Bibliomanische FAB  / [E-H]


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Gaarder, Jostein: Eine magische Welt

  Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was ein Buch ist. Ein Buch ist eine magische Welt voller kleiner Zeichen, die die Toten zum Leben erwecken und den Lebenden das ewige Leben schenken können. Es ist unfaßbar, fantastisch und "magisch", daß die sechsundzwanzig Buchstaben in unserem Alphabet auf so viele Weisen zusammengesetzt werden können, daß sie riesige Regale mit Büchern füllen und uns in eine Welt führen, die niemals ein Ende nimmt, sondern die wachsen und wachsen wird, solange es auf dieser Erde Menschen gibt. (Jostein Gaarder: Bibbi Bockens magische Bibliothek, S. 191)


Gaarder, Jostein: Unstillbarer Hunger

  Plötzlich hatte ich schrecklichen Hunger. Nicht nach einer Mahlzeit, sondern nach allen Wörtern, die sich in diesen Regalen versteckten. Aber ich wußte: Egal, wie viel ich in meinem Leben auch lesen könnte, niemals würde ich auch nur ein Millardstel aller Sätze lesen, die geschrieben worden sind. Denn es gibt auf der Welt ebenso viele Sätze, wie es am Himmel Sterne gibt. Und es werden immer mehr und sie erweitern sich die ganze Zeit wie ein unendlicher Raum. Doch zugleich wußte ich, daß ich immer, wenn ich ein Buch öffne, einen Zipfel des Himmels sehen werde, und immer, wenn ich einen neuen Satz lese, werde ich ein wenig mehr wissen als zuvor. Und alles, was ich lese, macht die Welt größer und erweitert zugleich mich selber. Für einen Moment hatte ich in die fantastische und magische Welt der Bücher hineingeschaut. (Jostein Gaarder: Bibbi Bockens magische Bibliothek, S. 191f.)


Galbraith, Robert: Mehr Leser, weniger Autoren

  "Es sind schwierige Zeiten. Der Siegeszug der elektronischen Lesegeräte hat vieles verändert." Es klang, als trüge er auswendig gelernte Phrasen vor. "Lesen Sie?", fragte er unverblümt. "Gelegentlich", antwortete Strike. In seiner Wohnung lag ein eselsohriger Roman von James Ellroy, den er schon vor vier Wochen hatte fertig lesen wollen, doch abends war er meist zu müde, um sich darauf konzentrieren zu können. Sein Lieblingsbuch steckte in einem der noch immer nicht ausgepackten Umzugskartons auf dem Treppenabsatz. Es war zwanzig Jahre alt; er hatte es schon lange nicht mehr aufgeschlagen. "Wir brauchen Leser", murmelte Daniel Chard. "Mehr Leser. Weniger Autoren." (Robert Galbraith: Der Seidenspinner)


Gehrke, Claudia: Glücksgefühle

  Warum ich Verlegerin bin? Das sind wahrscheinlich einfach diese durch nichts zu ersetzenden Glückgefühle, wenn sich aus dem bloßen Text ein Buch geformt hat. Wenn ich mich verliebe - in ein Projekt. Wenn sich im Gespräch eine Idee entwickelt, die sich in einem Buch materialisiert. Und: dieses frisch gedruckte Buch aus der Druckerei zu holen und durchzublättern und anderen beim Durchblättern zuzusehen.


Geitel: Klaus: Büchersüchtig

 "Ich kann mir nicht helfen: Ich bin süchtig. Glücklicherweise nur nach Büchern. Aber was heißt hier - nur? Wie in einem Anfall von Schwachsinn kaufe ich immer wieder, wie ein Ausgehungerter seine lebensrettenden belegten Brötchen, einen ganzen Armvoll Bücher auf einmal, von denen ich zu allem Überfluss von vornherein weiß, dass ich die Mehrzahl von ihnen nie lesen werde. Glücklicherweise sind die Bücher helle genug, sich dem Tod durch achtloses Weggeworfenwerden dadurch zu entziehen, dass sie sich listig irgendwo in der Wohnung verstecken. Wie Brünnhilde von ihren Walkürenschwestern mit geharnischten Leibern beschützt, verbergen sich die von mir sträflich missachteten Bände hinter den papierenen Rücken der Kolleginnen im Bücherregal. Gelegentlich zieht sie dort die suchende Hand nach Jahr und Tag freudig überrascht hervor, und der Fund erfüllt prompt jenes Leseglück, dessen man längst hätte teilhaftig werden können. Gerade war ich ein paar Tage in Zürich, bin in der Bahnhofsstraße natürlich prompt der Buchhandlung Payot gründlich zum Opfer gefallen und habe mich mit französischer Lektüre für längere Zeit eingedeckt, glücklicherweise auch solcher im Taschenformat, die man leicht auf Bahnsteigen oder Flughäfen herausziehen kann. Manchmal denkt man ja insgeheim, die lausigen Verspätungen, die rundum grassieren, entstehen gezielt durch eine heimliche Fusion von Buchverlagen mit Verkehrsbetrieben. [...]


