Bibliomanische FAB  / [E-H]


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Hahn, Ulla: Das verborgene Wort

  Rosenbaum saß in einem Zimmer, wie ich noch keines gesehen hatte. Ohne Schrank, ohne Schrankwand, keine Anrichte, Sitzecke, Couchgarnitur. Bis auf einen dunklen Schreibtisch und zwei geräumige Sessel an einem kleinen runden Tisch war der Raum leer. Und Bücher, Bücher vom Fußboden bis unter die Decke. Ich wußte kaum, wo ich hinschauen sollte, machte ein paar Schritte in das Zimmer und drehte mich einmal langsam um die eigene Achse. Es sah fast aus wie beim Buchhändler, doch diese Bücher hatten alle schon gelebt und lebten noch immer. Rosenbaums Bücher waren glückliche Bücher. Sie wurden gebraucht. Wurden nicht hinter Glas erstickt wie bei der Frau Bürgermeister, mußten nicht auf dreistufigem Regal neben der Schrankwand mit dem Gummibaum konkurrieren wie im Wohnzimmer von Doris Eltern, nicht strammstehen und Achtung, zugreifen! schreien wie beim Buchhändler. Diese Bücher waren Erwählte. Ein auserwähltes Volk. Große, kleine, dicke, dünne, Taschenbücher und gewichtige Lederbände standen einvernehmlich, mitunter augenzwinkernd, nebeneinander. Mochten ihre Verfasser zu Lebzeiten miteinander spinnefeind gewesen sein, dieser Leser gewöhnte sie an die Versöhnung. Manche Bücher lagen quer über den anderen, in vielen steckten Zeitungsausschnitte, die bei jedem Luftzug zum Nähertreten winkten, andere türmten sich in schiefen Stapeln auf dem Fußboden. (Hahn, Ulla: Das verborgene Wort, S. 582ff.)


Haig, Matt: (Keine) Zeit zu lesen

  In einem solchen Geschäft sah ich im Schaufenster eine Menge Bücher. Wie ich jetzt weiß, müssen die Menschen Bücher lesen. Sie müssen sich buchstäblich hinsetzen und ein Wort nach dem anderen lesen. Das kostet Zeit. Viel Zeit. Ein Mensch kann sich nicht mehrere Bände auf einmal zuführen oder in wenigen Sekunden fast unendliches Wissen einverleiben. Er kann sich nicht einfach eine Wortkapsel mit einem neu erschienenen Buch in den Mund schieben wie wir. Man stelle sich das vor! Nicht nur sterblich zu sein, sondern auch noch gezwungen, einen Teil der wertvollen begrenzten Zeit auf Erden mit Lesen zu verbringen. Kein Wunder, dass die Menschen eine primitive Spezies waren. Kaum hatten sie annähernd genug Bücher gelesen, um mit dem erworbenen Wissen irgendetwas anfangen zu können, waren sie schon tot.


Haig, Matt: Was für ein Buch ist es?

  Anscheinend möchtest du wissen, was für ein Buch du vor dir hast, bevor du zu lesen anfängst. Das ist sehr vernünftig. (...) Bücher aber musst du lesen. Und das dauert. (...) Du willst wissen, ob es eine Liebesgeschichte ist. Oder ein Krimi. Oder eine Geschichte über Aliens. Oder vielleicht eine Kriegsgeschichte, verwunderlich wäre das ja nicht. Es gibt noch andere Fragen. Zum Beispiel, ist dies eins der Bücher, die du liest, um dich intelligent zu fühlen, oder eins von denen, die du heimlich liest, damit keiner an deiner Intelligenz zweifelt? Wird es dich zum Lachen oder zum Weinen bringen? Oder nur dazu, aus dem Fenster zu starren und den Lauf der Regentropfen zu verfolgen? Ist es eine wahre Geschichte? Oder eine falsche? Ist es eine Geschichte, die aufs Gehirn zielt oder eher auf die unteren Regionen? Ist es eins der Bücher, die religiöse Anhänger mobilisieren, oder eins von denen, die von ihnen verbrannt werden? Ist es ein Buch über Mathematik oder liegt diese ihm nur - wie allem anderen im Universum - zugrunde? Und natürlich die letzte, wichtigste Frage: Kommt ein Hund darin vor? Ja, es gibt viele Fragen. Und noch mehr Bücher. Du hast mein aufrichtiges Mitgefühl. Ihr Menschen habt auf eure typisch menschliche Art viel zu viele Bücher geschrieben, als dass einer von euch sie je alle lesen könnte. Und so landet das Lesen auf dem großen Haufen der Dinge - zusammen mit Arbeit, Liebe, sexueller Leistungsfähigkeit, Fernsehgewohnheiten, Online-Profil, Sport, Kindererziehung, gesunder Ernährung, den Worten, die man nicht gesagt hat, als man sie hätte sagen sollen -, die den Menschen ein schlechtes Gewissen machen. (Matt Haig: Ich und die Menschen)


Hamsun, Knut: Verschiedene Sprache

  Aber Sprachen sind doch nicht das Schlechteste, ich wünschte nur, ich könnte mehr. Warum? Wozu? fragte er. Warum? Ja, wozu lernt man Sprachen? Doch wohl, um seinen Geist zu entwickeln, um die Literatur des Auslandes zu verfolgen, um ein gebildeter Mensch zu werden. Ich komme nicht einmal dazu, unsere eigene Literatur zu verfolgen, sagt er. Nun ja, unsere eigene! antwortet sie wie gewöhnlich. Er wird plötzlich eifrig und unangenehm, streitbar, als wäre seine Sache zu gut, um sie zu vertändeln: Sprachen, Bücher fremder Völker - was in aller Welt! Wir haben in den nordischen Sprachen eine Million Bände, die wir überspringen, um zu den 'ausländischen' zu kommen. Ob unsere nicht ebenso gut sind. Wie, wenn sie nun doch ein bißchen besser wären. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 576)


Hanika, Iris: Kugelfraktal

  "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann." (Francis Picabia) Dabei ist schon ein Buch im Grunde eine Kugel: Auf jeder Seite stehen andere Informationen, dabei stehen sie alle gleichzeitig darin. Solange das Buch geschlossen ist, liegen sie, schon dreidimensional, aber noch in einem Quader übereinander, doch wenn Sie das Buch aufschlagen, können Sie den Radius von einem Deckel zum anderen zeichnen, und war erhalten Sie? Ein Kugelfraktal. Nur im Prozeß des Lesens denken Sie, das Buch sei linear. Sie müssen aber bedenken, daß das, was Sie in dem Buch lesen, in seiner Gesamtheit in Ihren kugelförmigen Kopf hineingeht und sich in Ihrem Kopf so ausbreitet, daß es seine eigentliche Gestalt zurückgewinnt. (Iris Hanika: Treffen sich zwei, S. 119)


Hansch, Dietmar: Leben wie eine Leseratte

  Es gibt wohl keine Kulturtechnik, die von größerem und universellerem persönlichem Nutzwert sein könnte! Mal ganz abgesehen von dem Wissen, das Sie sich auf diese Weise aneignen können, bietet Lesen Ihnen die Möglichkeit, jederzeit überall ohne größeren Aufwand die Ordnung in Ihrer Psyche zu steigern und damit Ihre Stimmung quasi von innen heraus zu verbessern. Vor kurzem sah ich ein Interview mit einer jungen Schweizer Schriftstellerin. Sie berichtete, in ihrer nicht sehr schönen Kindheit oft depressiv gewesen zu sein. Was sie gerettet habe, sei das Lesen gewesen. Sie sei noch heute davon fasziniert, dass man allein dadurch, dass man stundenlang auf graues Papier starre, in andere, schönere Welten entfliehen könne. Sollten Sie – aus welchen Gründen auch immer – bisher nicht zu den Viellesern gehören, dann holen Sie das nach. Lesen ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann wie jede andere Kompetenz auch. Beginnen Sie mit einfacheren Texten zu Themen, für die Sie das größte Vorinteresse mitbringen, oder auch mit vergnüglicher Unterhaltungsliteratur. Gehen Sie an dieses Training heran wie an die Übung von Achtsamkeit. Führen Sie mit der gelassenen Güte eines liebenden Vaters Ihren kindlich herumtollenden Aufmerksamkeitsfokus immer wieder zum Text zurück. Es ist nicht wichtig, wie viele Seiten Sie schaffen, wichtig ist nur, dass Sie eine halbe Stunde über Ihrem Buch sitzen, wenn Sie sich das so vorgenommen hatten. Wenn Sie gelassen bleiben, dann wird Ihre Aufmerksamkeit irgendwann beginnen, sich immer öfter und länger in den Text einzuklinken. Leben, wie ein Vogel fliegt, sagte der Zen-Meister. Sollte Ihnen das noch schwerfallen, fangen Sie einfach kleiner an: Leben wie eine Leseratte. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Hanssler, Bernhard: Künstliche Bücherproduktion

  Da das Produktionsprogramm, das Produktionstempo und die Umschlaggeschwindigkeit der Produktion von der technischen Kapazität und vom Rentabilitätsgesichtspunkt festgelegt sind, müssen Leute zum Schreiben gebracht werden, die weder einen natürlichen Drang dazu haben noch eine natürliche Begabung. Das bedeutet aber, daß die Literatur sich nicht so vermehrt, wie Leben sich vermehrt, in der Weise einer natürlichen Fruchtbarkeit, sondern das Bücher sich vermehren wie Sturzwellen, indem aus dem immer gleichen Schoß die immer gleich flüchtigen Schöpfungen emporgeschleudert werden. (Bernhard Hanssler: Literarische Kultur und Unkultur)


Hardy, Thomas: Vorraussetzung zum Schreiben

  "Warum schreiben Sie keine Romane, Mr. Knight?" "Weil ich keinen schreiben könnte, der irgend jemanden interessieren würde." "Wieso nicht?" "Aus verschiedenen Gründen. Zum einen muß man mit der wahren eigenen Meinung klug hinter dem Berg halten, wenn man einen erfolgreichen Roman schreiben will". "Ist das wirklich erforderlich? Also, ich bin sicher, das könnten Sie mit ein bißchen Übung doch lernen", verkündete Elfride im Tone großer Autorität, wie er jemandem zustand, der von dieser Kunst aus Erfahrung sprach. "Sie würden sich bestimmt einen großen Namen machen", fügte sie hinzu. "So viele Leute machen sich heutzutage einen Namen, daß es eher eine Auszeichnung ist, im Verborgenen zu bleiben." (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hanssler, Bernhard: Sturzflut der Bücherproduktion

