Bibliomanische FAB  / [Hesse]


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Muße am Sonntag

  Am Sonntag waren uns mehrere Stunden zu beliebiger Verwendung in unsern Stuben vergönnt, zum Lesen, Schachspielen, Zeichnen, Briefschreiben. Diese Zeit der 'stillen Beschäftigung' ersehnte ich die ganze Woche hindurch. Dann saß ich über Shakespeare, über Schiller, Klopstock, Ossian und Schubart und so mich satt aus den Bechern der Phantasie, der Sehnsucht und des Heimwehs. Diese Stunden lagen wie ein heimliches Asyl in der Reihe unglücklicher Tage, von den Sternen der Dichter und den unbewachten Träumen meines Herzens überglänzt, reich an Empfängnis und Trost. (Hermann Hesse: Erwin)


Fragen des Dichters II

  Etwas ganz andres, woran vermutlich überhaupt kein Leser jemals denkt, kann dem Dichter zur Sorge und Plage werden, nämlich die Frage: Warum muß ich, allen meinen scheinbar ganz ursprünglichen Empfindungen zum Trotz, meine Gebilde, meine lieben Freuden- und Sorgenkinder, die Gespinste aus der besten Substanz meines Lebens, vor fremde Augen legen und zusehen, wie sie auf den Markt kommen, überschätzt und unterschätzt, belobt und bespien, geachtet oder mißbraucht werden? Warum kann ich sie nicht zurückbehalten, sie höchstens einem Freunde zeigen, ihre Veröffentlichung gar nicht oder erst nach meinem Tode zulassen? Ist es Ruhmsucht, Eitelkeit, Angriffslust oder unbewußte Lust am Angegriffenwerden, was mich dazu brachte, sie immer wieder, meine lieben Kinder, in die Welt hinaus zu schicken und all dem Mißverständnis, all dem Zufall, all der Roheit preiszugeben? Das ist eine Frage, von der kein Künstler jemals ganz loskommt. Denn die Welt bezahlt uns ja zwar für unsre Gespinste, manchmal sogar über Gebühr, aber sie bezahlt uns ja nicht mit Leben, mit Seele, mit Glück, mit Substanz, sondern eben mit dem, was sie zu geben hat, mit Geld, mit Ehren, mit Aufnahme in die Liste der Prominenten. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 228)


Fragen des Dichters I

  Was den Dichter nach dem Lesen von Briefen seiner Leser oft beschäftigt, sind Fragen wie diese: Was habe ich beim Schreiben meiner Bücher, abgesehen vom bloßen Vergnügen am Schreiben selbst, eigentlich gedacht, gewollt, gemeint, erstrebt? Und dann Fragen wie diese: Wieviel von dem, was du mit deiner Arbeit gemeint und angestrebt hast, wird von den Lesern gebilligt oder abgelehnt, ja: wieviel davon wird vom Leser überhaupt bemerkt und zur Kenntnis genommen? Und die Frage: Hat das, was ein Dichter mit seinen Dichtungen meint und will, hat sein Wollen, seine Ethik, seine Selbstkritik, seine Moral überhaupt irgend etwas zu tun mit den Wirkungen, die seine Bücher verursachen? Nach meiner Erfahrung hat es damit sehr wenig zu tun. Auch nicht einmal jene Frage, die dem Dichter meistens die wichtigste ist, die Frage nach dem ästhetischen Wert seiner Arbeit, nach ihrem Gehalt an objektiver Schönheit, spielt in der Realität eine große Rolle. Es kann ein Buch ästhetisch und dichterisch wertlos ein und trotzdem gewaltige Wirkungen tun. Scheinbar sind viele dieser Wirkungen vernünftige und berechenbar, waren vorauszusehen und wahrscheinlich. In Wahrheit aber ist auch hier das Geschehen in der Welt vollkommen irrational und gesetzlos. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 226)


Der Dichter & das Weltgeheimnis

  Der Dichter als solcher steht dem Weltgeheimnis um nichts näher als jeder andre Mensch, er kann so wenig wie andre leben und arbeiten, ohne einen Boden unter sich und ein Dach über sich zu haben, und um sein Bett ein dichtes Mückennetz von Systemen, Konventionen, Abstraktionen, Vereinfachungen und Verflachungen zu spannen. Auch er, genau wie die Zeitung, schafft sich aus dem donnernden Dunkel der Welt eine Ordnung und Landkarte, lebt lieber im Flachen als im Vieldimensionalen, hört lieber Musik als Bombenexplosionen, und wendet sich mit dem, was er schreibt, an seine Leser meistens durchaus mit der wohlgepflegten Illusion, es bestehe eine Norm, eine Sprache, ein System, das es ihm ermögliche, seine Gedanken und Erlebnisse so mitzuteilen, daß der Leser sie gewissermaßen miterleben und sich tatsächlich aneignen könne. Für gewöhnlich tut er wie alle tun, er treibt sein Metier so gut er kann, und hütet sich, darüber nachzudenken, wieweit wohl der Boden trage, auf dem er steht, wieweit die Leser tatsächlich seine Gedanken und Erlebnisse aufnehmen, nachfühlen und teilen können, wieweit seinem Glauben, seinem Weltbild, seiner Moral, seiner Denkart die des Leser ähnlich sei. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 220)


Zeitungslektüre

  An diesem etwas trostlosen Tage nun, ins Bett geflüchtet und leider nicht mit anderer Lektüre versehen, las ich zwei Zeitungen. (...) In diesen beiden Zeitungen las ich nun mit Neugierde und Spannung, das heißt ich las natürlich nur jene Teile, deren Sprache mir verständlich ist. Jene Gebiete, zu deren Darstellung eine besondere Geheimsprache erforderlich ist, mußte ich mir entgehen, also Sport, Politik und Börse. Es blieben also die kleinen Nachrichten und das Feuilleton übrig. Und wieder begriff ich mit allen Sinnen, warum die Menschen Zeitungen lesen. Ich begriff, bezaubert vom vielmaschigen Netz der Mitteilungen, den Zauber des verantwortungslosen Zuschauens und fühlte mich eine Stunde lang in der Seele eins mit jenen vielen alten Leuten, die jahrelang herumsitzen und nur deshalb nicht sterben können, weil sie Radio-Abonnenten sind und von Stunde zu Stunde Neues erwarten. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 138)


Die lange Leitung

  Aber trotzdem verrosten die größten Modekanonen schnell, Emmy, und die Dichtung bleibt am Leben. Ich erinnere mich an Beispiele. Von den älteren Dichtern will ich gar nicht reden, die seit hundert und mehr Jahren dauernd mißverstanden werden und dennoch nicht untergehen und immer wieder in zehn oder hundert glühenden Herzen weiterleben und weiterbrennen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen gewissen Knut Hamsun, der heute ein alter Herr ist und einen Weltruf genießt, die Verleger und Redaktionen schätzen ihn sehr hoch, und seine Bücher haben Auflagen. Dieser selbe Hamsun war zur Zeit, als er seine schönsten und herzlichsten Bücher schrieb, ein heimatloser Desperado und hatte keine ganzen Schuhe und trug Fransen an den Hosen, und wenn wir jungen Burschen damals für ihn eintraten und laut für ihn schwärmten, dann wurden wir ausgelacht oder gar nicht angehört. Und doch ist jetzt seine "Zeit" gekommen, das heißt die faulen Geister haben durch die uns wohlbekannte lange Leitung im Lauf von dreißig Jahren eben doch noch seinen Strom empfangen und zucken und müssen zugeben. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 128)


