn Sie eine Sache handschriftlich fertig haben, können Sie sie bitte auf der Maschine abtippen. Aber der eigentliche Schaffensvorgang, der schöpferische Prozeß, besteht meiner Ansicht nach in der Wechwselwirkung, dem geheimnisvollen Fluidum zwischen Hirn, Hand, Papier und Feder, das ist eben im Grunde genommen das Schöpferische." (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens)


Katajew, Valentin: Handschriftlich

  Bei diesen Worten berührte Bunin zuerst seinen Kopf, bewegte alsdann das Handgelenk, den Füller mit der Goldfeder zwischen den Fingern, setzte die Platinspitze aufs Papier und kritzelte etwas. "Wenn Sie direkt in die Maschine tippen, verliert das hingeklapperte Wort seine Individualität, wird entpersönlicht. Handschriftlich zu Papier gebracht dagegen, ist es die materialisierte, sichtbar gemachte Spur Ihres Gedankens, sein Abriß, und hat die blutwarme Verbindung mit Ihrem Fühlen, wenn Sie wollen, mit Ihrem Organismus, noch nicht eingebüßt. Ist aber ein Wort schief oder verlogen, steht es falsch, ist es unangebracht, taktlos, so werden Sie das sofort nicht nur intuitiv, sondern sogar mit dem Blick merken, denn die Handschrift wird dann schleppend oder flüchtig oder sogar verändert. Kurz und gut, Ihre Handschrift, einmalig, als Teil Ihres Fühlens nur Ihnen zugehörig, signalisiert Ihnen: halt!, sobald etwas nicht stimmt." Sprach's und änderte die letzte Zeile seines Gedichts "Der Kompaß". (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 94)


Katajew, Valentin: Ungeahnte Gesichtswinkel

  "In unserer Zeit ist es in der Literatur nicht damit getan, Helden zu schaffen, die das Publikum nicht sofort als alte Bekannte begrüßt, und neue Formen, einen originellen Stil zu kreieren. Man muß ein Augenglas erfinden, durch das die Leser Menschen und Dinge wie durch ganz neue, noch von niemandem benutzte Linsen betrachten. Mit Hilfe dieses Augenglases zeigt man die Bilder unter einem bisher ungeahnten Gesichtswinkel und schafft so eine neue Optik. Ein solches Augenglas haben mein Bruder und ich erfunden, doch nun stelle ich fest, daß sich die ganze Jugend seiner bedient". (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 98)


Katz, H.W.: Meine Großmutter

  Wenn meine Großmutter Malke über einem Buche saß, ganz vertieft in eine Welt, die ihr um so vieles interessanter und gerechter erschien als die Strodyer; wenn ihr die Backen wie die eines jungen Mädchens rot anliefen und dabei die Perücke, die sie aus Frömmigkeit trug, unternehmungslustig über das eine Ohr rutschte und etwas schief über die Stirn; wenn sie zuweilen ihre Lektüre mit begeisterten "Oh"- und "Ah"-Rufen unterbrach und dabei kleine glänzende Äuglein bekam wie eine Braut ihrer Tage vor dem ersten Kuß; wenn sie mein Großvater so in irgendeiner Ecke des Hauses sitzend erwischte-, dann strich er um sie herum wie wohl ein zorniger Kater um einen Baum streichen mag, auf dem ein ihm bekannter agressiver Vogel träumerisch hockt, wie ein solcher Kater also und voller Verlangen, dieses "Biest" zu überlisten und zu überwältigen, aber auch zugleich voller Angst vor dessen handfesten Fähigkeiten. Bissig fragte er: "Biste schon wieder in deinem Deutschland?" Bissig gab sie zu: "Ja, bei meinen geliebten Schreibern", schob dann mit einer wegwischenden Bewegung ihre Perücke zurecht und las weiter. (H.W. Katz: Die Fischmans. Weinheim/Berlin: Beltz/Quadriga, 1994)


Kehlmann, Daniel: Bücherlesen ist kein Beruf

  Aber die Welt bricht fast jeden, und warum hätten ausgerechnet meine Träume wirklich werden sollen, Bücherlesen ist kein Beruf, hatte mein Vater gesagt, und so empört ich einst darüber war, werde ich, wenn meine Kinder in das Alter kommen, ihnen nichts anderes sagen: Bücherlesen ist kein Beruf. (Daniel Kehlmann: Ruhm, S. 161)