  ... daß die Sturzflut der Konkurrenz die eigene Produktion begräbt, sondern durchaus so, daß im je eigenen Verlagshaus die neue Produktion zur Feindin der alten wird. Es gibt kein Stehen und kein Halten mehr bei diesem Eifer der Bücherherstellung: Aus Zeitungsromanen werden Bücher, aus Büchern Zeitungsromane, eine Funksendung verwandelt sich in Literatur und Literatur wieder in Sendungen. Kohelet, der Skeptiker aus dem Alten Testament, was würde er wohl heute sagen, wenn er wieder käme und dieses Treiben mitansähe, er, der schon in jenen stillen Zeiten stöhnte: "Des Büchermachens ist kein Ende und das Lesen ist eine körperliche Anstrengung". Oder was würde Seneca sagen, der schon vor zweitausend Jahren fühlte, daß die Zeit an Hemmungslosigkeit des Literaturbetriebes leide, litterarum intemperantia laboramus! Dabei ging das alles doch sehr gemütlich zu im Vergleich zu unseren Tagen, wo das technische Denken, sein Umsatzzwang und seine Instrumente die Buchproduktion regulieren. Daß dieser Umschlaggeschwindigkeit wahre Schriftstellertragödien zugeordnet sind, kann nicht ausbleiben und darf nicht übersehen werden. Wer heute von seiner Feder zu leben wünscht, hat alle Aussicht, sich selbst zu überleben und in Vergessenheit und Armut zu sterben, wenn diese seine Feder das Tempo nicht durchhält und sich nicht den rasch wechselnden Moden und Stilformen anzupassen weiß. Wenn die Vervielfältigung der Ware Buch sich solchermaßen in einer unendlichen Progression vollzieht, so daß der literarische Bestand zuletzt nur noch die wohlkalkulierte Funktion der technischen Kapazität ist, dann spiegelt das Buchwesen eben nicht mehr den natürlichen Wuchs geistiger Kräfte, die aus inneren Geheiß sich regen und aussagen müssen. Nicht mehr das literarische Kunstwerk ergibt sich auf diesem Wege, sondern nur noch das traurige Artefakt des literarischen Kunststoffes. Die Bücher können bei diesem Verfahren nicht mehr gedeihen, weil sie einander im Wege sind. Verleger sollten manchmal die Förster fragen, wie dich man Bäume pflanzen dürfte, damit sie sich nicht gegenseitig im Wachstum behindern. (Bernhard Hanssler: Literarische Kultur und Unkultur)


Hanssler, Bernhard: Alptraum der Auswahl

  Der Leser wird aber nicht nur durch das literarische Überangebot behindert. Denn aus einem Dutzend Bücher das Kleinod zu greifen, ist für den Bücherfreund fast eine Angelegenheit des blinden Griffs. Aus den monatlichen Neuerscheinungen des deutschen Buchmarkes das wertvolle Buch erspähen zu sollen, ist ein Alptraum. Hier ist Dienst und Hilfe vonnöten. Der Leser ist schon vorweg behindert durch den allgemeinen Zustand der Welt, die ihm die klassische Voraussetzung des Lesens raubt, nämlich die ungestörte Ruhe. (Bernhard Hanssler: Literarische Kultur und Unkultur)


Hanssler, Bernhard: Angenagte Früchte

  Das also ist die Formel für unsere trübselige Lage: fatalistisch und fanatisch wird produziert, fatalistisch und fanatisch wird distributiert, was aber ausbleibt, ist, daß nun auch konsumiert wird. Der Bücherstau verlagert sich aus der Buchhandlung ins Haus, aus den Ladenhütern werden Regalhüter und unsere Privatbibliotheken bestehen schließlich nur noch aus angenagten Früchten. Denn wenn keinem sonst der Atem ausgehen sollte in diesem hektischen Wirbel im Umkreis des Buchwesens, dem Leser geht er eines Tages bestimmt aus. (Bernhard Hanssler: Literarische Kultur und Unkultur)


Hanssler, Bernhard: Geheimnis eines Berfusstandes

  Falls man nicht Bücher herstellen und verkaufen will wie Fahrkarten, ausschließlich nach den Wünschen des reisenden Publikums, muß man im Bereich der Buchproduktion und des Buchhandels Gesinnnung und Charakter haben. Es bedarf da vieler Tugenden und oft sehr weit auseinanderliegender, es bedarf des Geschäftssinnes ebenso wie der Hochgemutheit, des Kalküls ebenso wie des höchsten Verantwortungsbewußtseins für Autoren sowohl als für eine desorientierte und seelisch gestörte Menschheit. Aber das ist wahrscheinlich das Geheimnis dieses Berufsstandes: Um eines wichtigen Autors willen lohnt sich der Dienst an vielen unbedeutenden, um eines wichtigen Buches willen lohnt sich der Umweg über viel erbärmlichen Pofel, um des einen Lesers willen lohnt sich der Zeitverlust, den der nur durch Zufall in den Buchladen statt in den Trdölerladen geratene Käufer bedeutet. Das wird schon der Grund sein, warum man dem Buche leben kann: daß es die raren Goldkörner gibt im unermeßlichen Staub der Literatur; daß Gott und Geist dort anwesend sein können, wo für den ersten Blick soviel Irrtum und Wirrnis zu herrschen scheint, - im Buch als der Zauberwelt, in der Größe und Elend der Literatur nahe beieinander liegen, aber eben nicht nur Elend sondern auch Größe! (Bernhard Hanssler: Literarische Kultur und Unkultur)


Harig, Ludwig: Eier und Bücher

  Eier und Bücher sind Produkte der Drucklegung... Ein sorgfältig gelegtes einzelnes Ei und ein sorgfältig verlegtes einzelnes Buch stehen der Massenproduktion von Eiern und der Serienproduktion von Büchern entgegen. Es kommt nicht zu Remittenden. Während die Ausschußware häßlich und geschmacklos ist, außen und innen, ist das Spitzenerzeugnis schön von außen, und es schmeckt von innen heraus. Beide, Ei und Buch, sorgfältig hervorgebracht, sind schön und schmecken. Keine anderen Erzeugnisse sind der Kategorie des Geschmacks folgenschwerer unterworfen als das Ei und das Buch. Ein häßliches und geschmackloses Ei und ein häßliches und geschmackloses Buch rufen Abscheu hervor, und es kommt zu allergetischen Scheußlichkeiten, zu Pickeln im Gesicht, zu Fußschweiß und Nesselfieber. Weiß der Himmel, wie viele laufen herum, sind gelb im Gesicht und haben Ringe unter den Augen, und man denkt, sie hätten ein verdorbenes Ei verschlungen, und dabei war es ein Buch! O ihr trügerischen Idiosynkrasien, wenn man immer nur wissen könnte, wo der Widerwille herrührt! (Ludwig Harig)


Wolf Harranth: Nimm ein Buch

  Nimm ein Buch, mach es auf:
Du kommst auf was drauf.

 Laß es sein, mach es zu:
Es gibt keine Ruh.

 So ist das eben:
Die Bücher leben.


Hartwig, Ina: Vom Lesen schwärmen

  Doch ist das Schwärmen zum Markenzeichen der beinharten Profis geworden, auch und gerade wenn es um's Lesen geht. (...) Eine Schwester des Schwärmens ist die Beschwörung. (...) Was eben bedeutet, dass das Beschwärmen und Beschwören der Lesetätigkeit durch und durch kalkuliert eingesetzt wird. Kalkül: genau das ist es, was den schwärmenden Profi auszeichnet. In Wahrheit ist die Beschwörung des Lesens reiner Kitsch. Und eben deshalb, weil Kitsch zum Herzen spricht und keine unerbittlichen Forderungen an den Zufallsleser stellt, ist dieser neuerliche Kritik- Ersatz des Schwärmens so beliebt, nicht nur im Fernsehen. (...) Den echten Leser geht das alles nichts an. Der echte Leser liest ohnehin jeden Tag allein vor sich hin, und wenn er nicht zum Lesen kommt, was ja im Leben schnell mal passieren kann, dann wird er ungemütlich. Dann schlägt seine gute Stimmung um in nervösen Ennui, im schlimmsten Fall wird er depressiv. Dann ist er nicht er selbst. Der echte Leser muss lesen, und zwar möglichst immer. Er ist ein Süchtiger. Ihm ist nicht zu helfen. Er hat Glück. (Frankfurter Rundschau, 23.4.2004)


Harvey, Miles: Bibliothekare

  Was für eine nichts sagende Berufsbezeichnung hat unsere Kultur für jene ehrwürdigen Männer und Frauen, welche die Ägypter und Sumerer entweder die "Gelehrten Männer von der Magischen Bibliothek" nannten oder die "Schreiber vom Doppelten Haus des Lebens", die "Herrinnen vom Haus der Bücher" oder die "Priester des Universums". Bibliothekar - dieser Zungenbrecher, dieses anmutslos blubbernde Wort, nötigt einen geradezu, sich einen Versager mit hängenden Schultern, zwei verschiedenen Socken und vom vielen Mikrofiche-Lesen ständig zusammengekniffenen Augen vorzustellen. Wenn es nach mir ginge, würde ich das Wort völlig abschaffen und zur Bücherweisheit der Alten zurückkehren, die die Bibliothekare nicht als schwächliche Sortierer und Regalbauer sahen, sondern als heroische Wächter. In Assyrien, Babylonien und auch in der ägyptischen Kultur wurde denen, die sich an den Bücherregalen abmühten, oft ein stolzer, ja soldatischer Titel verliehen: Bewahrer der Bücher (Miles Harvey, Gestohlene Welten, S. 116).


