Bibliomanische FAB  / [I-L]


A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z   [^] 

Indridason, Arnaldur: In der Bibliothek

  Pálmi fühlte sich nirgends wohler als in einer Bibliothek. In der früheren Nationalbibliothek an der Hverfisgata, wo er besonders gern gewesen war, konnte er tagelang sitzen, ohne im eigentlichen Sinne etwas zu machen. Aus purer Neugierde schmökerte er in alten Zeitschriften und dicken Büchern. Es gab diverse andere Stammkunden, aber er war sicherlich der jüngste. Manchmal betrachtete er die anderen Bibliotheksbesucher und stellte sich vor, wie er im Alter genauso dort sitzen würde, in abgewetztem Anzug und ausgetretenen Schuhen; er würde alte Wälzer mit einer Lupe in Augenschein nehmen und etwas in ein Notizbüchlein kritzeln, der Himmel mochte wissen, was. (Arnaldur Indridason, Menschensöhne)


Isegawa, Moses: Verläßlicher Fluchtweg

  Ich stürzte mich wieder auf die Bücher, etwas anderes blieb auch kaum übrig. Das Leben war reglementiert und öde. Selbst der Sport war langweilig, nur während der alljährlichen schulinternen Wettkämpfe kam Spannung auf. Die zahlreichen kirchlichen und liturgischen Aktivitäten nahmen einem die Luft zum Atmen. Während die anderen sich, von gelegentlichen draufgängerischen Ausfällen abgesehen, ganz der Langeweile überließen, verlor ich mich in meinen Leseerlebnissen. Das geheime Universum zwischen den staubigen Buchdeckeln und die aufregenden Funde, die man in Büchern machte, von denen man es am wenigsten erwartete, faszinierten mich. Hinter den unscheinbarsten Umschlägen verbargen sich spektakuläre Kriege, Abenteuer, Morde, Liebesaffären und Charaktere, ganze terrae incognitae, die es zu erforschen galt. Inmitten von Betrug, Heuchelei und der Angst vor den überall lauernden Denunzianten, die sich jedes Wort, das man sagte, merkten, boten die Bücher einen verlässlichen Fluchtweg in die sichere, friedlichere Welt der Phantasie und der Ideen. Viele von ihnen gruben sich tief ins Gedächtnis ein und entpuppten sich als ausgewachsene Dämonen, die einen ein Leben lang verfolgten. (Moses Isegawa: Abessinische Chronik, S. 278)


Isler, Alan: Der da stiehlet eyn Buch

  Ihm, der da stiehlet eyn Buch aus dieser Bibliothek, möge es werden eyn Feuerzeychen in seyner Hannd, auf dasz sie bedecket sey mit Blattern und Blasen. Geschlagen sey er mit schwitzender Schwaere unnd verdorren moege seyn Gemaecht. Lasz ihn darben in unbeschreiblichem Schmerz, vergeblich rufe er umb Gnaden und von Elend fliesze über seyn Kelch. Kein Ende sey seyner Qual bis zur letzten Stunde der Verwesung. Diweylen aber moegen Buecherwuermer seyn zuckend Gedärm benagen mit scharfen Zähnden ohn Unterlasz, eyn Zeychen des Gewürmbes, des uns ferdarb Eden und das unsterblich herrschet über die Suendiger. Und gehet der Dieb endtlich zu seyner letzten Statt, zu empfangen die Straffe im Thale Scheol, so moegen ihn heymsuchen ohn Gnad die Flammen von Gehenna und ihn verzehren auf immer und ewiglich. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S. 99)


Irving, John: Überschneidungen

  Wenn mir eine Szene in einer Geschichte gut gefällt, setze ich sie gern in anderer Form in einem anderen Roman noch mal ein. Warum auch nicht? Das ist eine Art, den Lesern zu sagen: Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Ihr habt es also gemerkt! Das macht Spaß. Ich glaube sogar, dass meine echten Fans auch Spaß an diesen kleinen Überschneidungen haben. Ich sehe das ja bei mir selbst: Mir gefällt es wahnsinnig gut, wie in Katz und Maus dieser Idiot mitten am Strand seine Trommel schlägt. Wenn Sie je Die Blechtrommel gelesen haben, wissen Sie auch, dass dieser Junge Oscar Matzerath ist. (Aus einem Interview)


Irving, John: Lektüre der Frau

  Der Filmgeschmack des Doktors stand in krassem Gegensatz zu dem, was seine Frau gerne las. In diesem Urlaub hatte sich Julia die Autobiographie von Antony Trollope mitgenommen, aber Farrokh hatte wenig Lust, sich Teile daraus anzuhören. Julia las ihm gerne Passagen aus Büchern vor, die sie besonders gut geschrieben oder amüsant oder anrührend fand, aber Farrokhs Vorurteil gegenüber Dickens erstrecktes sich auch auf Trollope, dessen Romane er nie zu Ende gelesen hatte und dessen Autobiographie er gar nicht erst in die Hand nehmen wollte. Julia bevorzugte im allgemeinen Romane, aber Farrokh vermutete, daß die Autobiographie eines Romanciers fast schon als Fiktion gelten durfte - sicher konnten Romanautoren der Versuchung nicht widerstehen, ihre Autobiographie zu erfinden. Leider war die einzige andere Lektüre seiner Frau ein Roman, der Farrokh ziemlich beunruhigte. Er hatte einen Blick hineingeworfen, als Julia nicht hersah, und festgestellt, daß er sich erbarmungslos, ja geradezu zwanghaft mit Sexualität beschäftigte. Außerdem war der Autor Dr. Daruwalla völlig unbekannt, was ihn ebenso massiv einschüchterte wie die unverblümte Erotik. Es war einer dieser ausgesprochen gekonnten Romane, hervorragend, in klarer Prosa, geschrieben - das konnte Farrikh beurteilen-, und auch das schüchterte ihn ein. Dr. Daruwalla fing jeden Roman gereizt und voller Ungeduld an. Julia las langsam, als wolle sie sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen, während Farrokh wie gehetzt vorwärtsstürmte und dabei eine Liste kleinlicher Beschwerden an den Autor sammelte, bis er auf irgend etwas stieße, das ihn davon überzeugte, daß der Roman lesenswert war - oder bis ihn ein grober Schnitzer oder abgrundtiefe Langeweile dazu bewog, das Buch zuzuklappen. Sooft Farrokh einen Roman ad acta legte, schalt er Julia wegen des sichtlichen Vergnügens, das ihr die Lektüre bereitete. Seine Frau war eine Leserin mit breitgefächertem Interesse, die fast alles, was sie anfing, auch zu Ende las; ihre Unersättlichkeit schüchterte Dr. Daruwalla ebenfalls ein. (John Irving: Zirkuskind, S. 272)


Irving, John: In der Bibliothek

  Als sie wieder im Ambassador saßen, wies der Doktor Vinod an, sie in die Bibliothek der Asiatischen Gesellschaft am Horniman Circle zu fahren. Das war eine der wenigen Oasen in dieser von Menschen wimmelnden Stadt - ähnlich wie der Duckworth Club und St. Ignatius-, wo Dhars Zwillingsbruder, wie der Doktor hoffte, in Sicherheit wäre. Dr. Daruwalla war Mitglied bei der Bibliothek der Asiatischen Gesellschaft, in deren kühlen Leseräumen mit den hohen Decken er schon manchen Stunden gedöst hatte. Die überlebensgroßen Statuen der Schriftsteller-Genies freilich hatten kaum vor dem Drehbuchautor Notiz genommen, wenn er leise und bescheiden die imposante Treppe hinauf- oder hinunterging. "Ich bringe Sie in die großartigste Bibliothek von ganz Bombay", verkündete Dr. Daruwalla Martin Mills. "Fast eine Million Bücher" Und genausoviele Büchernarren!" (...) "Ich mag bibliophile Menschen", sagte Martin Mills gerade, als sie die Treppe hinaufgingen. Seine Stimme hallte. Der Scholastiker redete viel zu laut für eine Bibliothek. "Hier gibt es mehr als achthunderttausend Bücher", flüsterte Farrokh. "Darunter zehntausend Handschriften!" "Ich bin froh, daß wir einen Augenblick allein sind", sagte der Missionar mit einer Stimme, die die schmiedeeisernen Gitter der Loggia vibrieren ließ. "Schsch!" sagte der Doktor. Die marmornen Statuen sahen stirnrunzelnd auf sie herab. Die achtzig oder neunzig Bibliotheksangestellten hatten diese stirunrunzelnden Mienen vor langer Zeit übernommen, und Dr. Daruwalla sah voraus, daß der Scholastiker mit seiner dröhnenden Stimme bald von einem dieser in Pantoffeln herumschlurfenden, zänkischen Burschen, die durch die verstaubten Winkel der Bibliothek der Asiatischen Gesellschaft huschten, zurechtgewiesen würde. Um einen Auftritt zu vermeiden, schob der Doktor Martin in einen leeren Leseraum. ((John Irving: Zirkuskind, S. 712)