Keller, Gottfried: Alles in ihrem Kopf

  Wenn aber die zierliche Seifengalerie ihre Werktätigkeit und ihren exakten Sinn verkündete, so pries nicht minder ihren erbaulichen Geist ein Häufchen unterschiedlicher Bücher, welches am Fenster ordentlich aufgeschichtet lag und in denen sie sonntags fleißig las. Sie besaß noch alle ihre Schulbücher seit vielen jahren her und hatte auch nicht eines verloren, so wie sie auch noch die ganze kleine Gelehrsamkeit im Gedächtnis trug, und sie wußte noch den Katechísmus auswendig wie das Deklinierbuch, das Rechenbuch wie das Geographiebuch, die biblische Geschichte und die weltlichen Lesebücher; auch besaß sie einige der hübschen Geschichten von Chrsitoph Schmid und dessen kleine Erzählungen mit den artigen Spruchversen am Ende, wenigstens ein halbes Dutzend verschiedene Schatzkästlein und Rosengärtchen zum Aufschlagen, eine Sammlung Kalender voll bewährter mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige merkwürdige Prophezeiungen, eine Anleitung zum Kartenschlagen, ein Erbauungsbuch auf alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen und ein alte Exemplar von Schillers Räubern, welches sie so oft las, als sie glaubte es genugsam vergessen zu haben, und jedesmal wurde sie von neuem gerührt, hielt aber sehr verständige und sichtende Reden darüber. Alles, was in diesen Büchern stand, hatte sie auch im Kopfe und wußte das schönste darüber und über noch viel mehr zu sprechen. (Gottfried Keller: Drei gerechte Kammacher)


Kennedy, A.L.: Lob des Verlegers

  Es gibt immer noch Verleger mit Mut und Integrität, aber sie stehen unter gewaltigem Druck. Vielleicht muß man nicht unbedingt Sympathie für sie aufbringen, aber wenn uns an Kurzgeschichten, Gedichten oder Romanen gelegen ist, die außerhalb der Massenware liegen, die nicht aus Listen trivialer Fakten oder der Diskussion orthographischer Fehler bestehen, dann brauchen wir Verleger, die frei genug sind, ihre Arbeit zu tun - das heißt, uns mit Büchern zu versorgen, von denen wir nicht wußten, daß wir sie haben wollten, die keine Klone der letztjährigen Bestseller sind, die riskant oder beleidigend sein können oder erfolglos oder schockierend oder höchst erfreulich oder das einzige, was uns im schlimmsten Monat des Jahres am Leben erhält.


Kennedy, A.L.: Die Seele der Literatur

  Wenn wir in der Literatur die grundlegende Freiheit der Kommunikation zwischen Individuen verlieren, wenn wir die Fähigkeit einbüßen, als Mensch einem anderen Menschen die Wahrheit zu sagen, die persönliche Wahrheit unserer Sinne, unserer Gefühle, unserer Träume, wenn wir die Freiheit aufgeben, ins Bewußtsein anderer zu schlüpfen - männlicher oder weiblicher anderer, toter, glücklicher oder trauriger anderer, unvorstellbarer anderer oder solcher, die sind wie wir -, dann haben wir die Seele der Literatur verloren.


Kennedy, A.L.: Eine echte Bedrohung

  Mit Buchläden kannte sich Mrs. Brindle aus. Eine Zeitlang hatte sie gedacht, Buchläden könnten ihr helfen. Immerhin wurden ständig Bücher veröffentlicht, die angeblich als Führer durchs Leben und Allzweck-Inspirationsquelle dienten. Sie hatte eine beträchtliche Anzahl von Buchhandlungen und Antiquariaten durchforstet, ohne auch nur ein einziges nützliches Buch zu finden. Und sie hatte entdeckt, daß die Pilzsporen, die auf älteren Büchern gedeihen - auch auf Lebenshilfe-Bänden - Halluzinationen und Psychosen hervorrufen können und, kurz gesagt, eine echte Bedrohung der geistigen Gesundheit darstellen. Das wunderte sie überhaupt nicht. (A. L. Kennedy: Gleissendes Glück, S. 13)


Kennedy, A.L.: In der Buchhandlung

  Sie hatte nicht vergessen, wo sie hingehen mußte. Durch die Seitentür und die Treppe hinunter zu den Abteilungen "Religion", "Selbsthilfe" und "Psychologie". Diese drei Abteilungen schienen immer zusammen zu stehen, vielleicht mußten sie sich gegenseitig stützen. Viele der ausgestellten Titel waren ihr wohlbekannt. Ebenso bekannt war ihr Gefühl, sich unauffällig am Selbsthelfer-Regal entlangzuschieben und so zu tun, als wolle man ganz woanders hin - vielleicht zu "Anderen Helfen" oder Belletristik - und sei überhaupt nicht auf dringenden Hilfe angewiesen, ganz egal, woher. "Selbsthilfe" war schon für sich selbst genommen keine besonders hilfreiche Kategorie - Mrs. Brindle konnte sich nicht selbst helfen, deswegen hatt sie ja so viele dieser Bücher gekauft und unbefriedigend gefunden. Die Titel zwinkerten ihr zu wie die Vistienkarten frühlicher literarischer Trickbetrüger. Wie üblich gab es auch heute keine Abteilung "Angst Vorm Sterben" oder "Endgültiger Verlust". Das lag wohl an mangelnder Nachfrage. Oder an der geringen Kaufkraft der Leser, die vom Jenseits besessen waren. (A. L. Kennedy: Gleissendes Glück, S. 13f.)