Hauff, Wilhelm: Anekdote

  Auf eine sehr verschmitzte Art und Weise beschrieb die Verquickung von Geist und Geld Wilhelm Hauff: "Mein Roman heißt Lichtenstein", schrieb er an seinen Verleger Franckh in Stuttgart. "Wenn er ihnen konveniert - hier ist er". Franckh las das Manuskript, erkannte das Genie in dem jungen Dichter und entschloß sich ohne Zaudern zur Veröffentlichung. "Ich lasse Ihnen zunächst eine Abschlagszahlung von 1000 Gulden zugehen", teilt er Hauff mit. "Leider kann ich mein Urteil über Ihren Roman nicht in den Stil kleiden, der ihm zukommen würde. Er ist vortrefflich". "Grämen Sie sich nicht, verehrter Herr Franckh", antwortete der Dichter. "Ein Verlegerbrief, der die Überweisung von 1000 Gulden ankündigt, ist in dem schönsten Stil geschrieben, den der Autor sich nur wünschen kann." (Elmar Faber: Die Allmacht des Geldes und die Zukunft der Phantasie. Betrachtungen zur Bücherwelt, S. 107)


Hauptmann, Gerhard: Traum vom Ruhm

  Ein glühender Ehrgeiz, wie er mir ehedem durchaus ferne lag, ließ eine Menge provinzieller Illusionen, wie Pilze nach lauem Regen, in mir aufschießen. Gedichte waren mir Göttergeschenke, und ich zweifelte nicht daran, daß, da ich mich herbeiließ, sie gegen Belohnung herzugeben, diese Belohnung königlich sein würde. Auch nahm ich an, unmerklich den Boden unter den Füßen verlierend, meine dichterischen Erzeugnisse würden eine ganz ungeheure Wirkung tun und mein Name infolgedessen "von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" plötzlich mit höchstem Ruhm genannt werden. Heute ist es mir völlig unerklärlich, wie ich mich in solche Hirngespinste versteigen konnte, doch gab ich mich ihnen so völlig hin, daß ich mich, lange bevor die Zeitschrift geantwortet hatte, für einen reichen und ruhmgekrönten Dichter hielt. (Gerhard Hauptmann: Phantom, S. 56)


Haushofer, Marlen: Im Buchstabenmeer

  Meta schlüpft aus dem Lusthaus und schleicht ins Haus, die Stiege hinauf, auf nackten Sohlen. Aus der Küche dringt Mamas Stimme, die Nandis verschlafene Fragen beantwortet. Nandi hat es gut; besser, man denkt nicht daran. Schon ist sie in ihrem Zimmer, drückt die Tür hinter sich zu, und gleich darauf liegt sie auf dem Bettvorleger und liest David Copperfield. Meta vergißt, was geschehen ist, und das Buchstabenmeer schlägt rauschend über ihr zusammen. Ihr Herz schlägt jetzt im kleinen David, und ihre Hand schiebt seine schwarzen Locken aus der Stirn. Lange Zeit später ruft Mama zum Abendessen. Das Zwitterwesen David-Meta wird grausam auseinandergerissen. David erstarrt zu einem flachen Bildchen, und eine verwirrte, rotwangige Meta stolpert benommen die Stiege hinunter. Eben war sie mitten in einem Gespräch mit Mister Dick, und jetzt muß sie sich zu einem lächerlichen Eierschmarrn begeben. Das Leben ist ein schreckliches Durcheinander. Man sollte sie nicht immer so plötzlich von David trennen. Eines Tages wird sie zwischen den Buchdeckeln bleiben, und eine leere Hülle wird am Tisch sitzen. Möglicherweise wird kein Mensch es bemerken. Dieser Gedanke ist beängstigend. Erst als sie mit der großen Zehe gegen die Türschwelle stößt, kommt sie schmerzhaft zu sich. (Marlen Haushofer: Himmel, der nirgendwo endet, Frankfurt/M.: Fischer-TB, 1991)


Hawthorne, Nathaniel: Wahl des Schauplatzes

  Italien war als der Schauplatz seines Romans hauptsächlich deshalb für ihn wichtig, weil es ihm eine Art von poetischem oder märchenhaftem Hintergund bot, wo man nicht so schrecklich hartnäckig auf der Beschreibung tatsächlicher Zustände bestehen wird, wie man es für Amerika verlangen könnte. Ein Autor, der den Versuch noch nie gemacht hat, kann sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, einen Roman über ein Land zu schreiben, in dem es keinerlei Schatten gibt, keine lange Vergangenheit, nichts Geheimnisvolles, keine romantischen und finsteren Missetaten noch irgend etwas anderes als prosaischen Wohlstand im normalen hellen Tageslicht, wie das in meiner Heimat glücklicherweise der Fall ist. Ich bin sicher, daß es noch sehr lange dauern wird, bis Romanschriftsteller in den Annalen unserer handfesten Republik oder in irgendwelchen charakteristischen Begebenheiten im Dasein der einzelnen Individuen bei uns geeignete Themen finden können. Prosa und Poseie, Efeu, Flechten und Kletterpflanzen bedürfen der Ruinen um zu gedeihen. (Nathaniel Hawthorne: Der Marmorfaun, S. 9)


Hayes, Helen: Kraft und Trost

  Wir setzen unser Vertrauen auf die Dichter, die Philosophen und die Dramatiker, das zu artikulieren, was wir in Freude und Leid nur empfinden können. Sie erleuchten die Gedanken nach denen wir tasten; sie geben uns die Kraft und den Trost, den wir in uns selbst nicht finden. Wann immer ich meinen Mut schwinden fühle, eile ich zu ihnen. Sie geben mir die Klugheit zu akzeptieren, den Willen und den Schwung, etwas durchzusetzen. (Helen Hayes)


Havel, Vaclav: Das Wort

  Das Wort ist eine geheimnisvolle, vieldeutige, ambivalente, verräterische Erscheinung. Es kann ein Lichtstrahl im Reich der Finsternis sein, wie einst Belinskij 'Das Gewitter' von Ostrowskij genannt hat, doch es kann auch ein todbringender Pfeil sein. Und was das schlimmste ist: Es kann eine Weile dies und eine Weile jenes sein, es kann sogar beides gleichzeitig sein! Dasselbe Wort kann einmal große Hoffnung ausstrahlen, ein anderes Mal nur Todesstrahlen aussenden. Dasselbe Wort kann einmal wahrhaftig und ein anderes Mal lügnerisch sein, einmal faszinierend und ein anderes Mal trügerisch, einmal kann es herrliche Perspektiven eröffnen und ein anderes Mal nur Gleise verlegen, die in ganze Archipele von Konzentrationslagern führen. Dasselbe Wort kann einmal ein Baustein des Friedens sein, und ein anderes Mal kann jeder einzelne seiner Laute vom Echo der Maschinengewehre dröhnen.


Heidenreich, Elke: Bücher sind ein Glück

  Lesen heilt keinen Krebs, keinen Liebeskummer und macht keine Scheidung rückgängig. Aber Lesen gibt uns Kraft, Mut, Intelligenz, Ablenkung für einige Stunden, wenn wir in eine Geschichte eintauchen. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch mit seinem Leben besser zurechtkommt, wenn er in Büchern liest, wie es anderen Menschen geht. Insofern hat Lesen nicht nur mit Bildung zu tun, sondern auch mit Lebenshilfe. Bücher sind ein Glück. Und meine Botschaft an die Menschen ist: Klammert dieses Glück nicht aus. (Elke Heidenreich)


Heidenreich, Elke: Frauen lesen anders

  Ich behaupte, Männer wissen nicht wirklich, wie wir Frauen fühlen und denken. Das habe ich bei Ruth Klüger gelernt. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel 'Frauen lesen anders'. Frauen lesen nicht nur mehr, sie lesen anders und sie schreiben deswegen auch anders, weil sie einen anderen Blick auf die Welt haben. Frauen sind mehr an Fiktion interessiert, Männer an Biografien, Sachbüchern. Die lesen schon auch, die sind nicht dümmer. Die sind nur völlig anders gestrickt. Männer lesen Paul Bowles, Frauen lesen Paul Bowles und Jane Bowles. Das macht es manchmal so schwierig. Und das hat es mir mit den Programmdirektoren schwierig gemacht. Die wissen gar nicht, was Literatur im Verhältnis der Geschlechter zueinander bedeutet und im Verständnis der Welt, in der wir leben. Für die war 'Lesen!' ein Ehrgeizprojekt, für mich war das ein Seelenprojekt.


Heidenreich, Elke: Ich bin ein Einfänger

  Es muss bei komplizierten Büchern zwar die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Text geben, man muss sich dann nur klar sein, dass man damit die erreicht, die es ohnehin schon wissen, und nicht die, die man noch einfangen will. Ich bin ein Einfänger. Ich möchte Leute ans Lesen bringen, die sonst verloren sind ans grottenschlechte Fernsehen und möchte ihnen sagen: Hier geht's lang, das macht die Welt besser, und es macht euch glücklicher. (1997er Interview mit Cicero)


Hein, Christoph: Nachtwächter & Leser

  "Was lesen Sie?" erkundigte sich Willenbrock. "Meine Tochter versorgt mich mit Büchern. Sie studiert und will unbedingt ihren alten Vater noch bilden. Sie sucht für mich die Bücher aus, und wenn ich eins gelesen habe, muß ich ihre Fragen beantworten. Wie in einer Prüfung." "Und was müssen Sie lesen?" "Alles. Über die Entstehung der Erde und über Geschichte. Und wenn ich fleißig war und alle Fragen beantwortet habe, darf ich zur Belohnung einen Roman lesen. Aber selbst nach den Romanen werde ich abgefragt." "Ihre Tochter will einen Professor aus Ihnen machen." "Das habe ich ihr auch schon gesagt." "Dann sind Sie bei mir richtig. Hier können Sie lesen, was Ihre Tochter verlangt, und von mir bekommen Sie es außerdem bezahlt. (Christoph Hein: Willenbrock, S. 62f.)


Hein, Christoph: In der Bibliothek

  Nach dem Mittagsschlaf war ich in die Bibliothek gegangen. Seit ein paar Jahren sitze ich an jedem Nachmittag zwei Stunden in meiner Bibliothek und blättere in den agesammelten Büchern. Ich lese sie nicht mehr, dafür fehlt die Geduld. Ich bin es überdrüssig, erfundenen Figuren nachzugehen und den Gesprächen des Papiers zuzuhören, diesen angestrengten, künstlichen Gebärden vorgeblichen Lebens. Ich gehe in die Bibliothek, um allein zu sein. Um dem ziellosen Fluß meiner Gedanken zu folgen, um Zigaretten zu rauchen und den menschlichen Stimmen zu entgehen. Dem Redeschwall meiner bigotten Frau und dem gezierten Gefasel meiner Tochter, die eine ebenso große Heuchlerin zu werden verspricht; dem geduckten Stimmchen von Christine und den bittenden und unverschämten Forderungen der Patienten. Nur hier, in der Einsamkeit meiner Bibliothek, bleibe ich von diesen Belästigungen verschont und kann meinen planlos umherschweifenden Gedanken lauschen. Ich habe mir diese Bibliotheksstunden vor vier Jahren angewöhnt und werde sie bis zu meinem Lebensende beibehalten. (Christoph Hein: Horns Ende, S. 9)