Irving, John: Gerade fertig geworden

  Als ich, kurz nachdem mein erstes Buch erschienen war, nach Hause ging, um meine Eltern zu besuchen, empfing mich meine Mutter auf eine Weise an der Tür, die zu einem Ritual für alle meine Veröffentlichungen werden sollte. Sie sei gerade mit meinem Buch fertig geworden, sagte sie mir und drückte mir dabei die Hände; sie sei überrascht, wie sehr es sie bewegt habe, und (während wir auf Zehenspitzen durch die Halle gingen) mein Vater werde eben gerade damit fertig. Sie glaube, ihm habe gefallen, was er "bis jetzt" gelesen habe. Und wir stahlen uns durch das alte Haus und näherten uns meinem Vater in seiner Höhle, wie man sich an ein unberechenbares Tier heranschleichen würde, von dem es hieß, es "werde gerade" mit seinem rohen Fleisch "fertig". Es wäre nicht tunlich aufzutauchen, solange es noch fraß. Wir umringten den eingesunkenen Lesesessel meines Vaters. Hinter ihm stehend, erkannte ich, daß er schlief. Er hatte die Eigenheit, seinen Scotch zwischen den Oberschenkeln einzuklemmen, wenn er einschlief; irgendwie entspannte er nie die Muskeln, und der Drink wurde nie verschüttet. Und überall um ihn herum waren Bücher aufgeschlagen, Bücher, mit denen er "gerade fertig wurde". Gewöhnlich lagen mindestens zwei in seinem Schoß. Eines davon war meins, aber es war unmöglich zu erkennen, welches ihn in Schlaf versetzt hatte. Ich sah nie ein fertig gelesenes Buch in seinem Haus. Er sagte mir einmal, die Schlüsse aller Bücher stimmten ihn überwältigend traurig. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 36)


Irving, John: Kritiker

  Dank Dickens habe ich sogar eine bleibende Vorstellung von einem Kritiker: Es ist Bentley Drummle, "der zweitnächste Erbe eines Baronettitels" und "ein so mürrischer Bursche [...], daß er sogar ein Buch zur Hand nahm, als hätte ihn der Autor persönlich damit beleidigt". (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 171)


Irving, John: Sentimentalitäten

  Geht ein Schriftsteller das Risiko ein, sentimental zu sein, ist er beim modernen Leser nur allzuoft bereits abgeschrieben. Er ist jedoch feige, wenn er Sentimentalität so sehr fürchtet, daß er ihr ganz aus dem Weg geht. Es ist typisch - und entschuldbar -, daß junge Schriftsteller sich bemühen, Gefühlsduseleien zu vermeiden, indem sie ihre Personen keinen emotionalen Extremen aussetzen oder sich ganz einfach weigern, über Menschen zu schreiben. (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 178)


Irving, John: Dickens

  Dickens schrieb ganz ungeniert für seine Leser. Er schimpft mit ihnen, er verführt sie, er schockiert sie, er gibt ihnen Slapstick-Szenen und hält ihnen Predigten. Sein Ziel war es, schreibt Johnson, "ihnen nicht den Magen umzudrehen, sondern ihr Herz anzurühren". Ich habe jedoch den starken Verdacht, daß Dickens heute, da die Herzen härter geworden sind, danach gestrebt hätte, auch Mägen umzudrehen, da dies das einzige Mittel ist, wie man diese verhärteten Herzen noch erreichen kann. (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 198)


Irving, John: Hannahs Mutter

  Ruth hatte Hannahs Mutter, die von einer geradezu extremen Freundlichkeit und Gutmütigkeit war, von Anfang an gern gemocht. Sie las ungeheuer viel; eigentlich sah man sie nie ohne ein Buch. Mrs. Grant hatte Ruth einmal erklärt, sie habe deshalb nur ein Kind bekommen, weil ihr nach Hannahs Geburt die viele Zeit, die ihr früher zum Lesen geblieben war, gefehlt habe. Hannah behauptete, ihre Mutter habe es kaum erwarten können, daß sie alt genug wurde, um sich allein zu vergnügen, damit sie sich wieder ihren Büchern zuwenden konnte. Und Hannah "vergnügte sich" wahrhaftig! (Vielleicht war ihre Mutter schuld daran, daß sie eine so oberflächliche und ungeduldige Leserin wurde.) (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 364)


Irving, John: Ein öffentliches Ereignis

  Um einen Roman zu schreiben, braucht man Ruhe und Abgeschiedenheit. Schreiben schreit förmlich nach einem zurückgezogenen Leben. Im Gegensatz dazu ist das Erscheinen eines Buches ein beunruhigend öffentliches Ereignis. Und mit diesem öffentlichen Teil des Bücherschreibens war Ruth noch nie gut zurecht gekommen. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 445)


Irving, John: Am Ort bleiben

  In seinen ersten vier Jahren als Polizist, in denen er im Westteil der Stadt Dienst tat, hatte er seine Uniform viel öfter getragen. Die Wohnung dort hatte er behalten, nicht weil er zu faul gewesen wäre umzuziehen, sondern weil er den Luxus genoß, zwei funktionierende Kamine zu haben, einen davon im Schlafzimmer. Er konnte sich keinen größeren Genuß vorstellen als ein flackerndes Feuer und Bücher; Harry liebte es, am Kamin zu lesen, und er besaß so viele Bücher, daß es ein Unding gewesen wäre umzuziehen. (John Irving: Witwe für ein Jahr)


Irving, John: Harry

  Harrys Frauen beklagten sich auch über sein Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Er las lieber ein Buch, als daß er zuhörte. Und reden mochte er schon gar nicht. Lieber zündete er ein Feuer an, legte sich ins Bett und betrachtete das flackernde Licht an der Decke und an den Wänden. Er las auch gern im Bett. Manchmal fragte sich Harry, ob nur seine Freundinnen eifersüchtig auf Bücher waren. Seiner Meinung nach war das grundsätzlich unsinnig. Wie konnte man auf Bücher eifersüchtig sein? Besonders unsinnig fand er diese Einstellung bei Frauen, die er in einer Buchhandlung kennengelernt hatte. Und Harry hatte viele Frauen in Buchhandlungen kennengelernt; andere, wenn auch nicht mehr so viele in letzter Zeit, hatte er im Fitneßstudio kennengelernt. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 599)


Irving, John: Entschädigung durch Kritik

  Bisher sind erst zwei Bücher mit Short storys von ihm erschienen, fragile Erzählgebilde, so karg, daß weite Teile der Geschichte ausgelassen wurden. Die Absatzzahlen seiner Bücher sind niedrig, doch dafür wurde er durch jene unqualifizierte Bewunderung seitens der Kritik entschädigt, die unverständlicher Literatur häufig zuteil wird. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 462)


Irving, John: Die falschen Bücher

  Er genoß es, eine Freundin zu haben, die so viel las wie er, wenn auch seiner Ansicht nach die falschen Bücher. Natasja las Sachbücher von Autoren, die die Welt verändern wollten; sie las Traktate. Es waren zumeist linksgerichtete Bücher voller Wunschvorstellungen, und Harry glaubte nun mal nicht, daß man die Welt (oder die menschliche Natur) verändern konnte. Sein Job war es, die Welt, so wie sie war, zu verstehen und zu aktzeptieren; und bildete sich gern ein, daß er vielleicht dazu beitrug, diese Welt ein kleines bißchen ungefährlicher zu machen. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 602f.)