Kertesz, Imre: Meine Bestimmung

  Auch ein schlechter Roman kann ja Freiheit bedeuten - nur kann sie nicht offenbar werden, gerade das Buch verhindert es. Inzwischen weiß ich zumindest: ich zerre vergebens am Halfter der schriftstellerischen Bestimmung, ihre teuflische Ironie hält mich gefangen. Was auch immer mein ursprünglicher Beweggrund gewesen ist, ich kann die Art dieses privaten Geschäfts nur rechtfertigen, wenn ich auch anderen etwas biete. In meiner geschundenen, zum Zuschlagen erhobenen Hand fand ich auf einmal einen Roman, den ich mit einer tiefen Verneigung als Festtagsgeschenk unter jedermans Weihnachtsbaum zu legen trachtete. (Imre Kertesz: Fiasko, S. 53)


Kertesz, Imre: Lust zu erkären

  "Ich schreibe keine Lustspiele mehr", sagte ich. "Was dann?" fragte Mynheer Peeperkorn. Weiß der Teufel, was mich ritt: anscheinend bekam ich Lust, mich zu erklären. Vielleicht tat ich es aus Ratlosigkeit, schließlich saß ich ja unter Kollegen. Mag sein, mir fiele beiläufig Goethes Rat ein, nach dem man sich, um seine dichterischen Werke vor dem Verschleiß zu bewahren, mit wohlgesinnten Sachverständigken über ihre Entstehung unterhalten soll, ihnen geschichtlichen Wert verleihend. (Imre Kertesz: Fiasko, S. 122f.)


Keun, Irmgard: Lese-Weisen

  Natürlich wird so ein Kurt Pielmann aufbauendes Lesematerial schicken - schon allein, weil er dann selbst glauben kann, er habe das Material gelesen. Ich kenne so was von meinem Vater und der Tante Adelheid und vielen anderen. Lesen ist denen viel zu anstrengend und langweilig. Jede Wette könnte man darauf eingehen, daß sie noch nicht mal "Mein Kampf" von Anfang bis Ende gelesen haben, ich habe es allerdings auch nicht. Aber sie haben es gekauft und auch mal reingeschaut und glauben dann auch selbst, sie haben alles gelesen. Der Heini hat mal gesagt: "Entweder sie kaufen ein Buch und lesen es nicht. Oder sie leihen ein Buch und geben es nicht wieder und lesen es auch nicht. Oder sie geben es wieder und haben es nicht gelesen. Aber sie haben so viel von dem Buch gehört und so viel Schwierigkeiten damit gehabt durch Gekauftwerden oder Wiedergebenmüssen, daß ihnen das Buch wirklich fast so vertraut ist wie das Hemd, das sie tragen. Und sie kennen das Buch, ohne es gelesen zu haben." Auf solche Weise hätten hunderttausend Deutsche Goethe und Nietzsche und andere Dichter und Philosophen gelesen, ohne sie gelesen zu haben. Und darin habe unsere etwas gemeinsam mit Goethe. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 29)


Keun, Irmgard: Armut

  Sie sind auch gar nicht mehr stolz auf mich, wie sie es noch im vorigen Jahr waren. Daß sie mein Bild in den Zeitungen, meine Bücher in den Auslagen sehen, kann ihnen überhaupt nicht mehr imponieren. Ein bekannter Schriftsteller ohne Geld, ohne materiellen Erfolg bekommt für seine Umgebung etwas verdächtig Hochstaplerisches. Er wirkt wie ein Herzog ohne Schloß und Dienerschaft. Im vorigen Jahr sahen sie noch mehr Ruhm als Armut. Unsere Armut schien ihnen mehr eine Theater-Armut, die Armut eines jungen Millionärs, den sein Vater zwang, mal für kurze Zeit den Ernst des Lebens zu erfahren. Jetzt erkennen sie meine Mittellosigkeit als dauerhaft und echt. So etwas haben die Leute nicht gern. (Irmgard Keun: Kind aller Länder)


Kishon, Ephraim: Der schreibende Freund

  "Einer meiner Freunde, ein Journalist, hat immer behauptet, daß ich an Verfolgungswahn leide. Jetzt hat er einen Roman geschrieben, der von einem bedeutenden Verleger veröffentlicht wird. 'Armer Junge', sagte ich zu ihm. 'Du warst ein glücklicher, zufriedener Mensch, solange du dich als Kritiker betätigt hast. Warum bist du ins andere Lager übergelaufen?' Jetzt ist es aus mit dem schönen Leben meines Freundes. In einigen Wochen, nach Erreichen des vierzehnten Platzes auf der Bestsellerliste, wird er völlig am Ende sein. Ein Nervenbündel inmitten all der anderen schreibenden Neurotiker. Und in spätestens einem Jahr werde ich mit ihm über seinen Verfolgungswahn sprechen." "Woher wissen Sie, daß sein Roman nicht durchfällt?" "Ich sagte ja, du würdest mich nicht verstehen. Wenn sein Buch ein Flop wird, wäre mein Freund gerettet. Nach einer Weile hätte er das Ganze vergessen und könnte so arrogant sein wie vorher. Gefährlich wird es, wenn sein Buch ein Erfolg wird. Dann muß er einen zweiten Roman schreiben. Gott steh ihm bei. (Ephraim Kishon: Eintagsfliegen leben länger)