Hein, Christoph: Die Nestwärme der Vergangenheit

  Literatur will Welt auf den poetischen Begriff bringen, möglichst viel Welt, um die poetische Mitteilung sich entsprechend zu machen, sich selbst also und seiner Welt. Da bedarf es der Entdeckung, der Erfindung, des Neuen also. Das Überlieferte würde uns Beifall garantieren, und die auf den Erfolg Angewiesenen, die Unterhaltung, die Medien, die Professionellen schwören daher auf eben diese überkommenen Ästhetiken. Wer den Erfolg benötigt, wird die Tradition zu schätzen wissen: er wird keine anderen Tugenden dulden, schon gar keine umstürzlerischen, unerprobten. Er wird die Tradition schätzen, schätzen nach ihren Möglichkeiten zur Vermarktung. Balzac wurde so zum Strickmuster für den harten, publikumssicheren Krimi, Goethe findet sich wiedergeboren in der klassizistischen Pose des Kleinbürgersalons, Ibsens Dramaturgie beherrscht seit einem Jahrhundert die Theater und wird weltweit zur Herstellung von Fernsehspielen und -serien genutzt. Ästhetik, so verstanden, wird zum Algorithmus der Beliebigkeit, die so verfertigten Texte stehen mit dem Rücken an der Wand, gesichert aus der Tradition, vermeintlich genau und der Wirklichkeit auf der Spur, weil erfolgreich gewordene Rezepte der Vorväter kolportierend. Der Verweis auf diese Ahnen scheint Vertrautheit, Geborgenheit zu wecken, Nähe von Inhalt, Gehalt und Form zu den großen Entdeckungen unserer Vorzeit. Damit auch einem Publikum entgegenkommend, vielmehr hinterherlaufend, das, durch das fehlende gültige Bild seiner Welt verunsichert, von dessen Vorhandensein es überzeugt ist durch Bildung, aber auch durch Verbildung. Durch eine Überfülle ihm aufgedrängter, widersprüchlicher und sich widersprechender Bilder, radikal in seinem Weltbild und seiner Ästhetik, in seinen Ansichten und Wertungen verunsichert, will es aus den Verwirrungen seiner Zeit sich flüchten in das geordnete, ordnende Abbild einer Welt, die nicht seine ist, aber vertraut und anheimelnd, der alte Mutterschoß, die Nestwärme der Vergangenheit. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 13)


Hein, Christoph: Ein Seziermesser für Kunst

  Heiner Müller sprach davon, daß Kunst sich durch Neuheit legitimiere und anderenfalls, also wenn sie mit Kategorien gegebener Ästhetiken beschreibbar sei, parasitär ist. Dies ist eine überaus scharfe Definition von Kunst, ein Seziermesser, das die deutsche Literatur, ja selbst die Weltliteratur zu einer übersichtlichen Handbibliothek verkürzt. Literaturgeschichte wird dann zu einer Geschichte permanenter Revolutionen der Formen, der Ästhetik, eine höchst beunruhigende Folge von Widersprüchen, Fantasie und Neuerungen. Sie ist es ohnehin, aber durch einen Wust von Makulatur, den erst die Jahrhunderte mühselig lichten, ist uns der klare Blick darauf verstellt. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 13)


Hein, Christoph: Januskopf der Literatur

  Literatur, so lehrt die Geschichte, ist nicht mächtig. Gegen Herrschaft und Unterdrückung ist sie machtlos und kann - wenn sich diese gegen sie selbst wendet - nur in allerdings vielfältigen Formen der Illegalität überleben. Sie gehört nicht zu den waldursprünglichen, primären Bedürfnissen, die auch in den zivilisierten Gesellschaften nichts von ihrer beherrschenden Stellung verloren haben. (...) Literatur hat das Fortschreiten der Menschheit nicht bewirkt. Wo sie in ihren Beitrag dazu leistete, hat sie auch ihren Anteil am menschenfeindlichen Fortschritt und der Barbarei. Wenn nach den Kriegen große und bewegende Bücher gegen diese Art des Genozids erschienen, so soll nicht vergessen sein, daß zuvor eine Literatur geschrieben wurde, welches diesem Massenmord Vorschub leistete und ihn begrüßte. Auch die Literatur hat ihren Januskopf. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 46f.)


Hein, Christoph: Ertränkungen von Büchern

  Unser Jahrhundert setzt weniger Hoffnung auf Literatur, wenn es überhaupt noch darauf setzt. Die Bücherverbrennungen sind seltener geworden, und ich fürchte, der Grund dafür liegt nicht in der gestiegenen Achtung vor dem geschriebenen Wort, sondern allein in der erkannten Harmlosigkeit, für die man nicht einmal das Feuerholz opfern will. Zudem kam man auf probatere Mittel: wer Bücherverbrennungen scheut, hat die Möglichkeit, die Manuskripte erst gar nicht drucken zu lassen oder die fertigen Bücher zu ertränken, zu ertränken in einem Büchermeer, das alles verschlingt und allein einige schillernde Blasen und etwas schmutzigen Schaum an die Oberfläche läßt. Dieses Ertränken von Büchern ist ihre nachhaltigste Vernichtung, da alle anderen Arten Aufsehen erregen und dadurch gelegentlich unerwünschte paradoxe Folgen mit sich bringen. Und sie unterscheidet sich von Bücherverbrennungen weniger, als die uns glauben machen wollen, die jene mittelalterlich wirkenden Scheiterhaufen verurteilen und die moderneren und vollständigeren Autodafes praktizieren. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 45)


Hein, Christoph: Wirkungen von Literatur

  Die Wirkungen, die Literatur hervorruft, sind fast immer überraschend und häufig unvorhersehbar. Von den Wirkungen läßt sich nur bedingt auf das Buch schließen, aber unbedingt auf den Leser. Schon Immanuael Kant wußte von jenen "wohlbeleibten Personen, deren geistreichster Autor ihr Koch ist und deren Werke von feinem Geschmack sich in ihrem Keller befinden", jene, die das Bücherlesen und -vorlesen lieben, "weil es sich sehr wohl dabei einschlafen läßt", und jene, deren emsigste und einzige Lektüre ihrem Kontobuch gilt. (...) Die Literatur erregt die Wirkungen, doch diese bezeugen vor allem die Verfassung des Lesers, des Gemeinwesens. (Christoph Hein: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden; 1987-1990, S. 105)


Hein, Christoph: Bücher verraten ihren Autor

  Bücher verraten ihren Autor, Literatur offenbart weit mehr als ihren Gegenstand ihren Verfasser. Literaten sind Exhibitionisten: Es ist nicht möglich, zu schreiben und sich bedeckt zu halten. Hier liegt eine der Wirkungen von Literatur begründet: Wir fühlen uns hingezogen, gefühls- oder geistesverwandt mit dem oder jenem Autor, das veröffentlichte Werk macht uns selbst einen längst verstorbenen Autor zum nahen Vertrauten. Bücher haben ihre Schicksale, und diese beruhen allein auf ihren Wirkungen. Die Schicksale der Bücher erzählen von den Lesern, sprechen von ihrem Mut und ihrer Feigheit, ihrem Rückgrat oder Opportunismus, ihrem Kunstverständnis, ihrer Kultur und Bildung. Unabhängig vom literarischen, gesellschaftlichen und politischen Wert eines Buches geben uns seine Wirkungen Auskunft über seinen Leser. Die im Vergleich mit allen anderen Medien so unaufdringlich wirkenden Bücher entblößen ihren Leser. Ein Buch kann nach unseren Erfahrungen erst einige Jahrzehnte nach seinem Erscheinen klar und sachlich beurteilt werden. Aber bereits mit seinem Erscheinen, mit den ersten Wirkungen, die das Buch auslöst, beurteilt es den Leser, offenbart ihn. Um so erstaunlicher ist daher der leichtfertige, arglose Umgang mit einem so argen Ding wie dem Buch, das mitleidlos und durch die von ihm bewirkte Selbstentblößung überzeugend und unwiderlegbar seinen Leser denunziert. Autoren können mitleidig, arglos, freundlich und nachsichtig sein, Bücher sind es nie. Sie verraten ihren Urheber, und sie verraten - mittels ihrer Wirkungen - den Leser. (Christoph Hein: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden; 1987-1990, S 105f.)


Hein, Christoph: Lehrbücher im Antiquariat

  Die beiden Hochschulen der Stadt, die Technische sowie die Pädagogische, und die vier großen Betriebe bestimmten, was in den Buchregalen stand. Es waren vor allem Lehr- und Fachbücher des Maschinenbaus, der Konstruktionslehre, der Automatisierungstechnik, der Betriebswirtschaftslehre und zu den Grundlagenfächern der pädagogischen Wissenschaften und Didaktik. Zum Semesterbeginn stürmten die Studenten das Antiquariat, um für wenig Geld die erforderlichen Lehrbücher zu kaufen, um sie am Ende des Semesters und nach den Prüfungen zurückzubringen und ein paar Mark dafür einzutauschen. Die Studenten brachten nur wenig Geld ein, zumal sie gerne feilschten und für irgendwelche Mängel bei den gebrauchten Büchern einen Nachlass forderten, aber es war ein sicheres und kontinuierliches Geschäft, und einige der Lehrbücher hatten bereits mehrfach die Semesterferien in Kutschers Regalen verbracht, um bei Semesterbeginn dem Bleistift oder Kugelschreiber eines weiteren Studenten ausgeliefert zu werden. (Christoph Hein: Glückskind mit Vater)


Hein, Jakob: Die Flut des Geschriebenen

  In den Verlagen lesen sie keine Manuskripte mehr, insbesondere keine grandiosen Werke. Dort stehen riesige Mülltonnen eigens für grandiose Werke. Aber selbst wenn es kein Schrott ist und selbst wenn es jemand drucken will, dann findet man niemanden, der es liest. Denn jeden Tag kommen Hunderte neuer Bücher heraus, und jedes würde gern gelesen werden. Aber es sind einfach nicht mehr genug Leute dazu da. Denn immer gibt es irgendjemanden, der über nackte Frauen geschrieben hat, und das wollen mehr Leute lesen. Sogar die, die über nackte Frauen schreiben, sind nicht glücklich, weil sie finden, daß alle Anerkennung, die sie erfahren, nicht genügt. Um Himmels Willen, ich will kein Schriftsteller sein! (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, S. 44)


Helminger, Guy: Sprachfluß und Duktus

  Für mich ist das Lautliche ein fundamentaler Aspekt von Sprache und damit von Literatur. Also gehören Lesungen elementar dazu. Warum sollte ich als Autor auf dieses lautliche Element verzichten? Das wäre absurd. Die Verschriftlichung ist schlussendlich nur ein Medium, um mehr Leute zu erreichen. Aber für mich behält Literatur ewig diesen lautlichen Aspekt. Darum sage ich: Egal welches Buch man anfängt zu lesen – die ersten zehn Seiten sollte man laut lesen. Man wird sich wundern, was man an Sprachfluss, an Duktus findet, anders als wenn man den Text stumm liest.