Irving, John: Keine Weltverbesserer

  Er las Romane, weil er darin die besten Beschreibungen der menschlichen Natur fand. Die Autoren, die Harry bevorzugte, gingen nie von der Voraussetzung aus, daß sich am Verhalten der Menschen, und sei es noch so übel, etwas ändern ließ. Mag sein, daß sie diesen oder jenen Charakterzug moralisch mißbilligten, aber sie waren keine Weltverbesserer. Sie waren Geschichtenerzähler, die überdurchschnittliche Geschichten zu erzählen hatten, und wenn sie gut waren, erzählten sie Geschichten von glaubhaften Figuren. Am liebsten mochte Harry Romane mit kompliziert ineinander verwobenen Geschichten, die von lebensechten Menschen handelten. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 603)


Irving, John: Harrys Romangeschmack

  Harry hatte nichts dagegen, wenn ein Buch witzig geschrieben war, aber wenn der Autor ausschließlich humorvoll (oder bissig) schrieb, war Harry enttäuscht. Er mochte gesellschaftlichen Realismus, allerdings nicht, wenn es dem Autor völlig an Phantasie fehlte und seine Geschichte zu wenig Rätsel aufgab und den Leser zu wenig fesselte. (Ein Roman über eine geschiedene Frau, die ein Wochenende in einem Hotel am Meer verbringt, wo sie einen Mann sieht, mit dem sie sich eine Affäre ausmalt - ohne daß es dazu kommt; sie fährt einfach wieder nach Hause-, wurde seinem Anspruch an einen Roman nicht gerecht.) Natasja Frederiks bezeichnete Harrys Romangeschmack als "eskapistisch", aber Harry vertrat hartnäckig den Standpunkt, Natasja sei diejenige, die mit ihren idiotischen Sachbüchern voll müßiger Wunschvorstellungen, wie man die Welt verändern müsse, aus ebendieser Welt floh. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 604)


Irving, John: Kinos

  "Du kannst mich doch besuchen, Zuckerbär. Ich bin sicher, daß sie dort Kinos haben, trotz all der Schriftsteller. Wahrscheinlich haben sie Kinos, um die Schriftsteller in den Wahnsinn zu treiben." (John Irving: Bis ich dich finde, S. 427)


Irving, John: Verbissenheit

  "Er ist nackt auf dem Klo zusammengeklappt, und ich hab bloß ein Klo", sagte Pam zu Dominic, ohne Jane anzusehen. "Hoffentlich hat er nur gelesen", erwiderte der Koch. Ketchum arbeitete sich unermüdlich durch Dominics Bücher, die eigentlich dessen Mutter und Rosie gehört hatten - ihre geliebten Romane. Für einen Mann, der in Dannys Alter schon nicht mehr auf der Schule war, verschlang Ketchum die geborgten Bücher mit einer an Wahnsinn grenzenden Verbissenheit. Wenn er dem Koch die Bücher zurückgab, waren auf fast jeder Seite Wörter umkringelt - es gab keine unterstrichenen Passagen, auch keine ganzen Sätze, sondern nur einzelne Wörter. (Danny fragte sich, ob seine Mom Ketchum so das Lesen beigebracht hatte.) (John Irving: Letzte Nacht in Twisted River, S. 106)


Irving, John: Fremde Lektüreauswahl

  Meine Mom hatte Richard gebeichtet, ich sei kein großer Leser, woraufhin Richard herausfand, dass meine Mutter und Großmutter aus unserer Stadtbibliothek Bücher mit nach Hause brachten, damit ich sie las ... was ich dann meistens nicht tat. Die anderen Bücher, die in meinem Leben auftauchten, überließ mir meine anmaßende Tante Muriel, meist Liebesromane, die meine ruppige ältere Cousine gelesen und für schlecht befunden hatte. (...) Die Bücher, die meine Mutter und meine Großmutter aus der Stadtbücherei von First Sister mitbrachten, waren (wenn es hoch kam) Abenteuerromane: Seefahrerromane, gern mit Piraten, oder Western von Zane Grey; am allerschlimmsten waren die extrem unglaubhaften Science-Fiction-Geschichten. Merkten meine Mom und Nana Victoria denn nicht, dass mich schon das Leben auf der Erde verwirrte und ängstigte? Ich brauchte keine Anregungen aus fernen Galaxien und von unbekannten Planeten. Und bereits die Gegenwart war mir unbegreiflich genug, ganz zu schweigen von dem täglichen Schrecken, missverstanden zu werden; schon über die Zukunft nachzudenken war für mich ein Alptraum. (John Irving: In einer Person)


Irving, John: Komm schon, in die Bibliothek!

  "Warum sucht sich denn Bill nicht selbst die Bücher aus, die er lesen möchte?", fragte Richard Abbott meine Mutter. "Bill, du bist doch dreizehn? Was interessiert dich denn so?" Von meinem Grandpa Harry und meinem immer freundlichen Onkel Bob (dem mutmaßlichen Trinker) abgesehen, hatte mir noch nie jemand diese Frage gestellt. (...) "Ich interessiere mich für mich", sagte ich. "Welche Bücher gibt es über jemanden wie mich?", fragte ich Richard Abbott. "Oh, du wärst überrascht, Bill", sagte Richard zu mir. "Den Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz ... das Erwachsenwerden ... haben viele großartige Romane erkundet. Na komm, sehen wir mal nach." (...) "Richard kann mit Bill doch in unsere kleine Stadtbibliothek gehen, Vicky", sagte Grandpa Harry. (...) "Jede Wette, dass Miss Frost die Bibliothek abends meist bis neun Uhr offen lässt", ergänzte Harry. "Komm schon", forderte Richard mich auf. "Wir besorgen dir jetzt deinen eigenen Bibliotheksausweis ... das ist ein Anfang. Dann kommen die Bücher dran; wenn ich raten müsste, bald werden sich die Bücher bei dir nur so türmen." "Türmen!", rief meine Mom vergnügt, aber durchaus ungläubig. "Du kennst Billy nicht, Richard ... er ist kein großer Leser." "Wir werden ja sehen, Jewel", erwiderte Richard.


Irving, John: Ein Junge weint doch

  "Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Junge bei der Lektüre eines Romans weint", versicherte mir Miss Frost. "Ein gutes Zeichen?", wiederholte ich. "Es bedeutet, dass du ein weicheres Herz als die meisten Jungs hast." Mehr Worte verlor sie nicht über meine Tränen. Als ich, wie Miss Frost es formulierte, "mit der Verwegenheit eines Einbrechers, der eine Villa ausplündert", draufloslas, sagte sie eines Tages zu mir: "Lass dir Zeit, William. Genießen, nicht schlingen. Und wenn du ein Buch magst, dann merk dir einen großartigen Satz daraus ... vielleicht deinen Lieblingssatz. So kannst du dir merken, wie die Geschichte geklungen hat, die dich zu Tränen gerührt hat." (John Irving: In einer Person)


Irving, John: Große Erwartungen

  Schließlich beschied sie meinen Wunsch, die Großen Erwartungen noch mal zu lesen, mit: "Den Roman hast du schon gelesen, William." "Ja, ich fand ihn toll", beteuerte ich ... nur um nicht damit herauszuplatzen, wie toll ich sie fand. (...) "Ich will Große Erwartungen noch mal lesen." (...) "Jetzt schon?", fragte Miss Frost. "Du hast den Roman doch erst vor einem Monat gelesen!" "Ich kann's kaum erwarten, ihn noch mal zu lesen", sagte ich. "Charles Dickens hat viele Bücher geschrieben", erklärte mir Miss Frost. "Du solltest es mal mit einem anderen versuchen, William." "Oh, das kommt noch", versicherte ich ihr, "aber erst will ich das hier noch mal lesen." (...) Stattdessen vermittelte sie mir den Eindruck, bei der stattlichen Anzahl von Büchern in der Bibliothek wäre es eine unmoralische Zeitverschwendung, auch nur eines davon noch mal zu lesen. "Was ist so Besonderes an Große Erwartungen?", fragte sie mich. Sie war der erste Mensch, dem ich erzählte, dass ich "wegen" Große Erwartungen Schriftsteller werden wollte, während es in Wahrheit ihretwegen war. "Schriftsteller willst du also werden!", rief Miss Frost, was nicht sonderlich begeistert klang. (Jahre später sollte ich mich fragen, ob Miss Frost das Wort Homophiler wohl ebenso ungnädig quittiert hätte, wenn ich es ihr als meinen Berufswunsch genannt hätte.) (John Irving: In einer Person)