Zarter, beseelter Dichter

  Als Frühlingsfutter für diese schönen Tage habe ich mir aus dem Bücherhaufen, den die Verleger bei mir abladen, einige Goldkörner gepickt, die liegen bereit, häufig nehme ich eins dieser lieben Bücher mit zu den Maiblumen, zur Orchis und zum Kuckuck. Dazu gehört "Im Schatten der jungen Mädchen" von Marcel Proust, deutsche Ausgabe im Verlag "Die Schmiede" in Berlin. Vor drei Jahren noch, als Proust endlich anfing, auch in Deutschland beachtet zu werden, sprachen unsere Kritiker von ihm flüsternd und geheimnisvoll wie von einem vergrabenen Schatz - heut' sind sie schon wieder mit ihm fertig und finden, er sei doch eben nur ein schwächlicher, entnervter Mensch mit Gefühlen zweiten Ranges. Möge den Kerls Schimmel auf der Zunge wachsen! Ich kümmere mich den Teufel um sie, ich bin froh, daß es etwas so beseelet Schönes, etwas so Warmes, Blumiges und Liebenswertes gibt wie die Gespinste dieses zarten Dichters, der nun schon lange den Kuckuck nicht mehr rufen hört. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 28)


Krachende Bücherborde

  Ach, und ebenso geht es mir im Kleinen, in meinem kleinen, engen Junggesellenhaushalt; alles ist voll und wird immer voller, nirgends ist Platz! Die Wände habe ich längst vollgemalt, es ist kein Platz mehr für Bilder. Die Büchergeschäfte krachen und hängen schief, so sehr sind sie mit doppelten Bücherreihen überlastet. Und immer kommen neue dazu, immer wieder liegt mein Studierzimmer voll von Paketen, vorsichtig und langbeinig muß ich zwischen ihnen meinen Weg suchen. Und, das ist das Komische, auf einige Pakete Schund kommt immer wieder ein Treffer, die guten Bücher sterben nicht aus; immer wieder wird mein Entschluß, überhaupt nichts Neues mehr zu lesen, umgeworfen. durch Sendungen von Verlegern, die ich nur bewundern kann. So bleiben auch jetzt, nachdem ich einige hundert Bände Ballast entfernt habe, eine Anzahl ganz wundervoller Bücher übrig, die ich trotz allem eben doch liebe und bei mir behalten möchte, und so werden sie denn mit Gewalt in die krachen Bücherborde gezwängt. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 18)


Der Ofen weigert sich

  Auch etwa hundertzwanzig Romane liegen da. Ihre Lektüre würde ich aber nur dann in Angriff nehmen, wenn dies Jahr wirklich der Sommer ausbleiben sollte und der Ofen ewig weiter brennen müßte. Schade übrigens, daß Bücher so schlecht brennen! Der Ofen weigert sich, sie zu verdauen. Er ist klüger als ich. Und immer noch regnet es. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 93)


Hesse, Hermann: Weihnachten & Bücher [1]

  Gegen das Weihnachtsfest hin erleben die Herren Verleger wieder mit Lust und Bangen das übliche Emporschnellen des Bücherbedürfnisses, und jeder hofft, er habe diesmal den Schlager im Katalog. Die Käufer fragen ihren Buchhändler nach dem Autor des Jahres, den man lesen und schenken muß, und mancher, der noch keinen Gottfried Keller besitzt, kauft einen von unseren Romanen und trägt ihn froh als teures Gut nach Hause. (Dezember 1909)


Hesse, Hermann: Weihnachten & Bücher [2]

  "Es beginnt wieder Bücher zu hageln, da es gegen Weihnachten geht, und der Kritiker steht zuweilen etwas ratlos und überwältigt vor den geöffneten Paketen, aus denen es quillt und quillt - wer mag das alles lesen! Da wird der gute Grundsatz, nur das Nennenswerte zu nennen und alles Halbe, sei es auch nett und angenehm, beiseite liegen zu lassen, schließlich zur Notwendigkeit. Möge denn die Erwägung, daß auf jedes hier angezeigte Buch zehn andere, gelesene aber entbehrliche Bücher kommen, das Gewicht der Nennung und Empfehlung verdoppeln! [...]" (28.10,1910)


Hesse, Hermann: Peter Camenzind

  Natürlich fand sich auch der Kamerad, der mir Heines "Buch der Lieder" in einer billigen Ausgabe zu lesen gab. Es war eigentlich kein Lesen mehr - ich goß in die leeren Verse mein volles Herz, ich litt mit, dichtete mit und geriet in ein lyrisches Schwärmen hinein, das mir vermutlich zu Gesichte stand wie dem Ferkel die Chemisette. Bis dahin hatte ich von aller "schönen" Literatur keine Ahnung gehabt. Nun folgte Lenau, Schiller, dann Goethe und Shakesspeare, und plötzlich war mir der blasse Schemen Literatur zu einer großen Gottheit geworden. Mit süßrem Schauder fühlte ich aus diesen Büchern mir die würzig kühle Luft eines Lebens entgegenströmen, das nie auf Erden gewesen und doch wahrhaftig war und nun in meinem ergriffenen Herzen seine Wellen schlagen und seine Schicksale erleben wollte. In meinem Lesewinkel auf der Dachbodenkammer, wohin nur das Stundenschlagen vom nahen Turmgestühl und das trockene Klappern der daneben nistenden Störche drang, gingen deie Menschen Goethes und Shakesspeares bei mir ein und aus. (Hermann Hesse: Peter Camenzind, S. 24)


Hesse, Hermann: Gemähtes Wiesle

  Heute war ein Jüngling im Laden, der den im Fenster ausgestellten "Gnomon" Bengels kaufen wollte, den er für ein englisches Werk hielt! Das war ein gemähtes Wiesle für unsern Knapp, der sich in Positur stellte und ein Unglaubliches über Bengels, über alte Sprachen, klassische Bildung etc. predigte, während dessen der Jüngling sich beschämt empfahl. Als Knapp gefragt wurde, ob er sich nicht auch bald in der Ehe binden lassen wollte, antwortete er: "Nein, ich bleibe broschiert." Broschiert ist er allerdings und, wie es scheint, nur erst zur Hälfte aufgeschnitten. (Brief an die Eltern, Januar 1896)


Hesse, Hermann: Kommen und Gehen

  Alles, was untergegangen scheint, kann einmal wiederkommen. Wir lesen und lieben heute manche ältere Dichter, von welchen unsere Väter kaum noch die Namen kannten und über die sie die Achseln zuckten, und wir haben Dichter vergessen und zucken über sie die Achseln, die noch vor einer Generation in den Klassikerkatalogen obenan gestanden haben. Der Schatz einer Nation an Kunst und Dichtung ist wie der Schatz eines einzelnen an Erinnerungen und Erfahrungen: keine geht je völlig unter, jede kann zu jeder Zeit wieder neu und aktuell werden, obwohl das, was momentan im Bewußtsein spiegelt, immer nur ein millionster Teil des ganzen Besitzes ist.


Hesse, Hermann: Sammeln, nicht zerstreuen

  Nicht darauf soll es uns ankommen, möglichst viel gelesen zu haben und zu kennen, sondern in einer freien, persönlichen Auswahl von Meisterwerken, denen wir uns in Feierstunden ganz hingeben, eine Ahnung zu bekommen von der Weite und Fülle des von Menschen Gedachten und Erstrebten, und zur Gesamtheit selbst, zum Leben und Herzschlag der Menschheit, in ein belebendes, mitschwingendes Verhältnis zu kommen. Dies ist schließlich der Sinn alles Lebens, soweit es nicht bloß der nackten Notdurft gilt. Keineswegs etwa "zerstreuen" soll uns das Lesen, sondern vielmehr sammeln, nicht über ein sinnloses Leben hinwegtäuschen und mit einem Scheintroste betäuben, sondern unserem Leben im Gegenteil einen immer höheren, immer volleren Sinn geben helfen. (in: Eine Bibliothek der Weltliteratur)


Hesse, Hermann: Lieblingslektüre

  Unendlich viele Male ist mir die Frage gestellt worden: "Was lesen Sie am liebsten?" Die Frage ist für einen Freund der Weltliteratur schwer zu beantworten. Ich habe manches Zehntausend Bücher gelesen, manchen davon mehrere Male, und ich bin grundsätzlich dagegen, aus meiner Bibliothek und aus dem Kreis meiner Teilnahme oder doch meines Interesses irgendwelcher Literaturen, Schulen oder Autoren auszuschließen. Und doch ist die Frage berechtigt und ist auch einigermaßen beantwortbar. Es kann jemand ein dankbarer Allesesser sein und vom Schwarzbrot bis zum Rehrücken, von der Karotte bis zur Forelle nichts verschmähen, und dennoch seine drei, vier Lieblingsspeisen haben.