Herbst, Alban Nikolai: Leseerlebnisse in Bleiwüsten

  Dies alles las ich, wie schon den Freud und das heute völlig zerfaserte Schloß, in den engbedruckten Ausgaben der Fischer-Taschenbücher, deren Seiten kaum einen Platz für den gegenhaltenden Daumen ließen – ein Ausdruck noch der nachkriegsbedingten Papierknappheit. Auch das hat mich geprägt. Da ich entscheidende Leseerlebnisse in Bleiwüsten gehabt habe, bin ich bis heute unempfindlich gegen kleine Drucktypen, ja finde einige Setzer-Gebote lächerlich, die auf Weite und Lockerheit achten, und so habe ich immer gewollt, daß auch meine eigenen Bücher möglichst eng gedruckt wurden, so weit es die Käufergewohnheit nur irgend erlaubte. Die Unart Suhrkamps und später Schöfflings, aus 130-Seiten-Typoskripten 400seitige Bücher zu machen, ist mit einem Wort: unlauter. (Alban Nikolai Herbst)


Hermans, Willem Frederik: Henry Cavendish

  ... erinnerte er sich, vor langer Zeit etwas über Henry Cavendish gelesen zu haben. (...) Cavendish, der war kein normaler Mensch wie ich, der war, was die Leute ein Genie nennen. Der schlief bei Tag, arbeitete bei Nacht, kletterte vor Angst auf einen Baum, wenn sich eine Frau auf seinem Landgut blicken ließ, und stellte sich selbst eine Empfangsbestätigung aus, wenn er ein Buch aus seiner Bibliothek nahm, zu der im Übrigen niemand sonst Zutritt hatte. Sein Todestag ist nicht genau bekannt; eines Morgens wurde er tot an seinem Schreibtisch gefunden. In seinen Büchern fand man hier und dort ein verschimmeltes Kotelett, das ihm als Lesezeichen gedient hatte. (Willem Frederik Hermans: Unter Professoren)


Hermlin, Stephan: Einfach lesen (lassen)

  Man sollte jungen Menschen schöne Dinge vorlesen oder sie diese Dinge lesen lassen, ohne daß sie sich gleich dazu äußern müßten. Man muß nicht alles kommentieren. Erst aus diesem unbeeinflußten, spontanen Aufnehmen erwächst nach einiger Zeit das eigene Überlegen, die eigene Meinung, die von opportunistischen Erwägungen frei sein muß, der Wunsch, sich zu äußern und andere Meinungen zu hören. Damit erhebt sich freilich die bekannte Frage nach der "Erziehung der Erzieher". Man sollte im allgemeinen den Konsum von Sekundärliteratur einschränken zugunsten der Literatur selbst. Viele kennen weniger die Hersteller der Literatur als das, was sie nach dem Wunsch mancher Leute von ihnen sollen. Auch das hängt mit einer Tradition zusammen, freilich einer ziemlich tristen. (Stephan Hermlin im Gespräch mit Erika Pick, 1971)


Franz Hessel: Lesen, ohne zu verstehen

  Wie schön war die Zeit, als man noch las, ohne zu verstehen! Da hat man zum Beispiel zu Weihnachten den "Tell" geschenkt bekommen, Schillers "Wilhelm Tell". Man war erst acht Jahre alt. In der Schule wird dieser "Tell" erst in zwei Jahren gelesen werden. Neugierig hat man sich den "Tell" gewünscht, des Namens wegen. Am Heiligen Abend hat das Kind das kleine blaue Buch eigentlich nur gestreichelt und bisweilen, Marzipan kostend, hineingeschaut. Nun aber ist Feiertagsmorgen. Das Kind ist ganz allein in der guten Stube, in welcher der Weihnachtsbaum steht. Es streift an der Seite des Tisches, wo seine Geschenke liegen, die für die Nacht übergeschlagene Decke zurück, nimmt das Buch heraus, setzt sich auf den Schaukelstuhl. Aber das ist noch nicht der richtige Leseplatz. Es wechselt hinüber zum Sessel, vor dem die Fußbank ist, Es kniet auf die Fußbank, legt das Buch auf das blaue Eiderdaunenkissen, das sich in den Sessel schmiegt, schlägt auf, liest. Erst kommen die Verse vom Fischerknaben, vom Hirten und vom Alpenjäger. Die liest es noch nicht so genau. Die schaukeln schnell von Zeile zu Zeile und gehen sanft ein. Aber dann kommt Ruode, der Fischer, aus der Hütte und beginnt: "Mach hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein" Naue! Wie geheimnisvoll! "Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn." Das sind Sturmgeister. Sie brausen daher. Und was der Fischer angekündigt, bestätigt der Hirt: "'s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde." Was tut da die Erde? Sie scharrt Wächter?

  Scharrt, weil sie sich fürchtet vor dem Sturm, vor all den bösen Wesen, dem Talvogt, dem Firn, dem Mythenstein mit seiner kriegerischen Haube. Wachtposten empor. Wächter scharrt die Erde! Später, wenn man dann den "Tell" in der Schule "hat", kommt heraus: Die Naue ist ein Boot, der Mythenstein ist ein Berg. Und nicht die Erde scharrt Wächter, sondern der Hund, der Wächter heißt, scharrt die Erde. Ist auch ganz schön, aber eigentlich war es noch schöner, als man noch nicht verstand ... als sie selbst, die Göttin, die Erde, scharrte - mitten im Weihnachtszimmer, durch dessen Tannen- und Marzipanduft ferner Sturm brauste, als noch die Zeit war, da man Mythen schuf rings um das schmal behütete Kinderreich, die Zeit, da in dem schönen Lied von der "Brigg dort auf den Wellen" zuletzt das verlorene Boot des Retters von einem Dämon ans Land getrieben wird. Kieloben heißt der Dämon! "Kieloben treibt das Boot zu Lande, und sicher fährt die Brigg vorbei." Ja, da hockt man, von Geistern umgeben. Sie waren unheimlich, aber anhaben konnten sie einem doch nichts. Ein Ästhet war man, ein reiner Genießer, hatte eine angenehme Art mit Tod und Teufel zu verkehren ... Wie schön war die Zeit, als man noch las, ohne zu verstehen!


Hettche, Thomas: Meine vergehende Welt

  "Dieser blaue Leinenband aber hat noch das richtige Gewicht, er öffnet sich wie von selbst, und die Finger gleiten widerstandslos über das feine Papier, gerade dünn genug, damit man, gegen das Licht, den Umriss des umseitigen Textes durchscheinen sieht. So muss es sein, das gibt dem Blick Halt. Meine vergehende Welt." (Thomas Hettche)


Wilhelm Hey: Kind und Buch

 "Komm her einmal, du liebes Buch;
Sie sagen immer, du bist so klug.
Mein Vater und Mutter, die wollen gerne,
Daß ich was Gutes von dir lerne;
Drum will ich dich halten an mein Ohr;
Nun sag mir all deine Sachen vor.

 Was ist denn das für ein Eigensinn,
Und siehst du nicht, daß ich eilig bin?
Möchte gern spielen und springen herum,
Und du bleibst immer so stumm und dumm?
Geh, garstiges Buch, du äargerst mich,
Dort in die Ecke werf ich dich."


Heym, Georg: Die Bücher

  Schief und krumm, unter dem stillen Leben
In Reihen wachsend in der Schweigsamkeit,
Stehen sie in ihrer Schränke toter Zeit,
Die greisenhaft sich aneinanderlehnen.

  Worte, einst schön, und Weisheit, einmal mächtig,
Wie leere Spreu geworfelt hoch in Haufen,
Alles ist wirr, und einsam, und zerlaufen.
Denn das dunkele Leben ist übermächtig.

  Viele saßen hin in den leeren Stuben,
Verborgene Winter, Jahre überwachend,
Wie Tiere bellen in dumpfer Nächte Gruben.

  Und lange sind sie fort. Die Wände haben
Noch einen Hauch, und Seufzer manchmal abends
Die hinten schwer in den toten Winkeln schaben.


Heym, Stefan: Wirkungen

  Doch manchmal denke ich mir, vielleicht ist es ganz gut zu sein berühmt; vielleicht regt es die Leute an zu lesen war ich hab geschrieben, und sie werden sich zu Herzen nehmen was ich habe geredet, und es wird sie machen ein bissel besser und vielleicht sogar auch gescheiter, selbst wenn mein Weib mir sagt, ich soll mir nicht einbilden einen Haufen Schwachheiten. (Stefan Heym: Immer sind die Weiber weg, S. 62)


Highet, Gilbert: Mit eigener Stimme

  Das dort auf dem Bord sind nicht einfach Bücher, leblose Bündel Papier, es sind durchaus sehr lebendige Gedanken. Jeder hat eine eigene Stimme... und gerade so, wie man durch einen Knopfdruck auf die Anlage den Raum mit Musik erfüllen kann, so geschieht es, wenn man einen der Bände herunternimmt und öffnet. Man kann die Stimme einer Person aus einem Bereich weit jenseits von Zeit und Raum herrufen, sie zu uns sprechen hören, von Geist zu Geist, von Herz zu Herz.


Hilbig, Wolfgang: Dichter, wie peinlich!

  Es fiel ihm ein, wie peinlich es ihm stets gewesen war, sich als Schriftsteller zu bezeichnen ... und noch peinlicher war es mit dem Begriff Dichter. Regelmäßig erntete man Blicke, die unterstellten, man habe mit seiner Antwort auf eine beiläufige Frage unnötiges Aufsehen erregen wollen. Und stets geriet der, dem man diese Antwort ins Gesicht gehaucht hatte, unter einen merklichen Anforderungsdruck: als müsse er sich über den Umstand, einen "Schriftsteller" vor sich zu haben, in druckreifer Form äußern, also einen Kommentar hervorzaubern, der sich zwischen kenntnisreicher Essayistik und bewundernder Belesenheit bewegte. Das ging übrigens noch, das konnte man sich in stummer Ergebenheit anhören, das Häßlichste aber war die jederzeit zu befürchtende Frage: Über welches Thema schreiben Sie denn? (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, S. 54)


Hilbig, Wolfgang: Beruf Schriftsteller

  Der Beruf des Schriftstellers war ein dauernd hinterfragter Beruf, und C. wußte nicht, ob das ein gutes Licht auf ihn warf. Und er hatte darüber nachgedacht, ob es vielleicht der deutscheste aller Berufe war. Jedenfalls schien er ebenso stutzig zu machen wie die Offenbarung der deutschen Staatsbürgerschaft in einem Kreis von Ausländern. In einer Gruppe von Asiaten hingegen erschien es völlig gleichgültig, wer da Vietnames, Koreander oder Chinese war. Benannte man sich als Deutscher, glaubte man sofort einer Nuance überschüssigen Respekts zu begegnen; es war jenes Zuviel, das nötig war, ein süffisantes Grinsen zu verdecken. Und der Beruf des Schriftstellers rief ein ganz ähnliches Augenaufreißen hervor; es war, als habe man gesagt: Ich bin Obersturmbannführer! - Wenn man seinen Beruf als Schriftsteller bekanntgab, dann stellte man - immer noch! dachte C. - gleichzeitig eine Art Rangbezeichnung heraus. (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, S. 54)


Hilbig, Wolfgang: Das Ende verkleistern

  Die Literatur, die sich weigerte, der Zerstreuung zu dienen, wurde auf dem Markt mit Nichtbeachtung gestraft ... schließlich setzte man auf diesem Markt alle Hebel in Bewegung, das Publikum zu zerstreuen; die beste Zerstreuung verkaufte sich am besten. Fast jede Woche konnte er in den Feuilletons, die er zu seiner Zerstreung las, etwas über das Ende der Literatur erfahren. Er hatte es bisher nicht ernstgenommen, wenn man sich mitten im Rummel des Literaturbetriebs aufhielt, spürte man nicht viel von diesem Ende. Bis er auf die Idee kam, daß der Literaturbetrieb gerade deshalb zu hektisch war, weil das Ende zugekleistert werden mußte. (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, S. 70)