Ishiguro, Kazuo: Dasein als Schriftsteller

  "Als Schriftsteller ist es heutzutage so, als würde man ein kleines Unternehmen leiten. Zwanzig bis dreißig Prozent meiner Arbeitszeit verbringe ich mit anderen Dingen, von denen Lesereisen und Interviews nur ein Teil sind. Es muss entschieden werden, an welchen Verlag die lettischen Rechte verkauft werden sollen, welche Pressezitate auf das Cover der amerikanischen Taschenbuchausgabe kommen, welches Umschlagbild auf die brasilianische Ausgabe und so weiter. Aber wenn ich schreibe, dann sage ich, von diesem Datum bis zu jenem habe ich keine Zeit, bitte ruft erst danach an. Das ist für mich die einzig mögliche Art, mein Leben zu organisieren. Als ich jung war, dachte ich, Schriftsteller führten ein weltabgewandtes, hochkultiviertes Leben, das nichts mit Business und Geld zu tun hätte. Und jetzt rede ich ständig über Deals und Prozente. Es ist fast so, als würde man Waschmaschinen oder Autos verkaufen. Und dann diese Publicity-Geschichten. Soll ich ins Fernsehen und, wenn ja, in welche Sendung, und was soll ich anziehen, wenn ich fotografiert werde." (Aus einem Interview)


Jackson, Charles: In Saffianleder

  Auch er hatte einen Autor in Kalbs- oder Marokko- oder Saffianleder, einen Autor, dessen Werke er selbst gebunden hatte, als Tribut an den Schriftsteller, den er so sehr liebte, und weil er jene neun Bücher (und all die, die noch kommen würden) bis an sein Lebensende lesen würde. Er nahm Der große Gatsby heraus und strich mit dem Finger über den feinen grünen Einband. "So etwas wie einen makellosen Roman", sagte er laut, "gibt es nicht. Aber wenn es ihn gäbe, dann wäre es dieser. (Charles Jackson: Das verlorene Wochenende)"


Jacobi, Peter: Bücher-Durchschnorcheln

  Die Fähigkeit des 'Bücher-Durchschnorchelns' - wie Gerold die Schnelleserei nennt - hat er bereits in frühester Knabenzeit und unter ideal zu nennenden Bedingungen erworben. Die von den Eltern betriebene 'Dombuchhandlung' war damals schon das größte und modernste Buchgeschäft der Stadt. (Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)


Jacobi, Peter: Lust- und Suchtleser

  In unseren Lesegewohnheiten unterscheiden wir uns allerdings erheblich. Gerold ist der typische Vertreter des Lustlesers, der die Masse der Neuerscheinungen durchpflügt und blitzschnell in lesbar und unlesbar einteilt, um die Bücher, auf die seine Leselust anspringt in einer atemberaubenden Geschwindigkeit in sich 'hineinzuschnorcheln'. Die viel seltenere Spezies des Suchtlesers, zu der ich gehöre, steht unter dem Zwang zu wählen. Diese Art Bibliomane ist meist nur einem einzigen Genre des endlosen Büchermeeres - in meinem Fall: Biographien - verfallen, dies aber rückhaltlos und uneingeschränkt. Da die zur Verfügung stehenden Bücher begrenzt sind, neigt der Suchtleser meist zu exzessiver Vorratshaltung, was sein ökonomisches Überleben oft genug gefährdet. Während der Lustleser immerhin noch selbst entscheidet, welches Buch ihn stimuliert und welches nicht, wird dem Suchtleser die Entscheidung von den sich im Regal drängenden Büchern aus der Hand genommen. Dem Suchtleser bleibt keine Wahl: Jedes Buch des verfluchten Genres muß er lesen, ob ihm das paßt oder nicht. (Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)


Jacobi, Peter: Nicht allein lesend

  Ein Bücherkenner liest ungern allein. Es wäre ja auch zu schade, der Welt den Anblick seines ernst über ein Buch geneigten Charakterkopfes vorzuenthalten! Während ihre Hand, der leichten Schwankung nach zu schließen, unter seinen rechten Arm schlüpft, blättert er auf Seite 22 zurück. (Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)


Jacobi, Peter: Seelenlose Regalausforster

  Tat- und Bewegungsmenschen wie Gisela und Gerold tun nichts anderes als Regale entlangzulaufen und nach Büchern zu fahnden, die sie entfernen und vernichten können. Als kühlen Kosten-Nutzen-Rechnern geht ihnen die Vernichtung der Büchervielfalt über alles. Ein Buch aus dem Regal zu ziehen und als Remittende zum Verlag zurückzuschicken, seine Botschaft damit für alle Zeiten abzuwürgen, bereitet ihnen ein grausames Vergnügen. Das Ausmustern von Titeln rangiert bei Sortimentern ihres Schlages vor persönlichen Vorlieben, der Bindung an einen Lieblingsautor oder der Qualität eines Buches. Die Reduzierung der Lagerkosten ist für sie das höchste anzustrebende Gut auf Erden. Was für den frommen Muslim der schwarze Stein von Mekka, für den gläubigen Katholiken die Madonna von Lourdes, ist für ihresgleichen das aus Bestsellerstapeln zusammengesetzte Mini-Sortiment. Daß sie mit Büchern handeln und nicht mit Schweinehälften liegt am mangelnden Startkapital und ist ansonsten purer Zufall. Analphabetische Barbarenhorden, die Spürhunde der Zensur, Bücherverbrenner wie Herostrat, die Nazis oder die chinesischen Kaiser haben in über tausend jahren in der Welt des Buches nicht die Verheerung angerichtet wie die seelenlosen Buchhalter und Regalausforster in den letzten zwanzig... (Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)


Jacobi, Peter: Kriminalromane

  Ein Kriminalroman setzt voraus, daß vor dem ersten Verbrechen, bis zum Auftauchen der ersten Leiche eine Art ursprüngliche Harmonie auf Erden herrscht. Die ist nun verletzt, und der Kommissar wird, indem er den Mörder ausfindig macht, die Weltordnung wiederherstellen. Das ist die althergebrachte Funktion eines Kulturhelden. Er ist furchtlos. Hegt keine Zweifel, wo das Gute ist und wo das Böse, denn das Gute siegt am Ende immer und unfehlbar: Siegt es, dann ist es das Gute. Gelesen wird ja überhaupt nur, weil es einen graust, wie eine Mücke durch das Leben zu schwirren - unsichtbar, unhörbar, umnachtet. Ein Kriminalroman ist der gleiche Horror wie das, was in den Zeitungen steht, nur mit dem Unterschied, daß er gut ausgeht. Er kann gar nicht anders. Erst einmal Komplikationen, Ängste, Aufregung, Tränen, Verluste, aber zu guter Letzt hat man es hinter sich. (Michail Schischkin: Venushaar)


Jandl, Ernst: Bibliothek

  die vielen buchstaben
die nicht aus ihren wörtern können.

 die vielen wörter
die nicht aus ihren sätzen können.

 die vielen sätze
die nicht auf ihren texten können.

 die vielen texte
die nicht aus ihren büchern können.

 die vielen bücher
mit dem vielen staub darauf

 die gute putzfrau
mit dem staubwedel


Jean Paul: Auf der Universität

  Daß die Bücher auch auf der Universität wichtigste Studienmittel für ihn bleiben werden, hat er schon vorher gewußt. In "Abelard und Heloise" heißt es: "Da bin ich nun da, auf der Universität! Und zu was Ende? daß ich Geld verzehre, das ich besser hätt' anwenden können, Sachen vergesse, die ich gewußt habe, und Dinge lerne, die mir nichts nützen... Was mir all die Professoren sagen wollen, kann ich aus den Büchern besser - gründlicher und mit weniger Zeit und Geldverlust lernen. Aber das Dinge hat man einmal in finstern Zeiten angefangen, wo man wenig Bücher schrieb, und wo man, um klug zu werden, die Leute selbst hören mußte. Jetzt nun, da's einmal Mod' ist, hält man's für Sünde, diese Sitt' abzuändern - man hat Bücher, hört die Professoren und der Dümmling bleibt doch allemal derselbe. (Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, S. 58)


Jean Paul: Huhn oder Ei?

  Der Geist, der Staaten umwarf, war der Geist der Zeit, nicht der Bücher, die er ja selber erst schuf und säugte. Wird denn der Autor nicht früher als sein Buch gemacht? Werther erschoß sich, ohne noch von Werthers Leiden eine Zeile gelesen zu haben... Warum glaubt man überhaupt, daß verderbliche Bücher so großes Unheil stiften können? Ich wünschte, sie könnten dies stark und schnell; dann brächten gute desto leichter Heil.