Hesse, Hermann: Beschränkungen

  Man sagt, die Bücherliebhaberei gehört gleich dem Geiz zu jenen wenigen Leidenschaften, welche sich mit dem Älterwerden nicht verlieren, sondern mit den Jahren zunehmen und leicht zur Manie werden. Ich finde diesen Satz bis jetzt an mir nicht bestätigt. Die Zahl der Bücher, von denen ich mich nimmer trennen möchte, wird mit jedem Jahr kleiner, obwohl meine Büchersammlung langsam wächst. Verluste von Büchern, die mich früher aus der Fassung gebracht hätten, ertrage ich heute mit Achselzucken, und ich habe sogar die jahrlang gehaltene gute Gewohnheit, keine Bücher auszuleihen wieder abgetan. Trotzdem habe ich meine Bücher kaum weniger lieb als früher. Es hat sich nur, was einst Leidenschaft war, zur schönen Gewohnheit gewandelt, und die Relativität der Werte, die Menge der uns auferlegten Beschränkungen, beginnt langsam jenen Rost auch bei mir anzusetzen, den man Weisheit, Schwabenalter oder beginnenden Verkalkung nennen kann, je nachdem. Die Räume, in denen man lebt, wachsen nicht mit einem, die Bücherschäfte auch nicht, noch weniger die Mußezeiten und Augenkraft, und so kommt es, daß ich heut bei einem Jahresüberblick manches hübsche Buch ohne Schmerzen herausnehme und weggebe, von dem ich bis vor kurzem noch überzeugt war, ich würde es im Lauf der Jahre ganz gewiß nochmals lesen. Nein, weg damit, das Leben wird kürzer, wird übersehbarer, und schreit nach Konzentration, nicht nach Erweiterung des Beiwerkes. Wenn ich jetzt, wo die sommerliche Revision meiner Bücherei vollzogen ist, mir den Zuwachs ansehe, der seit dem nun bald voll werdenden Kriegsjahr hinzugekommen ist, so sind weniger Zufallserscheinungen dabei als sonst, der Krieg hat Auslese geübt und die Verleger vorsichtiger gemacht. Ganz wenige neue Romane, neue Gedichtbücher, neue Dramen, fast nichts von Philosophie, wenig von Kunstpublikationen. Die Kriegsliteratur selbst, die einige Monate lang meinen Schreibtisch überflutete, ist zum allergrößten Teil ungelesen verschwunden. [Hermann Hesse: Auszug aus dem Artikel: Ein Bibliotheksjahr, In: Die Welt im Buch Bd. 2. S. 457 ff.)


Hesse, Hermann: Ästhetische Stimmigkeit

  Ein Buch kann künstlerisch ausgestattet sein, ohne eine einzige Zeichnung oder 'Illustration' zu enthalten. Die Anordnung der Zeilen, das Verhältnis der weißen Ränder zum bedruckten Blattraum, die Fassung des Titels und namentlich die Harmonie zwischen Papierfarbe und Druckfarbe - dies alles ist für den ästhetischen Eindruck wichtiger als die 'Illustration', welche sehr künstlerisch sein und doch, da mit dem Druck nicht zusammengedacht und gestimmt, störend wirken kann. Einem ohne Feinheit und Sorfgalt gedruckten Buch können auch Illustrationen nicht aufhelfen, im Gegenteil wird das Mißverhältnis zwischen Buch und Bildern peinlich wirken.


Hesse, Hermann: Harmonischer Buchdruck

  Ein Buch kann künstlerisch ausgestattet sein, ohne eine einzige Zeichnung oder 'Illustration' zu enthalten. Die Anordnung der Zeilen, das Verhältnis der weißen Ränder zum bedruckten Blattraum, die Fassung des Titels und namentlich die Harmonie zwischen Papierfarbe und Druckfarbe - dies alles ist für den ästhetischen Eindruck wichtiger als die 'Illustration', welche sehr künstlerisch sein und doch, da mit dem Druck nicht zusammengedacht und gestimmt, störend wirken kann. Einem ohne Feinheit und Sorfgalt gedruckten Buch können auch Illustrationen nicht aufhelfen, im Gegenteil wird das Mißverhältnis zwischen Buch und Bildern peinlich wirken.


Hesse, Hermann: Verdichten

  Dichtung ist nicht ein Abschreiben des Lebens, sondern ein Verdichten, ein Zusammensehen und Zusammenfassen des Zufälligen zum Typischen und Gültigen. Es gehört zum Wesen der Kunst, daß sie Realität zu gesteigertem Ausdruck bringt und einem geheimen Sinn der Natur enthüllt, den zu finden oder zu erdichten dem Menschen ein uraltes Bedürfnis ist. Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor dem Chaos echt ist, es fehlt aber an solchen, deren Glaube und Liebe ausreicht, sich selber über dem Chaos zu halten.


Hesse, Hermann: Aufs beste beschränken

  Es gibt keine tausend oder hundert "besten Bücher", es gibt für jeden einzelnen Menschen eine besondere Auswahl dessen, was ihm verwandt und verständlich, lieb und wertvoll ist. Darum kann eine gute Bibliothek nicht auf Bestellung geschaffen werden, es muß jeder seinem Bedürfnis und seiner Liebe folgen und sich selber allmählich eine Büchersammlung erwerben, genau so wie er sich Freunde erwirbt. Dann kann eine kleine Sammlung ihm wohl die Welt bedeuten. Es waren immer gerade die guten Leser, deren Bedürfnis sich auf sehr wenige Bücher beschränkte. ("Bücherlesen und Bücherbesitzen". In: Schriften zur Literatur]


Hesse, Hermann: Individualität und Einmaligkeit

  Je differenzierter, je feinfühliger und beziehungsreicher wir zu lesen verstehen, desto mehr sehen wir jeden Gedanken und jede Dichtung in ihrer Einmaligkeit, in ihrer Individualität und engen Bedingheit, und sehen, daß alle Schönheit, aller Reiz gerade auf dieser Individualität und Einmaligkeit beruht - und zugleich glauben wir dennoch, immer deutlicher zu sehen, wie alle diese hunderttausend Stimmen der Völker nach demselben Ziele streben, unter anderem Namen dieselben Götter anrufen, dieselben Wünsche träumen, dieselben Leiden leiden. Aus dem tausendfältigen Gespinste unzähliger Sprachen und Bücher aus mehreren Jahrtausenden blickt in erleuchtenden Augenblicken den Leser eine wunderlich erhabende und überwirkliche Chimäre an: das Angesicht des Menschen, aus tausend widersprechenden Zügen zur Einheit gezaubert.


Hesse, Hermann: Vom Lesen

  Gedankenloses, zertreutes Lesen ist geradeso wie Spazierengehen in schöner Landschaft mit verbundenen Augen. Wir sollten auch nicht lesen, um uns und unser tägliches Leben zu vergessen, sondern im Gegenteil, um desto bewußter und reifer unser eigenes Leben wieder in feste Hände zu nehmen. Wir sollen zu Büchern kommen nicht wie ängstliche Schüler zu kalten Lehrern und auch nicht wie Nichtsnutze zur Schnapsflasche, sondern wie Bergsteiger zu den Alpen und wie Kämpfer ins Arsenal, nicht als Flüchtige und zum Leben Unwillige.


Hesse, Hermann: Der millionste Teil

  Alles, was untergegangen scheint, kann einmal wiederkommen. Wir lesen und lieben heute manche ältere Dichter, von welchen unsere Väter kaum noch die Namen kannten und über die sie die Achseln zuckten, und wir haben Dichter vergessen und zucken über sie die Achseln, die noch vor einer Generation in den Klassikerkatalogen obenan gestanden haben. Der Schatz einer Nation an Kunst und Dichtung ist wie der Schatz eines einzelnen an Erinnerungen und Erfahrungen: keine geht je völlig unter, jede kann zu jeder Zeit wieder neu und aktuell werden, obwohl das, was momentan im Bewußtsein spiegelt, immer nur ein millionster Teil des ganzen Besitzes ist.