Hilbig, Wolfgang: Eine Form von Besessenheit

  Er setzte sich in den Zug und blätterte, ohne Konzentration, ohne sich überhaupt darauf einlassen zu können, in den Walter-Benjamin-Bänden; dann heftete er sie mit den Gummis wieder zusammen, und verstaute sie in der Reisetasche; immer wieder vergaß er die unterwegs gekauften Bücher, Wochen später staunte er, wenn er sie zufällig in der Reisetasche wiederfand. Da waren sie, diese Bücher, für die er sich drüben im Osten fast ein Bein ausgerissen hätte, und er las sie nicht. Da kam er nun aus diesem Bücherkommunismus, aus dieser DDR, die sich nie genug mit dem Lesehunger ihrer Leute hatte brüsten können, für ihn aber hatte es dort nur Frustration und Erniedrigung gegeben wegen der Bücher, die ihm dauernd fehlten. Als er in den Westen kam, hatte er vom ersten Tag an Bücher gekauft wie ein Wahnsinniger, niemals hätte er sie all lesen können, so viele Jahre blieben ihm gar nicht, um die Bücher vernünftig zu lesen, die er um sich herum aufhäufte, niemand verstand die Triebhaftigkeit, die Besessenheit, mit der er Bücher kaufte, Bücher sich von den Verlagen besorgte, Bücher stahl und sich auf jede andere nur denkbare Weise beschaffte, niemand begriff das, obwohl kein Mensch das wirkliche Ausmaß seiner Gier kannte; auch Hedda nicht, auch vor ihr verheimlichte und versteckte er einen großen Teil der Bücher, die er herbeischleppte ... er lagerte sie im Bahnhofsschließfach und holte sie erst nachts mit einem Taxi ab, wenn Hedda schon schlief. (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, S. 179f.)


Hilbig, Wolfgang: Aversion gegen Bücher

  In letzter Zeit entwickelt er Aversionen gegen zu viele Bücher, manchmal empfand er sogar etwas wie Ekel vor ihnen. Früher war es ein Wunschtraum von ihm gewesen, in einer Welt zu leben, in der er frei über alle Bücher verfügen konnte ... von diesem Traum hatte er sich offenbar befreit. (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, S. 187)


Hildebrandt, Walter: Gedächtnisruinen

  Werden unsere Leseaugen durch diese Basislektüre geschult oder frustriert? Gibt es so etwas wie eine Lesepotenz, die auch ausgeschöpft werden kann, überfordert, so daß keine Leselust mehr bleibt, auf den anderen drei Ebenen intensiver lesetätig zu werden? Oder ist's umgekehrt, daß der Lesehunger nie abzusättigen ist? Ich möchte das Problem anders formulieren. Die Verarbeitung der ungeheuren Quantitäten derartigen Lesematerials macht vielleicht nicht leseunlustig, aber sie ruiniert gründlich den Lesestil. Der Habitus des Lesenden, wie ich ihn chakterisiert habe, verkehrt sich in sein Gegenteil: was hier täglich praktiziert wird und auch gar nicht anders um einer Überlebungsstrategie willen gehandhabt werden kann, ist ein Oberflächenlesen, das Gedächtnisruinen hinterläßt. Das schlichte Lesenkönnen, das in anderen Weltgegenden über einige Stationen hinweg Revolutionen auslöst, führt bei uns auf dieser Stufe zur Zerstörung der Lesekultur. Am Ende ist man nur noch in der Welt der Sprechblasen zu Hause. Es fällt schwer, nicht von alphabetisierten Neandertalern zu sprechen. (Walter Hildebrandt: Lesekunst)


Hildebrandt, Walter: Leseverhunzungen

  Meine These lautet: die Ebene fachlichen Lesegutes ist eingeklemmt zwischen dem Basisleben mit seinen Überlächenfertigkeiten und dem Mangel an ausführlicher Anstrengung, was die dritte Ebene betrifft: der Trainingseffekt in der griechischen und lateinischen Sprache, wie wir ihn von den humanistischen Gymnasien her kennen, ist ebenso Geschichte geworden wie die Dauerleseeinlassung auf die Lektüre der Klassiker der Weltliteratur und insonderheit derjenigen deutscher Zunge. Goethes "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller, Stifters "Nachsommer": Wer sich da hindurcharbeitet, ist gut gerüstet, die schweren Brocken der Fachliteratur zu verdauen. Doch nun haben wir das Leseelend der heutigen Studentengeneration vor uns. Da hilft nur Selektion und anspruchsvolle Persönlichkeitsbildung, um wieder Grund unter die Füße zu bekommen. Man könnte beinahe zum Maschinenstürmer werden, denn die Kopiergeräte sind neben ihrem Segen zu einem noch größeren Fluche geworden. Ganze Bücher interessieren kaum noch. Die wenigen Seiten will man herauskopieren, die im engsten, borniertesten Sinne "relevant" sind. Das Vergnügen, sich im Zusammenhängen zu tummeln oder einem ganzen, systematisch aufgebauten Wurf nachzuspionieren, die schwierigen Gedankengänge nachzuzeichnen, findet immer weniger Liebhaber. Allerdings sind da einseitige Schuldzuweisungen völlig fehl am Platze. Die Leseverhunzungen auf der Schule paart sich mit der schrecklichen Ausbreitung der "mutiple choice test" an der Universitäten und anderen Ausbildungsstätten (Walter Hildebrandt: Lesekunst)


Hoffmann, E.T.A.: Vorlesen

  "Überhaupt", unterbrach Cyprian den Freund, "überhaupt ist es mit dem Vorlesen ein eignes Ding. Ich meine rücksichtlich der Werke, die dazu taugen. Es scheint, als ob außer dem lebendigsten Leben durchaus nur ein geringer Umfang des Werks dazu erfordert werde." "Dies kommt daher", nahm Theodor das Wort, "weil der Vorleser durchaus nicht förmlich deklamieren darf, dies ist nach bekannter Erfahrung unausstehlich, sondern die wechselnden Empfindungen, wie sie aus den verschiedenen Momenten der Handlung hervorgehen, nur mäßig andeutend, um ruhigen Ton bleiben muß, dieser Ton aber wieder auf die Länge eine unwiderstehliche narkotische Kraft übt." (E.T.A Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 128)


Hofmann, Gert: Wahrnehmung des Lebens

  Jetzt muß vom Tod geredet werden, erst von seinem, dann von deinem, dann von meinem. In manchen Büchern - notwendige Absonderungen einiger Existenzen - geht es um die Verminderung von Leben, dann um seine Verschwinden, um den Tod. Doch seltsam dieses Eintauchen ins Nichts - erst bis zur Brust, dann bis zum Hals, dann bis über die Augen - erzeugt eine solche Dynamik, sein Negativum wird so lebendig, daß in diesen Büchern die vernachlässigte Wahrnehmung des Lebens wiederhergestellt wird, falls du mich verstehst, sagte der Großvater. (Gert Hofmann: Der Kinoerzähler, S. 125f.)


Hofmann, Gert: Bequem

  Lichtenberg legte sein Buch auf seinen mittleren Tisch. Er schob es so lange hin und her, bis es bequem lag. (Gert Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 190)


Hofmann, Gert: Professoren

  Sie rochen nach Zwiebeln - fürs Gehirn - und nach alten Büchern. Endlich werden wir seine junge Geliebte aus der Nähe sehen, dachten sie. Sie waren aus ihren verschiedenen Gelehrtenstuben gekommen und hatten dunkle Fräcke an, die feierlichsten, die sie hatten. Unterm Arm trugen sie Bücher, aus denen sie in der Universität eben vorgetragen hatten. Die waren ganz abgegriffen und zerfielen sicher bald. Aber das machte nichts, weil sie, als Professoren, sowieso alles auswendig wußten. Dann drangen sie durch die Tür. (Gert Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 193)


Hofmann, Gert: Gedanken zeugen

  Alle lachten über die witzige Umständlichkeit, mit der der kleine Mann sich manchmal ausdrückte, auf dem Papier wie im Leben. Immer versuchte er, mehr zu sagen, als in seinen Sätzen Platz hatte. Wenn er dann hörte, was er alles gesagt hatte, stand - "sprang" - er auf, lief zu seinem Arbeitstisch und schrieb es rasch auf. "Das", schrieb er, "geht immer so: Einer zeugt einen Gedanken, ein anderer hebt ihn aus der Taufe, ein dritter zeugt Kinder mit ihm, der vierte besucht ihn am Sterbebett, und der fünfte beerdigt ihn!" (Gert Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 197)


Hofmann, Gert: Ist es das?

  Die Stechardin stand an der Tür und sah zu ihm herein. Sie holte sich ein Blatt Papier und schnitt es in Streifen. Wenn er in seinem Buch nun umblätterte, sagte sie: Paß auf, was jetzt kommt! und schob einen zwischen die Seiten. Nun wußte er, wo er noch forschen wollte. Später fragte sie: Suchst du wieder was?, und Lichtenberg sagte: Ja, ein Buch! Dann beschrieb er es ihr. Sie zeigte auf eins, zupfte ihn am Ärmel und fragte: Ist es das?, und Lichtenberg rief entweder: Nicht jetzt, ich bin woanders! oder: Nein, das les ich nicht! Das ist mir zu klein! Zu klein gedruckt, fragte sie, und Lichtenberg sagte: Nein, zu klein gedacht! Ach so, sagte sie. (Gert Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 191)


Hofmiller, Josef: Wieder lesen lernen

  Welcher Lohn für die Geduld schweigender Abende am Kamin, wenn sich die Welt des abenteuerlichen Simplicius Simplicissimus Kapitel um Kapitel weiter auftut, jenes furchtbaren und gewaltigen Romans, der einen der historischen Höhepunkte unserer Erzählkunst bedeutet! Dies langsam vorrückende Lesen mit all seinen Genüssen der Freude am ritardando, dem Auskosten jedes Motivs, der Neugier des guten Dilettanten und Amateurs am Handwerklichen - sollte dies langsam vorrückende, dies geduldige Lesen, dem der Weg reizvoller dünkt als das Ziel, nicht mehr zu erobern sein? Wird uns nicht jeden Tag deutlicher und zwingender die Notwendigkeit sichtbar, in allem persönlichen Verhalten zu Menschen und Kunstwerken völlig unzeitgemäß zu werden, das heißt nicht zu eilen, uns nicht zur Eile drängen zu lassen, das langsame Tempo grundsätzlich vorzuziehen, im Aufnehmen des jeweils Neuesten grundsätzlich mißtrauisch und zögernd zu sein? Vielleicht lohnt es sich doch, wieder lesen zu lernen.