Kishon, Ephraim: Weg des Schriftstellers

  Der Weg des Schriftstellers zu seinem Buch beginnt zwar tatsächlich am Schreibtisch, doch irgendwann wird er zum Spießrutenlauf, an dem eine Menge freundlicher Vampire teilnehmen: Verleger mit ihren bebrillten Sekretärinnen, besessene Korrekturleser, überforderte Herstellungsleiter, literaturbeflissene Lektorinnen, arbeitslose Graphiker, neue Redakteure und alte Drucker, die zwei Buchhalter in der dritten Etage, die provisorisch vakante Lizenzabteilung, schläfrige Buchbinder, die Lehrlinge aus der Presseabteilung, die PR-Mafia, der Rundfunk und das Fernsehen, Buchmessen, Signierstunden und als Epilog das Protestschreiben des Malers Ronald Lloyd Bialazurkowich gegen unerlaubten Gebrauch seines Namens auf Seite 22 dieses Buches sowie die Delegation der Klassenbesten der 2b, die um ein Interview für die Grundschulzeitung bitten. (Ephraim Kishon: Eintagsfliegen leben länger, S 17.)


Klein, Georg: Koeppen

 Meine Mutter war eine leidenschaftliche, aber auch wilde Leserin. Sie hatte keine höhere Schulbildung, trug jedoch an Büchern nachhause, was sie kriegen konnte. Wir lasen kreuz und quer Romane jeder Couleur. Ich weiß noch, Koeppen kam aus der Arbeitstasche meines Onkels Karl. Der war Elektriker und bekam vom Pförtner einer Druckerei, in der er oft zu tun hatte, Fehldrucke zugesteckt. Dieser Onkel, der um das Lesefieber bei uns wusste, stemmte seine Tasche immer auf den Küchentisch und sagte: "Schaut mal, ob für Euch was dabei ist". Für mich war eben Koeppen dabei. In der Lektüre hat er mich zu Anfang vollkommen überfordert. Schon die ersten Seiten waren gespickt mit griechischer Mythologie, dieser Bildungshorizont ließ sich zunächst nicht ausmessen. Aber ich wusste, ich muss darüber weglesen, um zu den schlüpfrigen Stellen zu kommen, auf die ich insgeheim wartete.


Klein, Georg: Literarischer Kanon (1)

  Der Kanon (...) - in seinem Kern ist er etwas weit Ärgeres, er ist eine jener ganz schlimmen Sachen, die sicherheitshalber einen in die Irre führenden Namen tragen. Um den literarischen Kanon zu verstehen, hilft es, ihn mit zwei Scheuklappen zu vergleichen. Wie diese ist er eine Vorrichtung, die zum Tunnelblick führt und ein gleichmäßiges Dahintrotten befördert. Die Scheuklappen machen das Pferd zur Mähre. Der Kanon verwandelt das Abschweifen, das spielerische Verharren, die Bocksprünge unserer Lektürewahl in einen zwanghaft steten Prozess. Der Kanon ist eine selbstgewählte Fron, die man von Buch zu Buch schreitend hinter sich bringt.


Klein, Georg: Literarischer Kanon (2)

  Warum nur sehnen wir Leser uns nach so etwas? Oder besser gefragt: Was muss unserem Lesevermögen, unserer Leserschaft zugestoßen sein, dass wir nach einer Erlösung durch Scheuklappen verlangen? Warum laufen wir Gefahr, dieser dogmatischen Versuchung nachzugeben? Haben wir nicht von unseren ersten Lesetagen an geahnt, dass es unendlich viele Bücher gibt? Und schien uns diese Unermesslichkeit nicht lange Zeit ein Glück? War uns das närrische Nebeneinander von großartigen und miserablen Werken, wie es jede Buchhandlung darbietet, lange Zeit nicht gerade recht? Wie ist aus dem Entzücken über den wunderbar-wüsten Überfluss die Klage über ein Zuviel geworden? Unsere Sehnsucht nach dem Kanon zeugt auf verräterische Weise davon, dass auch unser Lesevermögen einem Alterungsprozess unterworfen ist. Noch wollen wir lesen, aber das Gelesen-Haben- Wollen greift langsam um sich. Und irgendwann droht uns die Fülle der Literatur vom Objekt der Begierde zum Quell einer Angst zu werden. Vielleicht ist es eine Todesangst. Die Angst vor dem Tod unserer Fantasie. Die Poesie ist ewig, aber unsere Phantasie kann kränkeln, ja sterbenskrank werden. Ach, jedem wahren Leser, jeder wahren Leserin sollte erspart bleiben, aus einem solchen Siechtum der Fantasie in einen Tod zu Lebzeiten - in den Kanon! - flüchten zu müssen.