Hesse, Hermann: Situation des Autors

  Der Durchschnittsleser denkt sich den Autor in einer Art edler Zurückgezogenheit und halben Müßiggangs damit beschäftigt, seine Bücher zu schreiben, in denen er sein von der Außenwelt durch Antiphone geschütztes Innenleben verarbeitet, und ahnt wenig von der soziologischen und moralischen, anstrengenden und wenig gesicherten Situation des modernen Autors der "Gesellschaft" gegenüber, welche schon kaum mehr existiert, seit unsere Menschheit entweder zur uniformierten Masse ohne Gesicht geworden oder aber in Millionen einzelner, durch nichts als durch Angst und Sehnsucht untereinander verbundener Individuen zerfallen ist.


Hesse, Hermann: Bücherverbrennungen in China

  Und neben den Märtyrern westlicher Religionen und Kulturgemeinschaften stehen würdig die chinesischen Gelehrten unter dem Kaiser Schi. Der Kaiser war von seinen Gelehrten wiederholt ermahnt worden, die überkommenenen Regeln der Sitte und des Regierens nicht zu mißachten. Sein Kanzler Li-Si aber vertreidigte ihn und riet ihm schließlich, die Macht der hergebrachten Vorschriften und Gesetze dadurch zu brechen, daß er alle gelehrten Bücher dieser Art im ganzen Lande verbrennen lasse. Er ließ sich dazu überreden, und alsbald begann eine furchtbare Vernichtung aller Bücher im Lande, der wertvollsten und edelsten Dokumente altchinesischer Kultur. Den Gelehrten und Bücherbesitzern aber war bei schwerer Strafe befohlen, alle ihre Bücher binnen dreißig Tagen zu verbrennen oder den Beamten auszuliefern. Und obowhl jeder, der diesem Befehl zuwider handelte, sofort gefangengesetzt und verurteilt wurde, haben nicht weniger als vierhundertsechzig Gelehrte Trotz geboten und sich einsperren lassen und sind lebendig begraben worden. ("Chinesische Geschichte" von Heinrich Hermann, Stuttgart 1912) (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 326/7)


Hesse, Hermann: Ein Funke Leben

  Die Bücher sind nicht dazu da, unselbständige Menschen noch unselbständiger zu machen, und sie sind noch weniger dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch von neuer Frische sich für den Leser ergibt. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 202)


Hesse, Hermann: Lektürerfahrungen

  Ich hatte mir das sehr stattliche Buch zur Weihnacht gewünscht, hatte mich eine Weile nicht an die Lektüre getraut, da der schwere dicke Band schon den Händen bang machte, dann aber war das Werk manche Wochen hindurch meine Abendlektüre gewesen, von der ich, als sie zu Ende ging, nicht ohne eine gewisse Trauer Abschied nahm, Diese Dichtung hatte mir nun so lange Zeit jeden Abend bis zum Lichtlöschen Gesellschaft geleistet, hatte mich mit unzähligen Bildern beschenkt, mir über viele schlaflose Stunden weggeholfen - es schien mir unrecht, diese Wohltaten so ohne Sang und Klang hinzunehmen. Ich schrieb also dem Dichter einen kleinen Dankbrief. Antwort kam aber nicht von ihm, sondern von seiner Frau, die mir mitteilte, daß er schon seit zwei Jahren nicht mehr am Leben sei. (Hermann Hesse: Stufen des Lebens. Briefe, S. 93)


Hesse, Hermann: Konzentration

  Rein äußerlich ist das Lesen ein Anlaß, eine Nötigung zur Konzentration, und es ist nichts falscher, als zu lesen, um sich zu "zerstreuen". Wer nicht gemütskrank ist, der soll sich durchaus nicht zerstreuen, sondern er soll sich konzentrieren, er soll überall und immer, wo er sei und was er tue oder denke oder empfinde, mit allen Kräften seines Wesens dabei sein. So soll man denn auch beim Lesen vor allem empfinden, daß jedes anständige Buch eine Konzentration darstellt, ein Zusammenziehen und intensiver Vereinfachen verwickelter Dinge. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 202)


Hesse, Hermann: Wie Bergsteiger & Kämpfer

  Das Leben ist kurz, und es wird im Jenseits keiner nach der Zahl der Bücher gefragt, die er bewältigt hat. Darum ist es unklug und schädlich, mit wertloser Lektüre Zeit hinzubringen. Ich denke dabei noch gar nicht an schlechte Bücher, sondern vor allem an die Qualität des Lesens selbst. Man soll vom Lesen, wie von jedem Schritt und Atemzug im Leben, etwas erwarten, man soll Kraft hingeben, um reichere Kraft dafür zu ernten, man soll sich verlieren, um sich bewußter wiederzufinden. Es hat keinen Wert, die Literaturgeschichte zu kennen, wenn nicht aus jedem von den gelesenen Bänden uns Freude oder Trost oder Kraft oder Seelenruhe geworden ist. Gedankenloses, zerstreutes Lesen ist geradeso wie Spazierengehen in schönere Landschaft mit verbundenen Augen. Wir sollen auch nicht lesen, um uns und unser tägliches Leben zu vergessen, sondern im Gegenteil, um desto bewußter und reifer unser eigenes Leben wieder in feste Hände zu nehmen. Wir sollen zu Büchern kommen nicht wie ängstliche Schüler zu kalten Lehrern und auch nicht wie Nichtsnutze zur Schnapsflasche, sondern wie Bergsteiger zu den Alpen und wie Kämpfer ins Arsenal, nicht als Flüchtlinge und zum Leben Unwillige, sondern als Gutgewillte zu Freunden und Helfern. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 202)


Hesse, Hermann: Richtungen und Literatursekten

  Seit einigen Jahren ist Deutschland und die deutsche Presse so literarisch geworden, daß es zur Mode ward, die jeweils neuesten "Richtungen" unserer Literatur unheimlich ernst zu nehmen und aufs Peinlichste zu analysieren und unsrer Dichtung allstündlich den Puls zu fühlen wie einem Schwerkranken. Exakt wie Börsenbewegungen wurde jede kleine Schwankung vom Realismus zum Neoromantismus, vom Ästhetentum zum "neuen Glauben", von Nietzsche zu Haeckel u.s.w. beobachtet und dargestellt. Man könnte meinen, unsere Dichter säßen streng in "Schulen", abgeteilt hinter ihrer Arbeit und es sei für den Einzelnen von unendlicher Wichtigkeit, welcher Richtung er sich angeschlossen habe. Es sieht in Wirklichkeit zum Glück ziemlich anders aus. Die Dichter, soweit sie etwas taugen, kümmern sich nicht um alle diese Richtungen und Gemeinschaften, heute so wenig wie je, und die Anführer und Hauptredner all der neuen Literatursekten sind meistens gar keine Dichter, sondern Unternehmer, und haben ihren Ruhm dahin, wenn sie ein paar Monate oder Jahre lang von sich haben reden machen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 101)


Dramen lesen

  Es fällt auf, daß ich, seit es Expressionisten gibt, wieder Dramen lesen kann. Früher konnte ich das nicht, ich war voll von Hemmungen gegen Dramen: die hatten solche Regeln, mußten Akte haben und Schlüsse, einen Aufbau und dergleichen, und so wenig ich je ein Drama hätte schreiben mögen, so wenig mochte ich eins lesen. Jetzt bei diesen Jungen fällt mir das wieder ganz leicht, macht mir Freude und entzückte mich oft, sie haben Regeln und Formen weggelassen und ich kann ihre Dramen lesen wie richtige, einfache, mehr oder weniger tolle Dichtereien.