Jean Paul: Exzerpieren

  Ich fing mir anfangs aus jedem Buche zwei, drei Sonderbarkeiten wie Schmetterlinge aus und machte sie durch Dinte in meinem Exzerptenbuche fest. Ich hob aus allen Wissenschaften meine Rekruten aus. Drei Zeilen Platz, mehr nicht, räumt' ich jeder Merkwürdigkeit ein. [...] Die Hauptsache ist, daß ich Exzerpten aus meinen Exzerpten mache und den Spiritus noch einmal abziehe. Einmal les' ich sie z.B. bloß wegen des Artikels vom Tanze durch, ein anderes Mal bloß über die Blumen, und trage dieses mit zwei Worten in kleinere Hefte oder Register und fülle so das Faß auf Flaschen.


Jean Paul: Gekonnt kopieren

  Wer zu schwach ist, zu erfinden, der trage das Erfundene in besserer Gestalt vor, und wer uns nichts neues sagen kann, der sage das Alte mit andern Worten. Und vielleicht haben sich diese Regel manche neuere Schriftsteller fast zu sehr zunutze gemacht. Sie haben sich eine gewisse kraftvolle Sprach' erfunden, in der alles, was man darinnen vorträgt, von einer andern Seit' erscheint. Sie scheinen Erfinder, Leibnitze zu sein, und sind nur -- Modeschneider. (Jean Paul: Übungen im Denken, Mai 1781)


Jean Paul: Zwei Arten Leser

  Von jetzt an wird sich die Masse meiner Leser in zwei große Parteien spalten: die eine wird zugleich mich und die andere und diesen Druck-Bogen verlassen, um auf dem letzten nachzusehn, wie die Sachen ablaufen; es sind dies die Keraus-Leser, die Valetschmauser, die Jüngstentag-Wähler, welche an Geschichten wie an Fröschen, nur den Hinterteil verspeisen und, wenn sie es vermöchten, jedes treffliche Buch in zwei Kapitel einschmelzten, ins erste und ins letzte, und jedem Kopfe von Buch, wie einem aufgetragenen Hechte, den Schwanz ins Maul steckten, da eben dieser an Geschichten und Hechten die wenigsten Gräten hat; Personen, die nur so lange bei philosophierenden und scherzenden Autoren bleiben, als das Erzählen dauert, wie die Nordamerikaner nur so lange dem Predigen der Heidenbekehrer zuhorchen, als sie Branntwein bekommen. Sie mögen denn reisen, diese Epilogiker. Was hier bei mir bleibt - die zweite Partei -, dies sind eben meine Leute, Personen von einer gewissen Denkart, die ich am langen Seile der Liebe hinter mir nachziehe. (Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise)


Jean Paul: Erstaunt

  Da ein Autor bei einem Leser, der ihn wegen eines halben Dutzend Schriften anbetet, stets voraussetzt, er habe alle Dutzende gelesen: so erstaunte er ein wenig über Theodas Freude, daß sie etwas noch Ungelesenes von ihm werde zu hören bekommen. (Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise)


Jelinek, Elfriede: Die Sprache prügeln

  Ich versuche, die Sprache selbst zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, sozusagen die Wahrheit hinter sich selbst, wo sie versucht sich zu verstecken... Die Sprache lügt ja, wo man sie lässt, sie sagt eine "falsche" Wahrheit" Vielleicht könnte man sagen, dass ich die Sprache so lang prügle, bis sie die Wahrheit sagt, ohne es zu wollen. Die Sprache will ja lügen, das macht ihr viel mehr Spaß. Ich würde das vielleicht ein sprachkompositorisches Verfahren nennen, also ähnlich der Komposition eines Musikstücks. Ich versuche, mit Hilfe des Klanges der einzelnen Wörter der Sprache ihren ideologischen Charakter sozusagen herunterzureißen und ihr meine Art Wahrheit abzuringen. (Elfriede Jelinek)


Jelinek, Elfriede: Triebtäterin

  Ich bin ein Morgenmensch und fange sehr früh an. Ich kann mich nur für zwei, drei Stunden morgens überhaupt zum Arbeiten bringen, weil mein Tonus schnell absinkt und ich für den Rest des Tages wie eine müde Fliege herumkrieche. (. . .) Ich mache lange Pausen, manchmal monatelang. Dann überkommt mich die Rage, und ich bin wie eine Triebtäterin, kann nicht aufhören. Aber es gibt auch Phasen, in denen die Überarbeitung eines Textes an der Reihe ist. Und dann hat das Schreiben eine ganz normale Regelmäßigkeit, jeden Tag zwei, drei Stunden." (Elfriede Jelinek)


Jenison, Madge: Entflammt

  Ziemlich abwesend griff ich nach etwas, was ich für ein absolut unanfechtbares englisches Werk hielt. Ich hatte schon angefangen zu lesen, und in meinen Augen konnte dieses Buch selbst einen Baumstumpf entflammen. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 66)


Jenison, Madge: Auswahl und Beeinflussung

  Bilden sie sich vielleicht ein, ihre Bücher würden nicht für sie ausgesucht? Wir alle lesen, was die Verlage und unsere Freunde für uns aussuchen. Mir scheint, der Belege für eine eigenständige Persönlichkeit besteht nicht darin, aufzustehen und zu erklären, daß man seine Integrität wahren will, sondern darin, sich einzumischen und die Dinge zu beeinflussen, die einen ihrerseits beeinflussen. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 63)


Jenison, Madge: Bücher verkaufen (1)

  Man kann in einer Buchhandlung nie sicher sein, daß den Leuten die Bücher gefallen, die man ihnen empfohlen hat. Meine beste Freundin warf mir eines Tages angewidert einen Bestseller vor die Füße. Man kann den Leuten nur sich selbst verkaufen, seine eigene Meinung und den "Furor" der alten Griechen sowie den Glauben, daß es das Beste für ein gutes Buch ist, wenn es schnell aus den Regalen einer Buchhandlung in private Hände gelangt. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 63)


Jenison, Madge: Bücher verkaufen (2)

  Ich habe keine Ahnung, wodurch sich ein Buch verkauft. Durch Eloquenz zum Beispiel. Ein Dichter wie John Cowper Powys kann ganz Milwaukee dazu bringen, Milton zu lesen. Wie? Er schildert alles enorm lebendig, fügt es nahtlos in die Welt seiner Zuhörer ein und erhebt dadurch die Lektüre zu einem derart beglückenden Erlebnis, daß man schnell zur Tür hinauseilt, um einen Band zu erstehen, so als hätte man ein Rendevous mit einem großen Denker. Sie können 'Don Quijote' oder 'Verteidigung des Sokrates' verkaufen, als wären sie brandneu und kämen frisch aus der Druckerpresse, wenn Sie sie ebenso schätzen wie ich. Man kann ein Buch mit Redlichkeit verkaufen oder mit Lebhaftigkeit oder auch mit autoritärer Strenge. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 64)


Jenison, Madge: Würden die Toten auferstehen?

  Wir scheitern in Buchhandlungen durch das, was uns an Wissen fehlt. Die hungrigen Schafe blicken hoch, aber niemand füttert sie, wie es bei Milton heißt. Aber wenn der Buchhandel im weltweiten Kampf um Bildung seinen Platz einnehmen könnte und großzügig weitergäbe, was ihm aus der ganzen Welt zuströmt, würden dann nicht die Stummen sprechen und die Toten auferstehen? (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 68)


Jenison, Madge: Bücher vs Ehefrauen

  Ein Mann, der mit schöner Regelmäßigkeit drei- oder viermal die Woche in der Tür unseres Ladens stand, gehörte bald mit zum Inventar. Er war immer wie aus dem Ei gepellt, als träte er gleich vor den Traualtar. Beim Hereinkommen sah er sich gut gelaunt im Raum um, als erwartete er, unter einem Tisch oder Stuhl einen Witz zu entdecken. Ständig suchte er nach Mitteln und Wegen, um Bücher in sein Haus zu schmuggeln, ohne seiner Frau gegenüber eine Erklärung abgeben zu müssen. Ehefrauen sind die natürlichen Feinde von Buchhändlerinnen, weil sie ständig an die Milchrechnung denken. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 104)