Klein, Georg: Zu Verbrennen

  Die Bücher, die ich Ihnen zu verbrennen rate, fallen ja keinem Gewaltregime zum Opfer und landen nicht bündelweise auf kollektiven Scheiterhaufen. Im Gegenteil: Jedes geht vereinzelt und gemäß Ihrer intimen Entscheidung den Weg ins Feuer. Gewiss fällt Ihnen gleich der eine oder andere Kandidat für diesen Flammentod ein. Das tintenfleckige Reclam-Heftchen, schon zu Schulzeiten ungeliebt - hat es nicht seit Jahren die Einäscherung verdient? Der nie gelesene Irrläufer, aus dem Bücherbestand eines verflossenen Lebensteilzeitbegleiters in Ihr Regal geraten - muss er Sie partout weiterhin an Liebesmissgeschick und Trennungsleid erinnern? Erlösen Sie die beiden aus einer Existenz, die diesen Büchern vielleicht selbst hochpeinlich ist! Und dann stehen da noch, Rücken an Rücken, die vielen Romane, denen die erste Lektüre sogleich jedes Mark ausgesogen hat. Leider Gottes sind die meisten Bücher so beschaffen, dass sie den einmaligen Zusammenstoß mit einer vitalen Leserin, mit einem starken Leser nicht überleben. Warum sollen die Opfer dieser Verkehrsunfälle in Ihrem Wohnzimmer ewig auf eine Wiederbeatmung warten? Vielleicht besitzen Sie einen Kaminofen. Oder Sie grillen gelegentlich im eigenen oder in einem fremden Garten. Sogar auf freier, feuchter Wiese dürfen Sie ein zentralheizungsgedörrtes Taschenbuch abfackeln, ohne sich gleich als Barbar fühlen zu müssen. Behalten Sie nur, was Sie zu einer erneuten Lektüre verlocken könnte! Und selbst diese Bücher - auch die von mir verfassten - sollten eines fernen Tages jüngeren Schreibwerken Platz machen. Gerade die Langgeliebten gehen dann ohne Klage. Denn wenn sie wirklich wahr und groß und gut gewesen sind, steht ihnen sogar das Verlangen nach Vergänglichkeit und damit die Sehnsucht nach dem erlösenden Feuer ins papierene Herz geschrieben.


Klemperer, Victor: Pageturner

  (Hans) Possendorf: Die Yacht Kaikai. Mit solchen wilden Unterhaltungsromanen ist es wie mit schlechtem Alkohol. Man komt nicht los u. liest bis 3 Uhr Nachts. Tags darauf ist man verkatert u. empfindet Leere. Der Anfang, das Thema ist immer spanend. Aber die Innerlichkeit fehlt, u. nachher wickelt sich eine Maschinerie ab. (...) Wiegesagt: die ersten 100 Seiten sind voller Filmspannung u. beinahe ernsthaft erzählt, aber dann geht alles in äußerlichster Räuberromantik unter. Es ist charakteristisch für diese Art Autoren, daß ihnen bei gutem Einfall nach gutem Anfang der Athem ausgeht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.1.1934]


Klemperer, Victor: Leihbibliotheken

  Ich hole jetzt Bücher aus zwei Leihbibliotheken. Leihbibliotheken (ohne Pfand) sind seit etwa ein, zwei Jahren pilzartig aufgegangen. In meiner Jugend gab es einige Leihbibliotheken, dann verschwand die Einrichtung so gut wie gänzlich, lebte nur in Badeorten – und jetzt überall, so häufig wie Chokoladengeschäfte, so häufig wie früher die kleinen Kneipen, selbst in den ärmlichsten Stadtteilen die Leihbibliotheken. Und doch ist der Geist niemals in Deutschland so angefeindet worden wie heute. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.2. 1934]


Klemperer, Victor: Literarischer Fusel

  Wenn Intellektuelle Triviales lesen: " Der Schluß solch eines Criminalromans ist immer so leer u. nichtig, daß man sich über die Affektvergeudung an die vorangegangene Lektüre bitterlich ärgert. Und doch: fünf, sechs Wochen ernsthafte Lektüre, u. man greift wieder zum Fusel eines Edgar Wallace." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.9.1934]