Bücher & Literatur 1918

  Im Kamin verbrennt das dürre Holz, das ich heut' im Garten mit den Kindern gesammelt habe. Die Tage sind noch warm, wir heizen erst am Abend, und nur das Studierzimmer. Ein Stündchen sind die Kinder noch bei mir, man sieht ins Feuer, rät Rätsel, spielt mit dem Blasebalg. Dann bleibe ich allein, lege ein paar Äste nach und lese. Dazwischen viele Unterbrechungen. Ein Kaminfeuer braucht Pflege, alle zehn Minuten längstens muß man nachsehen, nachlegen, blasen, schichten. Gedanken und Sorgen zwängen sich zwischen die Bilder aus dem eben gelesenen Buche. Soll man nicht doch den richtigen Ofen bald anzünden? Aber dann verwöhnt man sich, und nachher mitten in der Winterkälte sitzt man dann plötzlich ohne Kohlen. Überhaupt, wozu? Wozu noch Studierzimmer heizen? Wozu noch Bücher lesen, Bücher schreiben, Freude an Gedichten haben? Wozu das alles? Vier Jahre lang hat uns Dichtern und heimlich-glücklichen Idioten nun die kluge, große Welt unter Donner und Blitz die Weisheit verkündet, daß wir Esel und sentimentale Narren sind, daß es um andere Dinge in der Welt geht als um unsere kindlichen Interessen. Wir haben gelächelt, wenn die Feinde das sagten, und haben gezuckt, wenn die heimischen Stimmen ebenso klangen. Wir haben den Kriegsdichtern und Kriegsmachern zugeschaut, wir sind mit Steinen und Dreck beworfen, sobald wir ein Wort der Vernunft, der Menschlichkeit, des Anstandes verlauten ließen. Wir waren Vaterlandslose, wir hatten keinen Sinn für die große Zeit. Jetzt, wo die Welt sich gedreht hat und die Dinge, die wir Narren und Dichter vor drei Jahren gesagt, zur Marktwahrheit geworden sind, jetzt freut uns diese Marktweisheit nicht mehr, und wir haben uns wieder zurückgezogen, machen Gedichte, treiben Kindereien. Der Verstand und die Zeitung sagt uns, daß wir damit bitter Unrecht tun, daß wir der Zeit nicht gerecht werden, daß wir nicht sozial genug sind. Unser Herz indessen weiß es anders, und darum ist es mir auch nicht im mindesten ernst mit den Sorgen darum, ob unser ganzes Sein und Tun noch einen Wert und Sinn habe. Niemand hat mehr Sinn, niemandes Tun hat mehr Wert als das meine - soviel habe ich von der großen Zeit gelernt, deren Größe wir damals den entzückten Kriegsparteilern nicht glauben wollten und die uns nun so allmählich doch klar wird, weit über alle jene Konjunktur- Philosophie hinaus. Diese Zeit ist für uns groß, wird täglich größer, für uns Dichter, Denker, Träumer, Gottesgläubige - es bricht recht eine Zeit der Narren, der Seele, des Geistes an, und eigentlich sollten wir uns ja freuen, daß unsere Feinde nun das Bein gebrochen haben und im Graben liegen: die Kriegshetzer, die schreierischen Kriegsdichter, die Leitartikler von der großen Zeit und alles, was dazu gehört. Und dann lese ich wieder, mit gutem Gewissen, wie seit langem nicht mehr. Ich weiß, wenn ich mich in ein schönes Buch verliere, so tue ich Bessere, Klügeres, Wertvolleres als alle Minister und Könige dieser tollen Welt seit Jahren getan haben. Ich baue, wo sie zerstören - ich sammle, wo sie zertreuen - ich liebe Gott, wo sie ihn leugnen oder kreuzigen. Ein großer Bücherwall hat sich auf meinen Tischen angehäuft, trotz Krieg und Not geht das Handwerk brav weiter, und Papier ist noch viel da, scheint es. Aber wie ich den Haufen hin und her mustere, muß ich mir gestehen, daß wenig dabei ist, was mich freut, wenig, was ich je lesen werden. Nicht bloß die Bücher sind, wie mir scheinen will, über diese Kriegszeit nicht besser, sondern geringer geworden, sondern vor allem mein Geschmack hat sich ganz verändert. Romane machen mir Angst, Essays machen mir übel. Statt Dichtungen lese ich jetzt viel lieber Kirchenväter, sie sind so unendlich viel interessanter und wahrer. Immerhin, ich lese noch, ich bin noch nicht so weit, wie ich noch zu kommen hoffe: daß alles Gedruckte für mich Luft und Nichts ist. (Hermann Hesse: Herbstabend im Studierzimmer; Auszug)


Ist der Roman überlebt?

  Ästhetiker hörte man in letzter Zeit zuweilen davon reden, der Roman als Kunstform beginne zu altern und habe sich nächstens überlebt. Solche Orakelsprüche scheinen die Theoretiker zu lieben und je und je nötig zu haben. Tatsächlich wüßte ich kein Jahrzehnt der Literaturgeschichte, in dem so viel gute Romane entstanden wären wie im letztvergangenen. Und auch ohne das, und auch wenn das Wort Roman aus der Mode kommt, was liegt daran? Vielleicht findet ein anderer Theoretiker in Bälde, das Bücherlesen überhaupt sei etwas Veraltetes und müsse in Kürze vollends aufhören. Immer zu! Aber daß Menschen einander erzählen, was sie erlebt haben und was ihnen aus dem Erlebten an innerem Besitz blieb, das wird nie aufhören, so lange ein Leben auf der Erde ist. Und immer wieder werden unter diesen Menschen solche sein, denen das Erlebte zum Ausdruck und Symbol uralter Weltgesetze wird, die im Zeitlichen das Ewige und im Wandelbaren und Zufälligen die Spur des Göttlichen und Vollkommenen sehen, und ob diese Dichter ihre Werke Romane oder Offenbarungen oder Seelengeschichten oder sonstwie nennen, wird nicht sonderlich wichtig sein. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 104)


Lähmende Druckwerke

  Ein dickes Buch von einem unbekannten Autor, bei einem ebenso unbekannten Verleger und noch dazu im Kommissionsverlag erschienen, auf ein sehr mäßiges Papier sparsam gedruckt - das wirkt meistens schon beim bloßen Anblick lähmend auf den Berichterstatter. In dieser Form pflegen unbeschreibliche Sachen zu erscheinen, Ungeheuer von gutem Willen und mangelndem Können. Aber es gibt Ausnahmen und erfreuliche Enttäuschungen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 156)


Druck-Nörgelei

  Schade, daß der Verlag Bruns seine Ausgaben (nicht nur die vorliegende, sondern auch Poe, Baudelaire, Wilde usw.) stets auf demselben spröden Material druckt, das schon mehr Karton als Papier ist und allen wesentlichen Gesetzen moderner Druckkunst, obenan den Ratschlägen des Künstlers und Praktikers Morris, widerspricht. Es gibt auch dünne Papiere, auf denen der Druck nicht durchschlägt, und sonst liegt doch kein Grund vor, Umfang und Gewicht der Bücher möglichst groß zu machen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 159)


Eduard Mörike

  In unserer Tübinger Zeit kam es noch zuweilen vor, daß ein Student am Essen sparte oder auf eine Ferienreise verzichtete, um sich die Werke Mörikes kaufen zu können und mancher schrieb sich wenigstens eine Auswahl seiner Gedichte in ein Heftlein ab, um doch einen "eigenen Mörike" zu besitzen. Ich haben den Tag nicht vergessen, an dem ich damals die Summe, mit der ich eine drängende Rechnung hätte bezahlen sollen, für die vier rotleinenen Mörikebände hingab. Sie standen am Ehrenplatz meines Stehpultes und galten mir und meinen Freunden als ein Schatz und Kleinod, und nie ist einer der Bände staubig geworden. Seither ist meine Büchersammlung groß geworden und nimmt ein paar Wände ein, aber etwas Teureres und Köstlicheres als jener mit schlechtem Gewissen "ersparte" Mörike ist nicht darunter. (...) Und wenn ganze Reihen von Dichterromanen, denen eine Mode Glanz und Klang verlieh, wieder verklungen und vergessen sind, wird der bescheidene alte Schwabe noch leben und wird sein Werk denselben tiefen, lauteren Goldglanz haben, der uns Heutige verführt, beschämt und beglückt. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 214/220)