Jenison, Madge: Lesen und Beruf

  Wie schafften wir unser Lesepensum? Wenn einem ständig interessante Bücher in die Finger kommen, bringt man es erstaunlicherweise auch fertig, viele davon zu lesen. Es gibt ohnehin nicht mehr als vier oder fünf gute Bücher im Monat. Fast jede lohnende Neuerscheinung hat zumindest eine von uns gelesen. Wir lasen morgens auf dem Weg ins Geschäft, hatten beim Mittagessen Bücher vor uns liegen, und lasen abends auf dem Nachhauseweg. Manchmal versuchte ich sogar, mich hinter einem Bücherregal klein und unsichtbar zu machen oder mich zwischen den Stapeln im Lager zu verstecken, wenn mich die letzten Seiten eines Buches in ihren Bann gezogen hatten, und dann las ich, bis man mich aufspürte. Seit jeher liebte ich Geschichten, in denen Menschen auf einsamen Inseln ausgesetzt werden oder sich im Dschungel verirrten oder ohne Zuneigung heiraten. Von frühester Jugend an, als ich noch auf einem Ast im Baum las, bis heute verspüre ich einen ungestillten Hunger nach solchen Geschichten. Warum das so ist, könnte mir ein Psychoanalytiker sicher mit schonungsloser Deutlichkeit erklären - wenn ich ein solches Buch oder eine gute Biografie in Händen hielt, waren Kunden jedenfalls Schall und Rauch für mich. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 108)


Jenison, Madge: Tür zur Zukunft

  Bücher! Mache ich zu viel Aufhebens von ihnen? Sie klopfen an die Tür zur Zukunft. Sie sind so abwechslungsreich. Wenn jemandem der 'Hamlet' nicht gefällt, dann gefällt ihm vielleicht 'Louis Pasteur, sein Leben und Werk' oder 'Simple Souls'. Ich kann beides empfehlen. Bücher lassen sich für alles verwenden. Der Dichter Campell wischte sogar seine Rasierklingen an ihnen ab. Sie schenken uns Motive, Möglichkeiten, Prüfungen und Vorlieben. Wir finden in ihnen die Gedanken, auf denen das moderne Leben aufbaut, die ihm seinen Glanz verleihen, "unser wahres Glück. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York)


Jenison, Madge: Höhere Gefilde

  Es steckt so viel Lebenskraft und Lebensfreude in Büchern! Die Freude, die Bücher vermitteln, läßt sich nicht in Worte fassen. Manche Leute finden Turgenjew und Tschechow deprimierend, doch wenn ich mit einem neuen Band von einem der beiden die Straße entlanggehe, spüre ich ihn wie warmes Gold und weiß, daß ich nur eine Mußestunde und einen bequemen Sessel brauche, um in höhere Gefilde aufzusteigen. Es ist, als berührte mich das Buch am Arm und sagte: "Schau doch!" Wenn nötig, lese ich es sogar im Stehen. Es hat ein Stück Leben eingefangen - und die Konturen treten umso deutlicher hervor. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 124)


Jenison, Madge: Blutkreislauf des Lebens

  Kunden haben so ihre Eigenheiten. Alle, die sich nur umsehen wollen, sind mir suspekt. Aber wir waren stets dankbar für Leute, die kamen, um zu spionieren, zu schnüffeln oder auch zu stöbern, selbst wenn sie ihre Belesenheit wie ein Schild vor sich hertrugen. Und warum sagen manche, daß sie kein Buch kaufen, weil sie es ohnehin nicht behalten wollen. Bücher sind nicht zum Behalten da. Sie gehören zum Blutkreislauf des Lebens. Man behält ja auch nicht die Hebung von Kreislers Bogen, wenn er die letzte Note spielt, oder den Tee aus dem Plaza oder einen Strauß blauer und roter kalifornischer Mohnblumen mit ihren pelzigen Knospen. Und warum erklären sie, daß sie Kindern keine Bücher schenken wollen, weil Kinder sie nicht schonen? Bücher sind nicht dazu da, daß man sie schont. Ein Buch ist ein Werkzeug fürs Leben. Ein Denker mag Seiten heraustrennen, wenn er sie braucht, und sie mit sich herumtragen. Ein Kind muß mit einem Buch kommunizieren, so viel es kann - es muß auf dem Fußboden mit ihm leben. Bei all der Komplexität der Dinge, die es zu schätzen und zu bewahren gilt, wird ein Kind garantiert nicht die Faszination von Büchern kennen lernen, wenn man es von ihnen fern hält, weil es ein Blatt herausgerissen hat. (Madge Jenison: Sunwise Turn. Zwei Buchhändlerinnen in New York, S. 132f.)


Zoë Jenny: Bücher sind meine Freunde

 Bei mir fing alles mit dem Lesen an. Nach ein paar Jugendbüchern begann ich schnell Romane zu lesen, auch Bücher, die ich noch gar nicht verstanden habe. Mit 15 saß ich zum Beispiel auf Parkbänken und las die "Fröhlichen Wissenschaften" von Nietzsche. Lesen wurde bei mir zum Rausch. Und ich fand schnell meine Freunde. Bücher. Bücher wurden meine Freunde. Ich hatte Bücher um mich herum, wie andere Menschen. Etwa die Romane und Erzählungen von Carson McCullers [...] Dann Sylvia Plath, Tennessee Williams oder J. D. Salinger. Wissen Sie, ich habe mich schon von früher Kindheit an immer eher am Rande aufgehalten, abseits der anderen. Und es war für mich ein großes Glück, in diesen Büchern zu erfahren, dass ich damit nicht alleine bin: Dieses Außenvorsein, dieses Reinkommen wollen, aber gar nicht verstehen, wie das geht. Ich habe Büchern nie wirklich die Freundschaft gekündigt. Aber vielleicht ein bisschen auf die Seite gestellt. Es gibt sicher Bücher, die ich jetzt nicht lesen muss, die mir mal sehr wichtig waren. Zum Beispiel habe ich von Hermann Hesse früher alles gelesen, das war wie noch mal auf die Welt kommen. Aber das muss ich nicht jetzt gleich noch mal haben. [Aus einem Interview mit dem Tagesspiegel]


Jerojejew, Wenedikt: Saufen und Lesen

  Ja, ja. ich lese sehr gern! Es gibt so viele wunderbare Bücher auf der Welt. Ich saufe einen Monat, saufe einen zweiten. Und dann nehme ich ein Buch und fange an zu lesen. So wunderbar kommt mir dieses Buch dann vor, und so dumm ich mir selbst, daß ich ganz mißmutig werde und nicht mehr weiterlesen kann. ich schmeiß das Buch hin und fange wieder an zu saufen. Einen Monat, zwei, dann...


Jirgl, Reinhard: Das immer andere Leben

  Das Wohnen inmitten von Büchern gleicht dem allnächtlichen Schlaf zwar auf stets derselben Lagerstätte, - doch entfernt man sich träumend in bizarre, noch ungesehene Räume; Wüsten zu bösartigen u wundervollen Gefilden tun sich auf - am Selbenort das immer Andereleben, darin die Menschen weitaus weniger automatenhaft erscheinen, als in der Wachen-Welt Aldi- lebenden=Toten. Daher die tiefe Sehn-Sucht nach Büchern, eine Sucht die alles Bloß-Bildfertige bei weitem überdauert. Allerdings fällt die Enttäuschung angesichts schlechter Bücher dann auch größer aus, als etwa bei schlechten Filmen. Der-Film ist 1 Produkt der Automatenwelt, & jeglicher Automat, ob Maschine od Mensch, zerstört irgendwann sich selbst od wird von Seinesgleichen zerbrochen. Deshalb sind schlechte Bücher schlimmer als schlechte Bilder u noch schlimmer als heimtückischer Mord. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 125)