Geitel, Klaus: Wiedergutmachungslesen

  Erbarmen mit den Büchern! Sie stehen artig in Zweier- oder gar Dreierreihen bis zur Decke hoch auf ihren Regalen, dienstbereit bis zum letzten Blatt, unaufdringlich, in Wartestellung, sozusagen mit niedergeschlagenen Augen. "Erlese uns!", seufzen sie heimlich. Und tatsächlich: An uns ist es, sie aus diesem Zustand zu erlösen. Vielleicht haben wir sie irgendwann einmal als Lesefutter angeschafft, aber nie hat ein Auge es bislang sie zu fressen gereizt. Die Bücher sind uns regelrecht auf den Leim gegangen. Oder wir ihnen. Es gibt eine schier unbezähmbare Lust, Bücher zu lesen, die wahrscheinlich sonst keiner liest. Ihr Anspruch darauf, gelesen zu werden, ist ranzig geworden, ihre Inhalte scheinen angeschimmelt. Sie haben lernen müssen, dass sie nichts anderes sind als Kellerkinder der Literatur; dass der Keller nun einmal ihr Los ist und dass sie sich glücklich schätzen dürfen, später einmal auf den Wühltischen der Antiquare zu landen. Es gibt wirklich und wahrhaftig so etwas wie ein Wiedergutmachungs- Lesen.


Geitel, Klaus: Ein Büchermensch

  Ich bin und bleibe ein einsamer Büchermensch, glücklich und zufrieden auf meiner Liege, von Kopf bis Zeh in die Lektüre vertieft. Wozu hat man denn sonst Hühner-Augen? Natürlich darf man bei der Wahl seiner Lektüre nicht zimperlich sein. Sie soll abwechslungsreich sein und von vornherein auf jeden Schonkost-Charakter verzichten. Man muss dann mit gewissen Verdauungsstörungen rechnen, aber selbst die zahlen sich in der Folge meist positiv aus. Ich denke allerdings, man solle auf die Lektüre geliehener Bücher verzichten, da man sie ja schließlich voller Dankbarkeit zurückgeben sollte, was freilich die wenigsten tun. Statt Bücher zu verleihen, drücke ich den Leselustigen lieber den Kaufpreis für ein eigenes Exemplar in die Hand. Lieber ein Loch in der Börse als eins im Bücherregal.


Genazino, Wilhelm: Prothesen

  Beide, der Schriftsteller und der Leser, verwenden eine Prothese, wenn auch nicht dieselbe. Der Schriftsteller baut zwischen sich und den Gegenständen der Aussenwelt die Prothese seines Abstands ein; die Prothese erlaubt ihm die Täuschung der Unmittelbarkeit, von der man nicht merken soll, dass sie eine Konstruktion ist. Für die anderen, die Leser, wird der fertige Text ebenfalls zu einer Prothese, das heisst zu einem Ersatzkörper, mit dessen Hilfe wir - mit einem Wort von Italo Svevo - das "grauenvolle wirkliche Leben" studieren können, ohne diesem je zu nahe zu treten.


Gesammelte Buchreime

[1]

  Das Buch ist mir lieb.
Wer's mir stiehlt, der ist ein Dieb.
Er sei Reiter oder Knecht,
So ist er für den Galgen recht.

[2]

  Gleichwie die Bien aus Blumen saugt,
was zu dem süßen Honig taugt,
also bedient Herr Kißling sich
der guten Bücher nutzbarlich.

[3]

  Schaff gute Bücher in dein Haus,
Sie strömen reichen Segen aus
Und wirken als ein Segenshort
Auf Kinder und auf Enkel fort.

[4]

  Jeden Tag ein goldner Spruch
Aus dem lieben Bibelbuch,
Das ist Reichtum, das ist Speise
Für des Christen Pilgerreise.

[5]

  Durch jedes Buch, ob ernst, ob heiter
Wirst du von Tag zu Tag gescheiter

[6]

  Das Lesen ist des Müllers Lust.
Gelesen, das heißt auch: gewußt.
Was man aus Büchern nicht erfährt,
beizeiten die Erfahrung lehrt.

[7]

  Wer Bücher kauft und nicht liest,
bei Tische sitzt und nicht ißt,
auf die Jagd geht und nicht schießt,
der ist ein Narr, daß ihr's wißt.


Gier, Albert: Doppelleben

  Bücher, so scheint es, führen ein doppeltes Leben: Einerseits verkörpern sie den Autor, dessen Worte sie sichtbar, ja gleichsam hörbar machen. Ciceros Briefe an Atticus und Quintus hat Petrarca 1345 in Verona entdeckt und eigenhändig abgeschrieben; dieser Codex hatte in seiner Bibliothek einen besonderen Platz. Als das schwere Buch eines Tages herunterfiel und Petrarca am Bein verletzte, fragte er: "Was habe ich dir getan, Cicero, dass du mich schlägst?" Als auratische Objekte sind Petrarca auch griechische Handschriften teuer, obwohl er sie nicht lesen kann (bis zur Renaissance der griechischen Studien in Italien sollte es noch hundert Jahre dauern). Andererseits scheinen die Bücher selbst zu Empfindungen fähig: Sie sind traurig, wenn ihr "Herr" auf Reisen geht (wie es Petrarca häufig zu tun pflegte) und sie allein zurücklässt. Wenn sie sprechen könnten, würden sie die Reichen verklagen, welche Bücher als Prestigeobjekte sammeln und in einen Schrank einsperren, ohne sie jemals zu lesen. [X]