Hooper, Chloe: Infektionsgefahr

  Aus den Büchern meiner Großeltern, aus dunklen Erinnerungen und meiner Fantasie hatte ich versucht, mir ein Bild von ihr zusammenschustern: Vor dem Schlafengehen las meine Margot eine englische Geschichte über MrsTu-was-du-willst-dass-man-dir-tu und MrsDu-erntest-was-du-säst. Andere Kinder holten sich bessere Bücher aus der Leihbücherei - einen Roman, wenn dafür auch zwei Sachbücher gelesen wurden. Sie durfte sich keine Bücher ausleihen. Ihre Mutter befürchtete eine Tuberkuloseinfektion. Ihr Vater erstand einmal bei einem Nachlaßverkauf eine schön gebundene Dickens-Ausgabe für sie und handelte sich damit von seiner Frau eine gewaltige Standpauke über die Gefahr eingeschleppter Keime ein. Sämtliche Bücher mußten einen Tag in der Sonne liegen, ehe Margot sie auch nur ansehen durfte. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 84)


Hoppe, Felicitas: Das Rad neu erfinden

 Über diesen Leser wissen wir nichts, schon gar nicht, womit er sich identifiziert, aber soviel wissen wir doch: daß er der einzige ist, für den es sich lohnt, das Rad noch einmal neu zu erfinden, nicht weil wir das müßten und schon gar nicht, weil wir es könnten in einer Literatur, die sich seit langem schon im Raum des Wissens aufhält, im Verbindungsnetz aller längst geschriebenen Bücher, sondern deshalb, weil es ein verzweifelt tröstliches Spiel ist, so zu tun, als ob es noch ginge. Ein anstrengendes Spiel ist es auch, weil es, noch einmal Schrott, nichts Anspruchsvolleres gibt, als jenseits von intellektuellen Krücken mit dem bloßen Grundwortschatz eine gute Geschichte zu erzählen, die Schönheit des Rades, die Fibel, neu zu erfinden.


Hornby, Nick: Versuchs mal mit Pilates

  Heilige Scheiße! Ihr müsst echt mal versuchen, Sachen von Leuten zu lesen, die sich umgebracht haben! Wir fingen mit Virginia Woolf an, und ich hab bloß zwei Seiten von diesem Leuchtturm-Buch gelesen, aber das reichte mir, um zu wissen, warum die sich umgebracht hatte: Sie musste sich umbringen, weil sie sich nicht verständlich machen konnte. Man muss nur einen einzigen Satz lesen, um das zu erkennen. Ich identifiziere mich sogar ein bisschen mit ihr, weil ich das Problem selbst kenne, aber ihr Fehler war, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich meine, so gesehen ein Glück, weil sie damit ein Andenken hinterlassen hat, wo durch Leute wie wir aus ihren Problemen lernen können und so, aber Pech für sie. Und sie hatte aber auch Pech, wenn man es recht bedenkt, denn anno dazumal konnte praktisch jeder ein Buch veröffentlichen, weil es nicht so viel Konkurrenz gab. Man konnte einfach in einen Verlag reinmarschieren und erklären, He, ich will das hier veröffentlichen, und die sagten, Klar, gib her. Heute würden sie sagen, Nö, Schatz, zieh Leine, das versteht doch keiner. Versuchs mal mit Pilates oder Salsa. (Nick Hornby: A long way down)


Hornby, Nick: Literaturkreis

  Vor ein paar Jahren hatte sich Cindy so einem schrecklichen Literaturkreis angeschlossen, in dem sich unglückliche, verklemmte Mittelschichtslesben fünf Minuten über irgendeinen Roman unterhalten, den sie nicht kapieren, um sich den Rest des Abends gegenseitig vorzujammern, wie widerlich die Männer sind. Jedenfalls las sie da so ein Buch über ein Paar, das sich liebte, aber ewig lange nicht zueinander fand und erst die Kurve kriegte, als sie praktisch schon hundert waren. Sie fand es toll und überredete mich, es auch zu lesen, wozu ich ungefähr so lange brauchte wie die Protagonisten, um zusammen zufinden. (Nick Hornby: A long way down)


Hornby, Nick: Ablenkungen

  Leser sein ist beinah so, als wäre man Präsident, nur daß Lesen in der Regel weniger Staatsempfänge mit sich bringt. Man hat seine Agenda, die man abarbeiten will, doch dann kommt einem das Tagesgeschehen dazwischen, Bücher in der Post, der Dritte Weltkrieg, und man läßt sich kurzzeitig vom eingeschlagenen Weg abbringen. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Bücherkaufen in Hay-on-Wye

  Hay ist eine seltsame Stadt an der Grenze von England zu Wales, die nahezu ausschließlich aus Buchantiquariaten besteht - es gibt ihrer vierzig, alle im Umkreis von wenigen hundert Metern -, und eines davon ist ein hervorragend bestücktes Antiquariat für Lyrik. Dort fand ich neben Hamiltons Buch auch die 'Modern-Poets'-Anthologie von Penguin, die ich kaufte, weil Coros wunderbares Gedicht "Marriage" kurz zuvor auf der Hochzeit eines Freundes vorgetragen worden war. Außerdem legte ich mir in einem anderen Laden der Stadt noch das 'Ern-Malley'-Buch zu (für ein Pfund, aus einer Irgendwann-mal-Laune, und wohl dazu verdammt, auf dem obersten Regalbrett zu verstauben) und eine Erstausgabe von 'Was geschah mit Bob Slocum?' (weil es in "The Stone Reader" erwähnt wird). Mangels anderer Freizeitangebote ist Bücherkaufen wirklich die angesagte Beschäftigung in Hay. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Schriftsteller als Schwager

  Einen Schriftsteller als Schwager zu haben, hätte sich als fatal erweisen können. Er hätte erfolgreicher oder weniger erfolgreich sein können als ich. Oder er hätte Bücher verfassen können, die mir zuwider sind oder unlesbar erscheinen. (Stellen Sie sich mal vor, Ihr Schwager hätte 'Finnegan's Wake' geschrieben und Sie hätten wirklich viel um die Ohren. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Lesen und vergessen

  Ich lese Bücher normalerweise nicht zweimal; dazu bin ich mir meines Nachholbedarfs und meiner Sterblichkeit zu bewußt. (Kürzlich fand ich heraus, daß ein Freund, der gerade 'Bleakhaus' zum zweiten Mal las, von Dickens, davon abgesehen, nur noch 'Barnaby Rudge' kannte. Das ist doch verrückt. Ich habe ihn so lange genervt, bis er sich stattgessen 'Große Erwartungen' vornahm.) Aber als ich versuchte, mir irgendetwas anderes ins Gedächtnis zu rufen, außer, daß es hervorragend ist, fiel mir nichts mehr ein. War da nicht was mit einem seltsamen Stiefvater? Oder war das in 'This Boy's Life'? Da es mir bei praktisch jedem Buch so geht, das ich zwischen, sagen wir, 15 oder 40 gelesen habe, begriff ich, daß ich nicht mal die Bücher alle gelesen habe, die ich gelesen zu haben glaube. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie deprimierend das ist. Warum macht man es dann überhaupt? (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Biografien

  Die Biographie über Richard Yates habe ich noch nicht durch. Aber ich möchte schon einmal so viel sagen. Sie ist 613 Seiten lang. Trotz des Einflusses, den Yates auf eine ganze Generation von Schriftstellern hatte, ist es schon schwer genug, Menschen zu finden, die sein bewunderswertes Buch 'Zeiten des Aufruhrs' gelesen haben, geschweige denn sich für seine Großeltern interessieren. Ich schlage vor, daß alle, die eine Biographie schreiben wollen, zuerst bei der Nationalen Biographien-Regulierungsbehörde vorstellig werden müssen, die einem eine maximale Seitenzahl zuweist. (Rechtsweg ausgeschlossen.) Es ist doch eine simple Rechenaufgabe. Niemand will ein Buch lesen, das länger ist als, na, neunhundert Seiten. Okay, vielleicht tausend. Und unter 250 ist eine Biographie wirklich nicht zu machen. Also, man bekommt die maximale Seitenzahl, wenn man über jemanden wie Dickens schreibt, jemanden, der ein biblisches Alter erreichte, dicke Bücher geschrieben und daneben noch ein interessantes Leben geführt hat. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Andere Zeiten

  ... daß ich heute lebe und schreibe, wo es bessere Antidepressiva gibt und wir alle weniger Alkohol trinken. Geschichten von zeitgenössischen Autoren, die in einer Zwangsjacke weggeschleppt werden, sind dünn gesät (zumindest kommen sie mir nicht zu Ohren), aber bei Lowell und Yates war das wohl an der Tagesordnung Im Register von 'A Tragic Honesty' finden sich unter dem Stichwort 'Nervenzusammenbruch" allein zehn Einträge. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Buchempfehlungen

  Normalerweise begegne ich persönlichen Buchempfehlungen natürlich mit dem gebührenden Mißtrauen. Ich habe ohnehin schon genug zu lesen, und wenn mir jemand sagt, ich solle ein bestimmtes Buch lesen, ist meine erste Reaktion, seine Glaubwürdigkeit infrage zu stellen oder mein Gedächtnis nach irgendeinem konträrem Standpunkt zu durchsuchen. (So wie der Stein immer die Schere stumpf macht, schlägt ein lauwarmes "Och, war ganz nett" jederzeit ein "Mensch, das mußt du lesen". Ist einfacher so.) (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: beats per minute

  Es gibt kein Gesetz, das einem vorschreibt, bei seinem Lesestoff einer Linie treu zu bleiben. Dennoch, es kommt mir so vor, als hätte ich diesen Monat ziemlich kreuz und quer gelesen. 'The Invisible Woman' und 'Y: The Last Man' sind praktisch in jeder denkbaren Hinsicht Gegenpole, schon ihre Titel! Eine Frau, die man nicht sehen kann, und ein Kerl, dessen bloße Existenz die ganze Welt interessiert. Ob es darauf ankommt? Ich fürchte ja. Ich sollte mal bei einer Party in New York den DJ machen, aber der Typ, der mich betreute (anders gesagt: Eigentlich legte er die Platten auf), wollte mir partout nicht die Plattenauswahl überlassen, weil ich angeblich nicht genug auf die 'beats per minute' achtete: Seiner Meinung nach dürfen sie bei aufeinander folgenden Platten um nicht mehr als, ich weiß auch nicht, 20bpm variieren. Damals hielt ich das für Quatsch, aber fürs Lesen trifft es vielleicht zu. (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Wahrhaft kultiviert

  Zaid hat seine Sternstunde jedenfalls im zweiten Absatz, wenn er feststellt, daß die "wahrhaft Kultivierten die Gabe haben, Tausende von ungelesenen Büchern zu besitzen, ohne ihre Gelassenheit oder den Wunsch nach noch mehr Büchern zu verlieren." Das bin ich! So wie Sie wahrscheinlich auch! Das sind wir! "Tausende von ungelesenen Büchern"! "Wahrhaft kultiviert!" (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hornby, Nick: Neuanschaffung