Der Kritik Zeit lassen

  Eine aktuelle Skizze, ein mit fleißiger Realisitik nach dem heutigen Gesellschafts- oder Volksleben zeichnender Roman haben ihren starken Reiz, der erst ausgekostet und überwunden sein willl, ehe die wirkliche Kritik anfangen kann. Wenn es etwa Sitte wäre, über ein neues Buch erst zwei Monate nach der Lektüre zu schreiben und zu reden, wieviel würde schon in diesem bißchen Zeit untergesunken und vergessen sein! (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 243)


'Seine' Klassiker haben

  So erfreulich das zunehmende Interesse des Volkes für neue Dichtungen ist, es muß doch stets wieder daran erinnern werden, daß Bildung und Geschmack in literarischen Dingen ganz wohl ohne viele moderne Lektüre existieren können, niemals aber ohne ein Vertrautsein mit dem Besten der älteren Literaturen. Es sind Modeaffen, die das Lesen des allerneuesten Romans für eine Bildungsnotwendigkeit halten, während ihnen Goethe so fremd wie Homer ist. Kein Mensch braucht deshalb "alle Klassiker" gelesen zu haben; im Gegenteil: je höher die Bildung (also das Selbstbewußtsein, das Gefühl der eigenen Persönlichkeit), desto rascher und sicherer scheidet jeder das ihm nicht Gemäße aus, desto durchdringender aber erfaßt er auch alles, was ihm verwandt ist. Man kann den ganzen Goethe, Herder, Lessing gelesen haben und doch ohne Bildung sein; aber andrerseits gehört es zum Wesen einer wertvollen Bildung, daß man da und dort im Schrifttum der Vergangenheit Freunde hat und Schätze weiß. Auf diese Art sollte jeder, der überhaupt Dichter liest, seine "Klassiker" haben, seine speziellen, persönlichen Freunde und Führer. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 268)


Bibelungetüme

  Vor etwa zwei Jahren ging das Gerücht, die Reichsdruckerei in Berlin bereite einen besonders guten und schönen Neudruck der Lutherbibel vor. Sofort subskribierte ich, denn das Unternehmen schien mir der Mithilfe wert und ich dachte: wenn wir unsere Freude an schönen Ausgaben von alten Märchen, von Lieblingsdichtern und von Kuriositäten der Weltliteratur haben, warum soll uns da nicht auch jemand eine schöne Bibel drucken? ich freute mich darauf, meine alte Talerbibel wegzulegen und mit Genuß und Augenfreude die neue, herrlich gedruckte aufzuschlagen. Darüber verging die Zeit, und dieser Tage brachte mir nun die Post ein großes Paket, darin lag die neue Bibel, in Folio und Zweifarbendruck, in blaues Leder gebunden, und ich erschrak über sie. Es ist wieder das alte, für den Altar berechnete Ungetüm an Umfang und Gewicht, die richtige unbrauchbare Prachtbibel. Mit meinen zwanzig Mark bin ich nicht hereingefallen, das Buch ist sie reichlich wert, man hat nicht daran gespart. Hereingefallen bin ich nur mit meinem törichten Glauben, wir seien schon so weit, daß man eine Bibel wie andre Bücher drucken könnte, zum Gebrauch und zur täglichen Freude. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 352)


Lesestoff für Kinder

  Auch Kindern sollte man mehr Bücher schenken. Hier ist die Gefahr, sie möchten nur gezwungen lesen, noch geringer; denn ein halbwegs gesundes Kind halbwegs vernünftiger Eltern legt alles, was ihm fremd bleibt und nicht zu ihm paßt, sehr schnell und entschieden wieder weg. Ich meine nicht, daß man Kinder mit Lesestoff überfüttern soll. Man soll ihnen nur geben, wenn das Bedürfnis und Verlangen sich regt. Da gibt man einem Knaben oft an Weihnachten oder am Geburtstage ein oder zwei Bücher, teure illustrierte Sachen, die nun für Monate oder gar für ein Jahr ausreichen sollen. Statt dessen kann man mit Hilfe wohlfeiler Volksausgaben dem Bedürfnis jeweils gerecht werden. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 328)


Gebildete und einfache Leser

  Man stößt immer wieder auf den Einwand, Sachen von großen Dichtern gehören nicht vor die "Vielzuvielen", wie Perlen nicht vor die Säue. Aber das ist Geschwätz. Die etwaige Gefahr der Wirkung einer guten Dichtung auf Naive ist zumindest nicht halb so groß als die der Zeitung, die jeder in die Hand bekommt, ja als die der Bibel. Und wenn ein wenig gebildeter Leser etwa im "Fähnlein der sieben Aufrechten" nicht alle Schönheiten erfühlt und alle Reize kapiert, so genießt er desto unbefangener und interessierter das Gegenständliche, freut sich und lernt, und am Ende bleibt auch von der unmeßbar feinen Wirkung des eigentlich Dichterischen etwas übrig. Der Robinson und gar der Gulliver, den unsre Kinder lieben und lesen, ist seinerzeit ein rein literarisches Buch für literarisch gebildete Leser gewesen! Auch täuscht man sich leicht über das Verständnis einfacher Menschen für Schönes. Im Hausbau und der Gartenanlage sind wir nach allen Raffinements schließlich dankbar in hundert Fällen zu bäuerlichen Vorlagen zurückgekehrt und räumen damit ein, daß das Gefühl fürs Schöne anderswo sitzt als in dem, was man "Bildung" heißt. So können wir auch einen Dichter ruhig einfachen Lesern überlassen. Mancher Besitzer einer großen Bibliophilenbibliothek genießt seine Dichter mit weniger Wonne uned Herzlichkeit als irgendein einfacher Mann, dem der Faust oder der Don Quixote in die Hände gerät. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 328)


Bücher haben ihre Schicksale

  Bücher haben ihre Schicksale und es gibt immer wieder Autoren und Bücher, deren Geschicke uns Rätsel bleiben. Was den Erfolg eines Buches ausmacht, ist ein Geheimnis. Es erscheinen manchmal Bücher, vor denen die gute Presse warnt, die niemand lobt, über die man fast nur mit Geringschätzung reden hört - aber sie werden gekauft. Und andere haben viele Stimmen besonnener und redlicher Beurteiler für sich, da und dort erscheint ein Artikel über sie, einzelne Leser äußern sich begeistert - und doch bleibt der Erfolg und Ruhm aus. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 315)


Gontscharow lesen

  Mit der Zeit kommt alles einmal an die Reihe. Seit Jahren habe ich, und nicht ich allein, angesichts der Gorkibegeisterung und anderer seichterer Russenmoden daran erinnert, daß es noch keine befriedigende deutsche Ausgabe von Gogol und Gontscharow gebe. Inzwischen hat Georg Müller in München seine große Gogol-Ausgabe begonnen, zwei Bände liegen fertig vor, und nun kommt bei Bruno Carrirer in Berlin ein auf vier Bände berechneter Gontscharow heraus. Der eben erschienene zweite Band bringt den berühmten "Oblomow", das populärste Buch des großen Russen, in der vom Wiener Verlag übernommenen, etwas gebesserten Übersetzung von Clara Brauner, die sich nun recht gut liest. Der erste Band enthielt den Roman "Eine alltägliche Geschichte", der merkwürdigerweise in Deutschland so gut wie unbekannt war, ein großartiges und ergreifendes Werk, dem Besten von Tolstoi ebenbürtig. Wer von Gogol und Turgenjew, oder auch nur von Korolenko und Gorki her ein Ohr für den eigentümlichen Ton der guten russischen Dichtung gewonnen hat, wird bei Gontscharow reichen Genuß finden. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 411)