Klemperer, Victor: Klassisch schreiben

  Klassisch schreiben heisst einfach schreiben. Nicht affektiert, also auch nicht ZU einfach, denn das ist affektiert. Auch nicht vom Sprachgebrauch seiner Zeit abweichen, heut etwa ein Goeth[e]deutsch schreiben, denn das ist wieder affektiert. Aber auch nicht den Sprachgebrauch der Zeit mit aktueller Sprache verwechseln, denn alles Aktuelle ist schon morgen veraltet. (...) Man hat immer die Wahl zwischen dem Aktuellen und dem Dauernden; beides zusammen geht nicht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.8.1938]


Klima, Ivan: Macht der Literatur

  Vor dem Tod fürchtete ich mich jedoch sehr, ich fürchtete mich so sehr, daß ich nicht einmal in den Spiegel zu schauen wagte. So verbrachte ich Wochen in diesem Bannkreis, bis meine Mutter mir einmal die drei Bände von "Krieg und Frieden" brachte; sie legte sie auf das Tischchen neben dem Kanapee und verbot mir, sie selbst zur Hand zu nehmen, sie seien zu schwer. Ich war wirklich geschwächt, aber als Mutter mir den ersten Band gereicht hatte, stützte ich ihn gegen die Knie und las im Liegen. So geriet ich allmählich in einer andere Gesellschaft. Manchmal dachte ich daran, daß auch die Menschen, von denen ich las, schon tot waren und auch dann hätten sterben müssen, wenn der Tod sie auf den Buchseiten nicht ereilt hätte. Doch obwohl sie tot waren, lebten sie. Und ich wurde mir der seltsamen Macht der Literatur oder überhaupt der menschlichen Phantasie bewußt: der Macht, auch die Toten leben und die Lebenden nicht sterben zu lassen. Ich staunte über dieses Wunder, über die magische Macht des Schriftstellers, und in mir begann sich der Wunsch zu regen, etwas Ähnliches schaffen zu können. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 42f.)


Klinger, Friedrich Maximilian: Faust

  Vernehmt nun die Veranlassung zu dem Feste, das ich heute mit euch feiern will. Faust, ein kühner Sterblicher, der gleich uns mit dem Ewigen hadert, und durch die Kraft seines Geistes würdig werden kann, die Hölle einst mit uns zu bewohnen, hat die Kunst erfunden, die Bücher, das gefährliche Spielzeug der Menschen, die Fortpflanzer des Wahnsinns, der lrrtümer, der Lügen und Greuel, die Quelle des Stolzes, und die Mutter peinlicher Zweifel, auf eine leichte Art tausend und tausendmal zu vervielfältigen. Bisher waren sie zu kostbar, und nur in den Händen der Reichen, blähten nur diese mit Wahn auf, und zogen sie von der Einfalt und Demut ab, die der Ewige zu ihrem Glück in ihr Herz gelegt hat, und die er von ihnen fordert. Triumph! bald wird sich das gefährliche Gift des Wissens und Forschens allen Ständen mitteilen! Wahnwitz, Zweifel, Unruhe und neue Bedürfnisse werden sich ausbreiten, und ich zweifle, ob mein ungeheures Reich sie alle fassen möge, die sich durch dieses reizende Gift hinrichten werden. (Friedrich Maximilian Klinger: Faust's Leben, Thaten und Höllenfahrt)


Klüger, Ruth: Orange County

  Orange County behandelt die Vergangenheit so mißtrauisch wie die Ausländer und die Fremdsprachen, und ebenso sorgfältig pflegt es sein knowhow in Sachen Elektronik und Sport. Die Leute sind weder dumm noch uninformiert, man liest, aber keine Bücher, sondern Zeitungen und Zeitschriften, Wegwerfbares. Und wenn Bücher, dann die billigen Paperbacks, die es in den Supermärkten gibt. Auch diese wegwerfbar. In den Wohnungen und Häusern sieht man selten ein volles Bücherregal. Meist stehen ein paar Bücher neben Vasen und Nippessachen. Eine Privatbibliothek kommt den Kaliforniern wie ein Antiquariat vor. Und den Südkaliforniern, die Antiquariate kaum kennen, wie eine unhygienische Ansammlung von Altpapier. (Ruth Klüger: Weiter leben)