Johansson, Kjell: In der Bibliothek

  Ein Besuch in der Bibliothek gibt einem ein Feiertagsgefühl, während man gleichzeitig eine große Freude - oder ist es Glück? - verspürt. Sicher war es Glück, was wir empfanden, als wir vorsichtig in der Bibliothek umherwanderten, ausschwärmten und jeder für sich eine Andacht hielten, bei C oder Dg, manchmal in den Gängen wieder zusammentrafen, bei Hc oder Hce. Dann lächelten wir einander an, ohne ein Wort zu sagen, denn hier herrschte Stille, eine gute Stille, und um die waren alle besorgt. ... In der kleinen Bibliothek war die ganze Welt in Worten zusammengefaßt, alles Wissen, das ein Mensch nur brauchen konnte, stand hier direkt vor seiner Nase in den Büchern, die einem zwar den Rücken zuwandten, aber nicht aus Hochmut, sondern damit möglichst viele von ihnen Platz in den Regalen fanden. Hier konnten wir und andere, die ihre Abendstunden hier verbrachten, alles finden, was wir uns wünschten. Und es war möglich, ja, sogar wahrscheinlich, daß auch jemand, der seine Sehnsüchte gar nicht kannte, sie hier finden würde, von einem Titel verlockt, den Aufzeichnungen eines Jägers, oder von einer anderen mystischen Kraft getrieben, das Buch gerade auf jener Seite aufzuschlagen, auf der ein Morgen graute und alles zum Leben erwachte. (Kjell Johansson, Der Geschichtenmacher)


Johnson, Uwe: Strafe soll sein

  Der Anblick der vielen Bücher auf Ihrer Ebene hat die Leute auf meinen richtigen Beruf verfallen lassen, und gelegentlich fordern die Herren im Seaview Hotel (Beer by Hürlimann) mich auf, über ihren jeweiligen Intimfeind einen Roman zu verfassen; so vernichtend soll die Strafe sein. (Uwe Johnson an Max Frisch, 22.3.1975)


Jost, Dominik: Das Leser der Täter

  Das Vorurteil ist verbreitet, Lesen sei bloß Leitmotiv und Signal des meditativen Lebens: die Verkündigung an Maria von Simone Martini: Albrecht Dürers Hieronymus im Gehäuse; Ernst Barlachs lesender Klosterschüler; das Foto von 1899, Stefan George in Bingen mit einer Petrarca-Ausgabe zeigend. Ein Vorurteil ist solche Meinung schon darum, weil alle diese Leser doch auch Täter sind, Täter auf geistigem Plan. Aber lesen Täter, die nach außen handeln und durch Ziel wie Eingriff die systematische Homöostase des sozialen wie des politischen Regelkreises aufheben, etwa nicht? Während Schillers künftige Räuber in einer Schenke an den Grenzen von Sachsen rasten, ist Karl von Moor in ein Buch vertieft, legt es dann weg und sagt: "Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen." Wort eines Lesers gegen das Lesen: zeugerisches Lesen des Plutarch gegen steriles Lesen der Tintenkleckser. Wenn Moor in seinem Plutarch liest, ist wohl auch an die Biographie Alexanders zu denken. Plutarch berichtet: "Überhaupt war Alexander von Natur aus ein Freund der Wissenschaften und ein leidenschaftlicher Leser; die Ilias betrachtete er als ein Lehrbuch der Kriegskunst und pflegte sie auch so zu nennen. Er hatte davon eine Ausgabe, die Aristoteles durchgesehen und verbessert hatte [...]. Als es ihm im Innern Asiens an anderen Büchern fehlte, beauftragte er Harpalos, ihm einige zu schicken. Dieser sandte ihm denn auch die Werke des Philistos, viele Tragödien von Euripies, Sophokles und Aischylos und die Dithyramben des Telestes und Philoxenos." Vergleichbares ist von Napoleon überliefert. Die Liste der Bücher, die 1798 nach Ägypten mitkamen, hat Bourrrienne aufgezeichnet; in dieser Feldbibliothek stand auch der "Werther" (wie Goethe am 7. April 1829 Eckermann gegenüber bestätigt hat), weiter "Le vieux testament", "Le nouveau testament", "Le coran", und zwar auffallend in der Rubrik "Politique". Niemand wird sich indessen das Lesen Alexanders, Moors, Napoleons als ein versunkenes und hingegebenes Lesen vorstellen, als eskapistisches Lesen; es wird genaues und kritisches Lesen in äußerster Konzentration gewesen sein, ein souveränes Lesen in Freiheit. So liest, wer, aufgestanden, sofort mit Energie des Handelns zur Tat übergehen kann. (Dominik Jost: Das Leser der Täter; in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Mensch und das Buch, S. 107)


Jost, Dominik: Lesegeschwindigkeiten

  Auf jedes Buch sollte eine Zahl geschrieben sein, die die Geschwindigkeit angibt, mit der der Autor gelesen sein will. (Wenn 10 die mittlere Geschwindigkeit angeben soll, würde dann etwa 1 diejenige sein, mit der Heraklit, einiges vom späten Goethe, Karl Kraus, Hölderlin gelesen werden sollen; auf Wallace's Büchern sollte die Zahl 1000 stehen - und sie würden, übrigens, doch keinen Stil offenbaren.) Daß man Balzac schneller als andere gute Autoren lesen kann, lesen soll (gemäß der Zahl 50 oder 100 - wie Dostojewski gemäß der Zahl 100 oder 200), heißt keineswegs, daß er weniger Stil habe als jener andern einer; nur, daß er auf verschiedene Fläche geschrieben hat. Wer äußerst langsam liest, dem wird vielleicht sein Stil gar nie offenbart: wie der Stil Michelangelos dem auch nicht aufgeht, der immer nur Quadratzentimeter der Sixtinischen Decke anschaut." (...) Um Albrecht Dürers "Ritter, Tod und Teufel" oder seinen Feldhasen anzuschauen, ist Nähe erforderlich, Ferne aber ist nötig für "Die Verdammten" oder "Die Auserwählten" von Luca Signorelli im Dom zu Orvieto. So verhält es sich nun einmal mit dem sorgfältigen, angemessenen Betrachten; und Vergleichbares dürfte für sorgfältiges, angemessenes Lesen gelten. Im einen Fall ist die Augendistanz zu regulieren, im andern das Lesetempo. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben) (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Bewegen & Innehalten

  Spüren, wie "wirkliche komplexe Individualität" als Stil und Geist hervorbricht: das ist doch auch das Sinnziel richtigen Lesens jenseits der banalen Informationsabsicht. Wie also ist es proust-gemäß zu erreichen? Indem der Leser die rieselnde, fließende Zeit des Lesens aus der Kontinuität in die Diskontinuität überführt und in Phasen seiner Meditation die Zeit zur Dauer anhält. Widersprochen sei demnach der schematischen Lesedoktrin, die es dabei bewenden läßt, bloß den verschiedenen Texten unterschiedliche Lesetempi zuzuordnen. Richtiges Lesen jenseits der banalen Informationsabsicht ist kein gleichmäßiger Vorgang im kontinuierlichen Ablauf der Zeit, vielmehr ein sensibel reagierendes, auf Wandlungen und Veränderungen des Lesegeländes abgestimmtes Bewegen und Innehalten, ein Handeln und Geschehen, das Nahsicht und Fernsicht, Mikroskopie und Teleskopie, Zögern und Beschleunigen, Meditation und Aktionsinteresse zusammenfügt. Wie nun solches Lesen mit dem Blick auf die "wirkliche komplexe Individualität" hin in der Praxis aussieht, davon zeugen noch Spuren in Büchern aus dem Besitz solcher Leser; Leser dieser Gattung sind in aller Regel doch auch die Eigentümer der gelesenen Bücher. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Raum der Stille

  Die Freiheit, unser Lesetempo selbst zu wählen, ist eine Voraussetzung des richtigen Lesens. Gelerntes Lesen und Schreiben wird nach ausreichendem Nichtgebrauch schließlich verlernt, was erklärt, warum Länder mit und trotz streng gehandhabter Schulpflicht wieder Analphabeten haben. Leseunfähige büßen aber in unserer Zivilisation verhaltenswichtige Grundfreiheiten ein. In der Alltagsspraxis wehrt die Möglichkeit schweigender Verständigung mit Hilfe phonetischer Symbole den pöbelhaften Andrang des Lärmgewirrs ab und bereitet einen Raum der Stille; die Stille ermöglicht die Freiheit, zu sich selber zu finden und endlich bei sich selber zu sein. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Ein weiteres Leben