Lob des Verlages Dieterichs

  Gewiß, er [Dieterichs] macht für seine Bücher Propaganda, auch für die nicht einwandfreien, aber er tut es in einem Ton und in einer Form, welche das eigentlich schlechte Publikum schon von Anfang an ausschließt. Er redet von seinen Büchern nicht wie der Händler von seiner Ware, sondern wie der Prediger von seinen Idealen, wie der Jünger von seinen Lehrern. Und er darf das tun. Er hat schon äußerlich seine Bücher stets mit Ehrfurcht behandelt und viele wirklich exemplarisch schöne Drucke hergestellt, ohne dafür die frechen Preise der jetzt Mode gewordenen, meist minder nobel gedruckten Liebhaberausgaben zu fordern. Er hat auch, vor andern Verlegern und nur mit dem Inselverlag vergleichbar, die Scheußlichkeit des "modernen" Bucheinbandes beizeiten erkannt und in Form und Material Gutes gemacht. Er ist einer der wenigen Verleger, die wissen, daß an einem gebundenen Buch die Haupt- und Schauseite der Rücken ist (die meisten Verleger machen ihre Einbände fürs Schaufenster statt für die Bibliothek), und daß man zu Einbänden, die doch recht lange halten sollen, Materialien verwenden muß, die mit dem Altern nicht häßlich, sondern womöglich schöner werden. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 370)


Tagessprache und Jargon

  Doch glaube ich wohl, daß der wahrhafte Dichter, auch beim innigsten Verhältnis zu den Dingen seiner Zeit, niemals mit der Tagessprache seiner Zeit zufrieden sein kann. Ein Buch ist im schlechten Sinn modern und vergänglich nicht dann, wenn darin Automobile und Tagesfragen vorkommen, sondern wenn es die Sprache seiner Zeit spricht, die übermorgen veraltet sein wird, statt der Sprache, die stets gilt und stets wächst, und an deren Baum der unterste und älteste Ast noch immer grüner ist als die Tagessprache von vorgestern, für die man ganz gern den scheußlichen Ausdruck Jargon braucht. Es schreiben aber neun Zehntel unsrer Dichter Jargon. Darum mutet jedes redliche Mühen um die Sprache edel und gewinnend an. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 383)


Gelegenheitsbibliophilie

  Gewiß, der Bücherkultus des reinen Bibliophilen hat etwas Lächerliches an sich und es gibt notwendigere Dinge als Vorzugsausgaben und Erstdrucke. Andererseits kann ich doch den gewiß zum Teil geheuchelten Ekel blasierter Literaten vor allem Bücherwesen nicht teilen. Ein schönes Buch ist und bleibt mir doch eines der liebesten und achtenswertesten Dinge. Und so widerstehe ich einem außerordentlichen Anlaß nicht, mich als bescheidenen Gelegenheitsbibliophilen zu dokumentieren. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 101)


Der moderne Roman

  In der Literatur ist es vor allem die erzählende Dichtung, innerhalb deren die Heutigen auf früheren Zeiten blicken als auf seliges Kinderland voll naiver Anschauungslust. Wir haben keine naive Erzählung, keine geschehensfrohe Novelle, keine unbekümmert frohe Anekdotenkunst mehr. An ihrer Stelle haben wir den modernen Roman, der infolge seiner labilen Formgesetze so leicht zum Spiegel des Aktuellen wird, und so spiegelt er denn in seinen besten Vertretern Individualismus und Intellektualismus, wendet sich vom reinen Erzählen ab, hat die Lust am Geschehnis, an den Verknüpfungen äußerer Geschicke verloren und geht grüblerisch dem vereinsamten Seelenleben des sensiblen modernen Intellektuellen nach. Und so sehr das Zeitgemäße dieser Dichtungsart uns fesselt und bewegt, zu Zeiten sind wir doch der ganzen Psychologie und Klugheit elend müde und stürzen uns, wie auf frische Quellen, auf die Erzählungen anderen, glücklicherer, naiverer Zeiten. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 414)


Meyrink übersetzt Dickens

  Daß 'Gustav Meyrink" sich hinsetzt, um in jahrelanger Arbeit den alten 'Dickens' zu übersetzen, ist nicht schön von ihm. Wir hätten lieber eigene Bücher von ihm. Und Dickens lag in reichlichen Ausgaben deutsch seit Jahrzehnten vor. Gewiß, diese Übersetzungen waren schlecht, aber ob es sich lohnt, eine große Arbeit an die Übersetzung von Werken zu wenden, die auch im Original keine Kunstwerke sind? Ich unterschätze Dickens nicht, ich liebe ihn sogar und kenne den Schatz von Wärme, Herzlichkeit und naiver ethischer Kraft, die in seinen Büchern liegt. Aber diese Bücher sind sorglos geschrieben, und ich zweifle, ob Dickens sich mit dem Ausdruck im Original soviel Mühe gegen hat wie Meyrink mit der Übersetzung. Wirklich bringt dieser denn auch etwas heraus, was keine frühere Übersetzung hat, einen eigenen Ton zwischen Schlichtheit und Verzwicktheit, der der Sache gerecht wird. Und da es schließlich Meyrinks Sache ist, womit er seine Zeit hinbringen will, und da weiter der Verlag Langen sich mit den Dickensbüchern große Mühe gab, wollen wir diese große Neuausgabe dankbar annehmen und anerkennen, daß sie die beste ist, die wir haben. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 475)


Aspekte der Lektürewahl

  Und so ist auch der Leser gerade heute geneigt, als schöne Abwechslung und als flüchtigen Vergessenstrunk je und je etwas Altes, Behagliches zu genießen, die Menge der Übersetzungen und Neuausgaben beweist es. Das ist an sich weder zu loben noch zu tadeln, denn der Leser tut es meistens aus einem Mißverständnis. Er hat meistens nicht das Geschick und die Zeit, sich aus heutiger Produktion das wirklich Beste auszusuchen, und greift oft in falschem Bildungsdrange zu dem Alten, das ihm schon durch sein Alter würdiger und "klassisch" scheint. Auch verstehen wenige Leser in einer modernen Dichtung den Willen und die eigentliche Kunst der Dichter, die darin besteht, das Leben der eigenen Zeit und Nähe kristallisierend zu Form und Schönheit zu gestalten. In Stunden der Müdigkeit und des Erholungsbedürfnisses greifen sie lieber zu einer Lektüre, die schon durch Titel und Stoff ins Ferne, Vergangene, Unaktuelle führt. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 414)


Königliche Hoheit

  "Königliche Hoheit", Manns neuer, großer Roman [S. Fischer, Berlin, 1909] bringt wirklich keine Überraschung. Er bringt vielleicht denen, die sich in diesen Jahren wiederholt und beglückt mit den Buddenbrooks beschäftigt hatten, eine Art von Enttäuschung; denn solche Bücher wie die Buddenbrooks schreibt auch ein Meister nicht alle Jahre, und auch nicht alle zehn Jahre. Die Buddenbrooks waren, von kleinen Sonderlichkeiten und Spielereien abgesehen, ein Werk von jener Art, das man im Lauf der Jahre mit eigenem Erleben verwechseln kann, ähnlich einigen großen Schöpfungen von Balzac, Flaubert, Tolstoi, Bang. Sie waren so absichtslos, unerfunden, natürlich und überzeugend wie ein Stück Natur, man verlor ihnen gegenüber den ästhetischen Standpunkt und gab sich hin wie dem Anblick eines natürlichen Geschehens. Damit verglichen , ist "Königliche Hohheit" ein Roman, ein Roman in gutem und schlechtem Sinn, eine Erfindung und künstlerische Arbeit, ein Gewolltes, dem wir mit Interesse, Liebe, Bewunderung, aber nicht mit solcher selbstvergessener Hingenommenheit folgen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 433)


Entschuldigung eines Autors

  Er hat die heikle, dunkle, komplizierte Geschichte in einem lieben kleinen Büchlein klar, sachlich und heiter vorgetragen und damit eine künstlerische Arbeit getan, zu welcher den meisten unsrer beliebten Dichter die Kraft und Stilsicherheit gefehlt hätte. Er hat sich in einem gescheiten, doch unnotwendigen Vorwort sogar darüber erklärt und beinahe entschuldigt. Man muß sich immer entschuldigen, wenn man die Bücherleser eines reich werdenden Volkes mit Kunstwerken belästigt, statt sie mit humoristischen oder sentimentalen Unzulänglichkeiten zu entzücken. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 464)