Klüpfel/Kobr: Der Hammer

  Der Geistliche öffnete die Flügeltür und bedeutete dem Kommissar, einzutreten. (...) wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt, als sie die Bibliotheksräume betraten. Er kannte von der Abtei lediglich die weltberühmte Kirche. Hier war er noch nie gewesen, doch was er sah, verschlug ihm die Sprache: Der Raum war nicht weniger imposant als das Gotteshaus, vielmehr war er selbst eine Kathedrale. Eine Kathedrale des Wissens. Prächtige, goldverzierte Säulen säumten den riesigen Saal, dessen Mitte eine weiß-goldene Statue markierte. Ein kunstvoll gedrechseltes Geländer lief rund um die Galerie im ersten Stock und zog den Blick unweigerlich in die Höhe zu der prächtigen, über und über mit Stuck und Fresken verzierten Decke. Dieser Raum hätte jedem Schloss zur Ehre gereicht. Doch das Besondere waren die unzähligen Bücher, die sich in den Regalen an den Wänden befanden: mächtige Folianten von sicherlich ebenso großem Wert wie die Kunstwerke drum herum, vermutete Kluftinger. Frater Quirin beobachtete ihn von der Seite mit einem amüsierten Lächeln. "Wenn wir die Gabe des Staunens verlieren, verlieren wir die Gabe, Mensch zu sein", sagte er schließlich. Erst jetzt wurde dem Kommissar bewusst, dass sein Mund offen stand. Er räusperte sich: "Also, ich muss schon sagen, das ist wirklich …", er suchte nach dem rechten Wort, "… der Hammer." (Volker Klüpfel; Michael Kobr: Grimmbart. Kluftingers achter Fall)


Kluge, Alexander: Landkarten menschlicher Erfahrungen

  Bücher, das ist für mich nicht das bedrucktes Papier. Sie sind Landkarten menschlicher Erfahrung. Für mich selbst sind Bücher die Verbindung zu Autoren, zu deren Texten ich Vertrauen habe (...) Das ist wie ein zweites Gemeinwesen. In einer Zeit, in der wir nicht wissen, wie rißfest die Wirklichkeiten sind, sind Netzwerke über 2000 Jahre, wie sie die Bücher darstellen, kein Luxus, kein Freizeitbedarf, sondern notwendiges Überlebensmittel. Es ist diese Vertrauenswürdigkeit, wegen der ich die Bücher allen anderen Medien vorziehe. (...) Einen Leser stelle ich mir bildlich in der Dämmerung unter einer Lampe sitzend vor, allein lesend. Zwei Intimitäten, die des Autors, die des Lesers, korrespondieren miteinander. Ihr Thema heißt: gemeinsame Erfahrung. So bilden sie (mit vielen anderen) die Öffentlichkeit der Bücher: Ich bin allein, aber ich bin nicht wirklich allein.


Kluge, Alexander: Netzwerk Bücher

  Bücher sind weder Schonkost, noch sind sie Trostmittel. Aber ihr Netzwerk tröstet. Vor seinem Tod kaufte Heiner Müller, seine erste Operation hatte er hinter sich, ich bin sicher, daß er wußte, daß er nicht mehr lange leben wird, in Kalifornien ein seltsames Buch: eine Übersetzung von Ovids Metamorphosen aus dem Lateinischen übersetzt in englische Blankverse, etwa 300 Jahre alt. Dieses Buch führte er zuletzt immer mit sich und eigentlich sollte eine Serie von Theaterstücken aus dieser Wurzel entstehen. Solche Bündnisse über die Zeiten bilden die Mehrheit, an die in unserer zweiten "Welt der Nacherzählung" ich innig glaube, weshalb ich Bücher für eine Gottesgabe halte und für die Schlüssel zu einer Öffentlichkeit, an der wir, möglicherweise ohne es zu wissen, längst gemeinsam arbeiten.


Knoche, Michael: Relikt oder Hort?

  Zu welchem eigentlichen Zweck werden die Bücherinstitute aus einer anderen Zeit weiterbetrieben? "Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit", hat Leibniz gesagt. Bibliotheken sichern das Material für den Prozess unserer kulturellen Selbstverständigung. Eine Gesellschaft, die über die Grundlagen ihres Zusammenlebens immer wieder einen Konsens herstellen muss, braucht ein funktionierendes Reservoir der geistigen Überlieferung. Die Bücher in der Bibliothek – Inhalt, äußere Gestalt und Schicksal zusammengenommen – repräsentieren die wirkungsmächtigen Hauptstrecken der Tradition, aber auch ihre vergessenen Irr- und Umwege, also die kanonisierten und ausgegrenzten Linien gleichermaßen. Jede alte Bibliothek bewahrt etwas auf, was in keiner anderen zu finden ist. Je weiter man in die Geschichte zurückgeht, umso unähnlicher werden die Bibliotheken in ihren Beständen. Deshalb ist jede Bibliothek mit historischen Beständen von Wichtigkeit für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Jede Epoche aktiviert sie in neuer Weise. (Michael Knoche)


Koch, Michael: Autor, Leser, Kritiker

  Ich denke ja immer noch, dass ich nur ein gutes Buch schreiben kann, wenn ich massiv auf Gedankenstromtechnik zurückgreife. Wortwitz ist, zusammen mit Sprachrhythmus, bei dieser Technik wichtiger als alles andere. Der Leser muss in den Strom hineingezogen werden, muss reinkommen in das eigene Denken, muss das Gefühl bekommen, dass er vorausahnen kann, was vom Autor vorgedacht wurde, wird dann aber wieder durch einen unerwarteten Kommentar überrascht und somit noch stärker an den Strom gebunden, der für den Leser als Leitfaden durch das Denken des Autors dient. Die Handlung ist dabei irrelevant und bildet lediglich den Rahmen in dem die Sichtweise des Autors offenbart wird. [x]