  Aber mit jedem Jahr, das verstreicht, und mit jeder Neuanschaffung aus einer Laune heraus, drücken unsere Bibliotheken mehr und besser aus, wer wir sind, ob wir die Bücher lesen oder nicht. Zugegeben, vielleicht ist das die etwas mehr als dreißig Pfund nicht wert, die ich für diese Sammlungen mit Briefen verballert habe, aber irgendwas muß es doch wert sein, oder? (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Hotschnig, Alois: Nicht einlullen

  Wir wollen, wie Kinder im Theater, staunend dasitzen und eine Geschichte erzählt bekommen, wie wir sie noch nie gehört haben. Andererseits geht es auch um die Erzählstrategie. Wenn es dahinter Motive gibt, die nicht nur daran interessiert sind, jemanden mit einer Geschichte zu konfrontieren, an der er sich erfreuen kann, sondern ihm die Welt so einfach wie möglich zu suggerieren, damit er keine Angst hat, dass die Welt möglicherweise kompliziert sein könnte, dann ist das legitim - aber man lügt den Leser an. Die Literatur, die ich liebe, ist eine, die den Leser nicht einlullt - ohne ihn andererseits in die Kälte zu stellen und ihm den Mantel wegzunehmen. (Alois Hotschnig im Interview mit Isabella Hager, Printausgabe des STANDARD vom 08./09.09.2008)


Houellebecq, Michel: Ziele der Literatur

  Das Leiden ist hilfreich, um gute Gedichte zu machen, aber es ist nicht das Ziel des Dichters. Die Literatur an sich hat kein Ziel außer dem Ziel, Literatur zu sein. Doch wenn alle Menschen völlig glücklich wären, gäbe es auch keine Literatur mehr. Das Ziel der Menschen ist das Vergnügen. Wir können nicht vorhersagen, was sie produzieren würden, wenn man sie von ihren Launen befreite. Wahrscheinlich würden sie reine Schönheit produzieren. (in einem Interview mit der Zeit, 2000)


Houellebecq, Michel: Die Schnauze voll

  Das Leben ist schmerzhaft und enttäuschend. Folglich ist es nutzlos, neue realistische Romane zu schreiben. Was die Realität im allgemeinen betrifft, so wissen wir bereits, woran wir sind; und wir haben keine Lust, noch mehr darüber zu erfahren. [...] Ist das Buch einmal zugeschlagen, verstärkt all das nur unseren Ekel, der bereits von jedem beliebigen Tag des 'realen Lebens' reichlich genährt wird. [...] Wer das Leben liebt, liest nicht. Und geht erst recht nicht ins Kino. Was immer auch darüber gesagt wird, der Zugang zum künstlerischen Universum ist mehr oder weniger für jene reserviert, die ein wenig die Schnauze voll haben." (Michael Houellebecq: Gegen die Welt, gegen das Leben)


Houellebecq, Michel: Risikovoll

  Ich hob ein kleines Loch im Sand aus, um die beiden Bücher darin zu vergraben; das Problem war jetzt nur, daß ich etwas zu lesen finden mußte. Leben ohne zu lesen ist gefährlich, weil man sich mit dem Leben begnügen muß, das kann dazu führen, daß man Risiken eingeht. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 88)


Houellebecq, Michel: Unversuchte Reflexion

  Ich kaufte mir einen großen Stapel DIN A4 Papier. um zu versuchen, die Elemente meines Lebens zu ordnen. Das ist etwas, was die Leute öfter tun sollten, ehe sie sterben. Es ist seltsam, wenn man an all die Menschen denkt, die es in ihrem ganzen Leben nie für nötig befunden haben, den geringsten Kommentar, den geringsten Einwand, die geringste Bemerkung zu Papier zu bringen. Das soll nicht heißen, daß diese Kommentare, diese Einwände, diese Bemerkungen einen Adressaten oder irgendeinen Sinn haben würden; aber letztlich finde ich es trotzdem besser, sie niederzuschreiben. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 335)


Hrabal, Bohumil: Die wahren Kinder

  War das ein Freude, als mein Mann seine Autorenexemplare im Taxi nach Hause brachte, war das eine Freude! Er hatte auch gleich noch sechzig Stück dazugekauft und die Pakete sofort ausgepackt und ein Buch neben das andere gelegt, wie Kacheln, ich sah es und wollte meinen Augen nicht trauen, daß mein Kleinod ein solcher Kindskopf war. Und dann signierte er alle diese Bücher ... und er zwang mich, eines davon in die Arme zu nehmen und dieses sein Neugeborenes herumzutragen, das mache man so, Vitezslav Nezval habe seine Geliebte auch dazu gezwungen, es als Ehre zu empfinden, wenn ein Dichter ihnen sein Kindchen in die Arme legt, denn, wie mein Kleinod mir mir einer Träne im Auge sagte, für einen Schriftsteller seien seine Bücher die wahren Kinder, er sei nicht nur ihr Vater, sondern auch ihre Frau Mama, ja mehr noch als eine Mutter, und mein Mann zeigte auf sich, auf seinen Bauch und seinen Kopf, so ein Schriftsteller trage sein künftiges Kindlein nämlich länger als neun Monate mit sich herum, und wie eine Mutter fühle er, wie es strample, und er mache sich solche Sorgen, ob das Kind, dieses Kindlein, nicht etwas schwachsinnig sei? Ob es auch gut aussehen werde... So faselte mein Mann, seine Büchlein lagen auf dem ganzen Fußboden verstreut, und ich machte große Augen und sagte... Im Ernst? Das ist doch unmöglich... Tut dir nicht etwas der Schädel weh? ... Wer hätte das gedacht... Und wenn dir war passieren sollte, in welches Irrenhaus möchtest du eingeliefert werden? (Bohumil Hrabal: Ich dachte an die goldenen Zeiten, S. 19f.)


Huizing, Klaas: Gibt es einen Textlüstling?

  Nun, dieser Antiheld existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen, die nebeneinander arbeiten: der Text der Lust, das ist das glückliche Babel. Jeder kann bezeugen, daß die Lust am Text nicht sicher ist: es ist nicht gesagt, daß derselbe Text uns ein zweites Mal gefallen wird; es ist eine brüchige, durch Stimmung, Gewohnheit, Umstände verwitterte Lust, es ist eine prekäre Lust (erreicht durch ein stilles Gebet an das Verlangen, sich wohl zu fühlen, das dieses Verlangen unerfüllt lassen kann). Die Wollust am Text ist nicht prekär, viel schlimmer: praecox, sie kommt nicht zur richtigen Zeit, sie hängt von keinem Reifen ab. Alles geht mit einem Male durch. Alles geschieht, alles genießt sich im Moment des ersten Blicks.


Huysmans: Joris-Karl: Gedankenübereinstimmung

  Schon oft hatte der Herzog über das große Problem nachgegrübelt, einen Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die kondensierte Last von Hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehn, so, daß man keins umstellen könnte. Der auf diese Weise abgefaßte Roman, in eine oder zwei Seiten zusammengedrängt, wäre eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuß. (Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich)


Humboldt, Wilhelm von: Zwei Arten zu lesen

  Es gibt zwei ganz verschiedene Arten, sich einem Buche zu nahen: eine mit einer bestimmten Absicht verbundene und ganz nahe auf den Lesenden selbst bezogene, und eine freiere, die mehr und näher auf den Verfasser und sein Werk geht. Jeder Mensch liest nach Verschiedenheit der Stimmungen und der Momente mehr auf die eine oder die andre Weise; denn rein und gänzlich geschieden sind beide natürlich nie. Die eine wendet man an, wenn man von einem Buche verlangt, daß es belehren, trösten oder unterhalten soll. Die andre Methode ist einem Spaziergange in Gottes freier Natur zu vergleichen. Man sucht und verlangt nichts Bestimmtes, man wird durch das Werk angezogen, man will sehen, wie sich eine poetische Erfindung entfaltet, man will dem Gange eines Räsonnements folgen. Belehrung, Trost, Unterhaltung findet sich hernach ebenso und noch in höherem Maße ein, aber man hat sie nicht gesucht, man ist nicht von seiner beschränkten Stimmung aus zu dem Buche übergegangen, sondern das Buch hat frei und ungerufen die ihm entsprechende selbst hervorgerufen. (Wilhelm von Humboldt)


Hürlimann, Thomas: Mein Onkel

  Mein Onkel war Stiftsbibliothekar und Prälat, seine Hüte hatten eine breite, runde Krempe, und gedachte er die Blätter einer tausendjährigen Bibel zu berühren, zog er Handschuhe an, schwarz wie die Dessous meiner Mama. An Bord unserer Bücherarche, sagte der Onkel, haben wir schlicht und einfach alles, von Aristoteles bis Zyste. (Thomas Hürlimann: Fräulein Stark, Anfang)


Huxley, Aldous: Die Rache

  Da Herbert kein guter Sportler war, rächte er sich an denjenigen seiner Mitschüler, die ihm darin über waren, durch einfrige Lektüre. Mit diesen Nachmittagen in der Volksbibliothek statt auf dem Fußballplatz oder daheim mit den revolutionären Büchern seines Vaters begann sein Anderssein und dies Gefühl, den andern überlegen zu sein. (Aldous Huxley: Die Claxtons)


Huxley, Aldous: Wirklichkeit und Roman

  "Das Fatale an Romanen", sagte John Rivers, "ist, daß sie zuviel Sinn ergeben. Die Wirklichkeit ergibt nie einen Sinn." "Nie?" fragte ich zweifelnd. "Vielleicht aus der Gottesperspektive", räumte er ein. "Nie aus der unsern. Ein Roman hat Einheit, ein Roman hat Stil. Die Wirklichkeit hat weder das eine noch das andre. Im Rohzustand ist das Dasein immer eine verflixte Sache nach der andern. Und jede der verflixten Sachen ist Thurber und zugleich Michelangelo, Mickey Spillane und zugleich Thomas von Kempen. Das Merkmal der Wirklichkeit ist ihre wesentliche Beziehungslosigkeit." Und als ich fragte: "Worauf?", schwenkte er seine breite, gebräunte Hand gegen die Bücherregale. "Auf, 'was das Beste ist geblieben, das je ein Mensch gedacht, geschrieben'", deklamierte er mit spöttischer Gewichtigkeit und fügte dann hinzu: "Seltsamerweise gelten die der Wirklichkeit am nächsten kommenden Romane als die am wenigsten wahren." Er neigte sich seitwärts und tippte auf den Rücken eines zerlesenen Exemplars der 'Brüder Karamasoff'. "Der da ergibt so wenig Sinn, daß er fast Wirklichkeit ist. Und das ist mehr, als sich von einer irgendeiner der wissenschaftlichen Arten von Romanen sagen läßt. (Aldous Huxley: Genie und Göttin, S. 5)


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