Aufbewahrtes Papier

  Überall vollgestopfte Schubladen, gebündelte Mappen und Briefhaufen mit Aufschriften, die nicht mehr stimmten oder nicht mehr leserlich waren, überall beschriebenes und bedrucktes Papier aus Jahren und Jahrzehnten her, aufbewahrt, weil man sich zum Wegwerfen nicht hatte entschließen können, aufbewahrt aus Pietät, aus Gewissenhaftigkeit, aus Mangel an Schneid und Entschlußkraft, aus Überschätzung des Geschriebenen, das einmal "wertvolles Material" für irgendwelche neue Arbeiten abgeben könnte, aufbewahrt und eingesargt, wie einsame alte Damen und Kasten und Dachböden voll Schachteln und Schächtelchen mit Briefen, gepreßten Blumen, abgeschnittenen Kinderlöckchen aufbewahren. Unendlich vieles sammelt sich, auch wenn man das Jahr hindurch Zentner von Papier verbrennt, um einen Literaten an, der nur selten den Wohnort gewechselt hat und in die Jahre gekommen ist. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Der Schatz alter Dichtung

  Man kann auch in unserer Dichtung seit zwei, drei Jahrhunderten eine ganz geradlinige und sichtlich von Gott gewollte Entwicklung finden, wenn es sein muß. Es muß aber nicht sein, und es liegt überhaupt wenig daran, wie wir uns das zurechtlegen wollen. Die Weltanschauungen sind seit dem Kriege ja auch wieder billiger geworden. Es liegt nichts daran, was für Linien wir in der Geschichte unserer Dichtung sehen oder konstruieren. Viel aber liegt daran, ob wir unseren Schatz an Ererbtem mit der dankbaren Ehrfurcht pflegen und blank halten wollen, die man den Taten der Ahnen schuldet, oder ob wir diesen alten Herren Dichtern als gönnerhafte Parvenüs auf die Schultern klopfen wollen. Die Dichtung ist keine Pilzsucht, wie die Leser des ewig Neuesten meinen, sondern auch hier ist der Atem eines Volkes lang und sein Herzschlag langsam. Wer erst die Scheu überwunden hat, der wird auch sehen, daß die Dichtung zweier Jahrhunderte nicht nur ehrwürdiger, sondern auch weit interessanter ist als die eines Jahrzehnts. Und er wird merken, daß manche, sogar viele Bücher aus den siebziger, aus den achtziger, aus den neunziger Jahren schon uralt geworden sind und nach Verwesung duften, während der alte Grimmelshausen, der alte Goethe und andere solche Riesenfiguren unter ihrem leichten Pelz von Moos und etwas Schimmel ganz und unbeschädigt und fabelhaft lebendig geblieben sind. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Keine eigene Sprache

  Ein Mangel und Erdenrest, an dem der Dichter schwerer als an allen andern leidet, ist die Sprache. Zu Zeiten kann er sie richtig hassen, anklagen und verwünschen - oder vielmehr sich selbst, daß er zur Arbeit mit diesem elenden Werkzeug geboren ist. Mit Neid denkt er an den Maler, dessen Sprache - die Farben - vom Nordpol bis nach Afrika gleich verständlich zu allen Menschen spricht, oder an den Musiker, dessen Töne ebenfalls jede Menschensprache sprechen und dem von der einstimmigen Melodie bis zum hundertstimmigen Orchester, vom Horn bis zur Klarinette, von der Geige bis zur Harfe soviel neue, einzelne, fein unterschiedene Sprachen gehorchen müssen. Um eines aber beneidet er den Musiker besonders tief und jeden Tag: daß der Musiker seine Sprache für sich allein hat, nur für das Musizieren! Der Dichter aber muß für sein Tun dieselbe Sprache benutzen, in der man Schule hält und Geschäfte macht, in der man telegraphiert und Prozesse führt. Wie ist er arm, daß er für seine Kunst kein eigenes Organ besitzt, keine eigene Wohnung, keinen eigenen Garten, kein eigenes Kammerfenster, um auf den Mond hinauszusehen - alles und alles muß er mit dem Alltag teilen! (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Zeichen-, nicht Orchestersprache

  Überall, wo ein Dichter Lob und Tadel erntet, wo er Wirkung tut oder verlacht wird, wo man ihn liebt oder ihn verwirft, überall spricht man nicht von seinen Gedanken und Träumen selbst, sondern nur von dem Hunderstel, das durch den engen Kanal der Sprache und den nicht weiteren des Leserverständnisses dringen konnte. Darum whren sich auch die Leute so furchtbar, so auf Leben und Tod, wenn ein Künstler oder eine ganze Künstlerjugend neue Ausdrücke und Sprache probiert und an ihren peinlichen Fesseln rüttelt. Für den Mitbürger ist die Sprache (jede Sprache, die er mühsam gelernt hat, nicht bloß die der Worte) ein Heiligtum. Für den Mitbürger ist alles ein Heiligtum, was gemeinsam und gemeinschaftlich ist, was er mit vielen, womöglich mit allen teilt, was ihn nie an Einsamkeit, an Geburt und Tod, an das innerste Ich erinnert. Die Mitbürger haben auch, wie der Dichter, das Ideal einer Weltsprache. Aber die Weltsprache der Bürger ist nicht wie die, die der Dichter träumt, ein Urwald von Reichtum, ein unendliches Orchester, sondern eine vereinfachte, telegraphische Zeichensprache, bei deren Gebrauch man Mühe, Worte und Papier spart und nicht am Geldverdienen gehindert wird. Ach, durch Dichtung, Musik und solche Dinge wird man immer am Geldverdienen gehindert! (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Leiter für meinen Strom

  Im Streit um die Kunst ist es wie in allem Streit um Meinungen. Man versteht einander nicht, solange man einander nicht liebt. Einander lieben kann man nur, wenn man die Welt mehr in sich selbst erlebt als im Äußeren. Man liebt nicht Objekte, sondern die Objekte sind willkommener Anlaß für unsere Seele, ihre wärmste Kraft, das Lieben, strömen und spielen zu lassen. Mir ist es nie begreiflich gewesen, daß man ein Gedicht nicht lieben könne, weil es von einem Franzosen oder Japaner stammt, daß man einen Menschen ablehnen könne, weil er Katholik, Jude oder Konservativer ist. Ich liebe Dostojewski anders als ich Goethe liebe, und Kornfeld anders als Mörike, aber es wäre mir unmöglich zu sagen, welchen ich mehr liebe. Ich liebe jeden in dem Augenblick, wo er mich angeht, wo ich ihm gehören, ihm zuhören kann - ein andermal könnte ich es nicht, wäre er kein Leiter für meinen Strom. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Zwischen den Welten

  In unsrer Zeit ist der Dichter, als reinster Typus des beseelten Menschen, zwischen der Maschinenwelt und der Welt intellektueller Betriebsamkeit gleichsam in einen luftleeren Raum gedrängt und zum Ersticken verurteilt. Denn der Dichter ist ja Vertreter und Anwalt gerade jener Kräfte und Bedürfnisse des Menschen, denen unsere Zeit fanatisch den Krieg erklärt hat. Die Zeit deswegen anzuklagen wäre töricht. Diese Zeit ist nicht besser und nicht schlechter als andere Zeiten. Sie ist ein Himmel für den, der ihre Ziele und Ideal teilen kann, und sie ist eine Hölle für den, der ihnen widerstreben muß. Für uns Dichter also ist sie eine Hölle. Der Dichter, wenn er seiner Herkunft und Berufung treu bleiben will, darf sich weder der erfolgstrunkenen Welt der Lebensbeherrschung durch Industrie und Organisation anschließem, noch der Welt rationalisierter Geistigkeit, wie sie etwa unsere Universitäten heute beherrscht. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


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