  Ein Autor hat es ja immer leicht. Veröffentlicht er erstmal sein Werk, so wird die Hauptarbeit, nämlich die Auslegung des Textes, von Horden von Literaturrezensenten übernommen. Sie übertragen den Text auf die heutige Zeit, den Nationalsozialismus oder nach Tibet. Und in jedem Stück Text kann man tagesaktuelle, geschichts- und gesellschaftskritische Stellen entdecken, wenn man nur lange genug danach sucht. Auch wenn sie gar nicht da sind. Der Leser akzeptiert eine der Interpretationen, vornehmlich die, die am besten auf sein Leben passt, und ist vom Werk hellauf begeistert. (©  Michael Koch)


Köhler, Andrea: Das Neue

  Weil das Neue in der Literatur unter avantgardistischem Generalverdacht steht, man aber trotzdem nicht darauf verzichten zu können glaubt, hat sich die Kritik in Ermangelung präziser poetologischer Kriterien angewöhnt, von einem "ganz neuen Ton" zu sprechen. Das "Neue" muss offenbar immer neu konstatiert werden. Nachdem die Postmoderne die unbekümmerte Wiederkehr schöner Gestrigkeit und die sogenannte Popliteratur uns eine neue Spielart des Jugendbuchs beschert haben, ist das Neue der ästhetischen Form allein vielleicht nicht mehr zuzumuten. Musil sprach davon, dass die Literatur die Konkurrenz der aktuellen wissenschaftlichen Systeme nicht nur aushalten, sondern überbieten müsse. Diese Forderung liesse sich heute leicht übertragen auf die neuen Medien oder die neuen Technologien. Dann müsste die Literatur den technologischen Vorsprung mit ihren Mitteln zu überflügeln versuchen. Es leuchtet sofort ein, dass sie dabei schnell den Kürzeren zöge. Vielmehr scheint, auch wer die Nanotechnik zum Sujet seines Schreibens wählt, nicht umhinzukönnen, sich auf das zu besinnen, was die Literatur immer schon besser konnte als alle Medien zusammengenommen: die Konventionen der Weltbetrachtung im Kopf auseinander zu nehmen und im Kosmos der Buchstaben wieder zusammenzusetzen. Auch das ist die wiederkehrende Dauer des Neuen. (Andrea Köhler)


Köpf, Gerhard: Lesesessel

  Außerdem stand da noch der geliebte Lesesessel mit verstellbarer Rückenlehne und ausziehbarem Fußteil: eine durchdachte Konstruktion, die selbst eine ausgiebige Siesta ohne Bandscheibenvorfall ermöglichte. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 41)


Köpf, Gerhard: Beginn des Zweifels

  Da begann der alte Herr zu zweifeln. Er zweifelte mit jener bohrenden Gründlichkeit an sich, mit der er früher seine wissenschaftlichen Arbeiten verfaßt hatte. Obgleich er leidenschaftlich gerne las, hatte er sich vorgenommen, solche Lektüre zu meiden, die seine Resignation nur beförderte, anstatt sie zu mildern. Aber er konnte so wenig vom Lesen lassen wie vom Rauchen. Mitunter fand er sich jedoch vor seinen Regalen ohne zu wissen, was er eigentlich suchte. Schritt er seine Bücherwände ab, oder waren es die Heldengräber seiner geistigen Emigrationsarmee? Nach und nach zweifelte er an den Möglichkeiten seines Glücks, und alle Entwürfe des Lebensabends schienen bereits widerlegt. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 14)


Köpf, Gerhard: Getöse um alte Knacker

  Ich habe nie verstanden, warum die Literaten ein derartiges Getöse um die Angelegenheit von alten Knackern und jungen Dingern machen. Wir Mediziner sind da ungleich nüchterner, wenngleich ich mir die Liste Deiner Belege durchaus vorstellen kann. Du wirst mir von Chaucer bis Svevo, von Philipp Roth bis Garcia Marquenz, von Cervantes bis Martin Walser auf Anhieb alle jene Belegstellen zu den fragwürdigen 'Herrenreitern in Not' aufzählen können, die sich um einen letztlich lächerlichen Sachverhalt drehen, der nicht umsonst als Topos in die Geschichte der menschlichen Komödie eingegangen ist. Komm mir jetzt bitte nicht mit Goethe und Ulrike von Levetzow, sondern denk lieber an das schreckliche Ende von Humbert Humbert und Lolita. Lieber Freund, Du kennst doch Deinen Cicero. Und was ruft er Dir zu? 'Otium cum dignitate' Halte Dich daran, dann bleiben Dir Peinlichkeiten ebenso erspart wie unnötiger hormoneller Kummer. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 84)


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