  Dem Leser öffnen sich Flügel, im nächsten Augenblick ist er von der Erde abgereist. Lesen, das "unbestrafte Laster" (Valery Larbaud), zeugt und gewährt und unterhält uns ein zweites, ein anderes Leben. Der Leser wird inne, was alles bisher in ihm schlief. Wie auf Michelangelos Fresko mit der Erschaffung Adams vermag hier die Berührung mit einem Autor Leben zu wecken. Dann wieder arbeitet Lesen wie ein Herzschrittmacher. Wenn Realität das Totale unserer physischen Erfahrungen heißt, Wirklichkeit dagegen die Gesamtheit unseres Glaubens, Hoffens und Liebens, unseres Einbildens und Denkens ist, so stellt Lesen ein weiteres Leben innerhalb der Wirklichkeit her. Lesen verschafft ein spezifisches Freiheitsglück, vergleichbar dem Freiheitsglück, unter Menschen sein zu dürfen, ohne auch mit ihnen sein zu müssen. Bücher sprechen kontrolliert, ohne unmittelbar Antwort zu erwarten oder gar zu erzwingen; so ist einem wohl in ihrer Gegenwart. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Nein zur Kolonne

  Obgleich ein Werk, von dem man gerade ein Exemplar in der Hand hält, in tausend oder fünfhunderttausend Stück verbreitet und von noch weit mehr Lesern aufgenommen werden kann, erlebt man sich als Leser doch als Einzelnen, wenn auch in Solidarität mit Wahlverwandten. Lesen ist ein Nein zur Kolonne, ein Nein zur Masse, ein Nein zum "Man"; Lesen ist wie jede Freiheitstat wesentlich "elitär". Daher das Lächeln instinktiver Geringschätzung im Profanum vulgus und dessen Unfähigkeit, die Stille um einen Leser durch Schweigen zu ehren. Man betrachte den Leser in seiner Stille: Durch Flucht ist ihm Heimkehr geglückt, er ist der Realität abgestorben, die Wirklichkeit erreicht ihn hier; er lebt jene Haltung, in der alles Einzelne angesichts des Ganzen zur Unbedeutendheit zusammenschmilzt. Leser scheinen Schläfer und Träumer zu sein, im Gleichgewicht zwischen Passio und Actio, bereit für Apoll, der den plötzlichen Tod schenkt. Der Leser erfährt, daß es möglich ist, geistig zu leben. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Freistatt der Ungenügsamen

  Lesen bleibt die Suche jener, die glauben und hoffen, es gebe doch eine die Realität übersteigende Wirklichkeit, das tägliche Umfeld mache nie und nimmer das Ganze aus. Das Buch ist zur Freistatt der Unzufriedenen geworden, der Ungenügsamen, denen Bekanntes nicht ausreicht, die durch das Seiende hindurch und über das Seiende hinaus nach Werdendem lechzen, die nicht länger im Ungenügen, in der Enttäuschung zu darben bereit sind. Lesen ist ihr Versuch einer vorsichtigen Annäherung an ein intensiveres Leben. Dem Leser ist eine Innenerfahrung zuteil geworden, die sich mit jenem transzendenten Erlebnis vergleichen läßt, das im Diesseits unser Lebensgefühl und unsere Wertwelt verändert, sobald uns ein Jenseits gewiß geworden ist; diese Innenerfahrung vermag wie jenes transzendete Erlebnis eine bleibende Daseinsstimmung zu erzeugen. Als Instrument der Befreiung verstand Franz Kafka das Buch, als er es die Axt für das gefrorene Meer in uns nannte. Die Frage nach dem Warum des Lesens ist so ergiebig und so unergiebig wie die nach dem Warum der Kunst oder dem Warum des Lebens überhaupt. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Bibliothek der 100 Bücher

  Mit wie wenig Büchern sind doch die Genien der Menschheit ausgekommen, Laotse und Kungfutse, Buddha, Sokrates und Platon. Statt hechelnd mit hängender Zunge dem jeweils Allerneusten und gerade Jüngsten nachzuhetzen, sollte man sich auf eine Bibliothek der tausend Bücher, der hundert Bücher, der zehn Bücher beschränken und zurückziehen, die den geliebten Kern bilden und mit denen man im wesentlichen lebt, weil man immer wieder zu ihnen heimkehrt. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Feste Stationen der Lebensgeschichte

  Ein Buch vertieft durch die Möglichkeit des Austauschs von Gedanken und Urteilen die Beziehung unter seinen Lesern. Indem es Gefühle freisetzt, erweitert und vertieft es das Selbsterlebnis und den Selbstgenuß. Daß Leseerlebnisse sich zu den stärksten Lebenserlebnissen zu verdichten vermögen, erhellt daraus, daß die Kerne der eigenen Biographie manchmal sichtbar werden an der Abfolge der gelesenen Bücher, daß einem also gelesene Bücher als feste Stationen der Lebensgeschichte vorkommen, als Zentren, um die sich dann die Realität gruppiert. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Welterwerb

  Wer über längere Zeit hin nur denselben einen Autor liest, nimmt mit dessen Weise des Sprechens auch dessen Welt auf. Sprache ist nicht das nachträglich hergestellte Gefäß der Wirklichkeit, sie ist mit ihr identisch, Sprache ist Welt, Spracherwerb ist Welterwerb. Wenn nun aber Lesen als eine zentrale Methode des Spracherwerbs gelten muß, dürfte es eigentlich nicht bloß eine Randtätigkeit, eine Feierabendbeschäftigung bleiben. Wer gar im Lesen das Sedativ, die Baldriantinktur gegen die vom Tagesstreß erzeugten Aufgeregtheiten seines Inneren aufzuspüren gewohnt wäre, stände noch im Vorhof der niedern Mysterien und Weihen des Lesens. Richtiges Lesen setzt Entspannung, Ruhe und die Fähigkeit zur Konzentration schon voraus. Wer die Schrift ein Medium nennt, drückt mit dieser Vokabel aus, daß mittels der Schrift Wirkungen erzeugt und erzielt werden. Die Botschaften, die das Medium Schrift speichert und befördert, vermögen sowohl in die Realität als auch in die Wirklichkeit einzugreifen. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jost, Dominik: Ausschlußverfahren

  Lesen ist Augenöffnung durch Schließen der Augen; es ist ein mystisches Erlebnis. Bei der Wahl der Bücher, die man zu lesen gedenkt, sollte man aber nie außer acht lassen, daß deren Lektüre wertvoller sein muß, als die Lektüre aller übrigen Bücher wäre, die man jetzt nach getroffener Entscheidung ja nicht mehr lesen kann, weil der Entschluß für die einen den Verzicht auf die anderen nach sich zieht. (Dominik Jost: Leküre - das andere Leben)


Jünger, Ernst: Keine Zeit mehr

  Der leidige Umstand, daß niemand mehr Zeit hat, färbt besonders stark auf den Beruf der Antiquare ab. Wenn ich aus den Katalogen, die täglich ins Haus kommen, schließen darf, entwickelt sich das Geschäft in der einen Richtung zum Juwelen-, in der anderen zum Schrotthandel. Von beschaulichen Stunden, wie ich sie beim alten Lafaire in Hannover oder bei Morin in Le Mans verbrachte, kann nicht mehr die Rede sein. Mit ihnen ging man nach Hause, wenn sie den Laden schlossen, und sprach von Büchern bis spät in die Nacht. Es hängt indessen mit dem Wesen des Antiquariats zusammen, daß man dort nicht nur einkauft, sondern auch gern verweilt. Der Handel mit gebrauchten Büchern unterscheidet sich von dem mit Novitäten; er hat seine eigenen Gesetze, seine besondere Gemütlichkeit. (Ernst Jünger)


Jürgs, Michael: Wie die Literatur begann

  Begonnen hat es mit den Büchern, bevor es welche gab, mit Wortwanderern, die übers Land zogen und auf den Plätzen atemlos mit offenem Mund lauschenden Erdenbewohnern Geschichten von der Welt jenseits ihrer Dörfer erzählten. In denen spielten feuerspeiende Drachen und todesmutige Ritter und anhimmelnswerte Frauen und gnädige Zauberer und böse Geister die Hauptrollen. Mit den mit so unerhörten Handlungen Reisenden, die im Dunkeln gut munkelten, kein Tageslicht brauchten und keine Kerzen, weil es eh noch nichts Geschriebenes gab, das sie hätten erkennen müssen und vorlesen können, die mit Mund-zu-Ohr-Beatmung das Überleben der kollektiven und subjektiven Erinnerungen ermöglichten, mit glaubwürdig vorgetragenen Lügen und Märchen und Legenden und Mythen also, hat einst die Literatur begonnen. (Michael Jürgs: Seichtgebiete. Warum wir hemmungslos verblöden)


[Nach oben]