Ginzburg, Natalia: Geschichten erzählen

  Mein Beruf ist das Schreiben, und ich verstehe mich gut und seit langer Zeit darauf. ... Wenn ich Geschichten schreibe, bin ich wie einer, der in seiner Heimat ist, auf den Straßen, die er von klein auf kennt, zwischen den Mauern und den Bäumen, die ihm gehören. Mein Beruf ist es, Geschichten zu schreiben, erfundene Dinge oder Dinge aus meinem Leben, an die ich mich erinnere, aber jedenfalls Geschichten. Dinge, bei denen nicht die Bildung, sondern nur Gedächtnis und Phantasie eine Rolle spielen. Das ist mein Beruf, und ich werde ihn bis zu meinem Tod ausüben. (Natalia Ginzburg, 1964)


Ginzburg, Natalia: Zwei Lire gelesen

  Lucio hatte mit mir lesen gelernt; ich hatte aber einen Haufen Bücher gelesen und er nur wenige, weil er langsam las und dabei rasch müde wurde; wenn er jedoch bei uns zu Hause war, las auch er, weil ich manchmal das Spielen satt hatte und mich mit einem Buch ins Gras warf. Lucio rühmte sich dann bei meinen Geschwistern, er habe ein ganzes Buch gelesen, weil sie ihn immer auslachten, daß er so wenig las. Heute habe ich zwei Lire gelesen. Heute habe ich fünf Lire gelesen, sagte er selbstzufrieden und zeigte auf den Preis, der auf dem Umschlag stand. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S.44)


Ginzburg, Natalia: Aus nichts gemacht

  Beim Sprechen tupfte er mit den Fingern die Brosamen vom Tischtuch auf. Er hatte eine spitze Nase und ein spitzes Kinn, grünliche Hautfarbe wie eine Eidechse und einen stachligen Schnurrbart. Er ist sehr intelligent, sagt mein Vater von ihm. Aber er ist trocken, sehr trocken! Franco Rasetti hatte trotz seiner Trockenheit einmal ein Gedicht geschrieben, als er zusammen mit Gino auf der Rückkehr von einer Bergtour in einem verlassenen Gehöft warten mußte, bis es zu regnen aufhörte: Langsam und stetig der Regen fällt / Auf schwarze Felsen, grüne Wiesen. / Unbestimmte Formen zerfließen / Und leichte Nebel verschleiern die Welt. Gino dagegen schrieb keine Gedichte und interessierte sich weder für Gedichte noch für Romane. Aber dieses Gedicht gefiel ihm sehr gut, und er rezitierte es immer. Es war lang; ich kann mich aber leider nur noch an diese Strophe erinnern. Auch ich fand das Gedicht von den schwarzen Felsen wunderschön und verging fast vor Neid, daß ich es nicht selber geschrieben hate. Es war so einfach: Grüne Wiesen, schwarze Felsen hatte ich ja selber so viele Male in den Bergen gesehen. Nie war mir in den Sinn gekommen, daß sich damit etwas anfangen ließ: Ich hatte sie angeschaut, weiter nichts. So waren denn die wirklichen Gedichte einfach, aus nichts gemacht als aus den Dingen, die man sehen konnte. Ich begann, mit aufmerksamen Augen um mich zu schauen: Ich suchte Dinge, die jenen schwarzen Felsen, jenen grünen Wiesen ähnlich waren und die ich mir diesmal von niemand wegschnappen lassen wollte. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 46)


Ginzburg, Natalia: Gino

  Gino war ernsthaft, fleißig und ruhig, er prügelte sich nicht mit seinen Brüdern und war ein guter Bergsteiger. Er war der Liebling meines Vaters. Von ihm sagte mein Vater nie, er sei ein Esel; er sagte jedoch, er sei verschlossen. Gino war in der Tat verschlossen; er las immer, und wenn man zu ihm etwas sagte, so antwortete er einsilbig und ohne von seinem Buch aufzuschauen. Wenn Alberto und Mario sich prügelten, bewegte er sich nicht, sondern las weiter, und meine Mutter mußte ihn rufen und schütteln, bis er aufstand, um die beiden zu trennen. Beim Lesen aß er Brot, ganz gemächlich, ein Stück nach dem andern; ungefähr ein Kilo nach dem Nachtessen. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S.49)


Ginzburg, Natalia: Langweiliges Zeug

  Mein Vater pflegte dagegen auf neue Dinge, die er nicht kannte, einen schiefen und mißtrauischen Blick zu werfen. Und er fürchtete immer, daß die Bücher, die Terni uns ins Haus brachte, für uns nicht "passend" sein könnten. Ist das wohl passend für Paola? fragte er meine Mutter, indem er "A la recherche" durchblätterte und hie und da einen Satz las. Das muß langweiliges Zeug sein, sagte er dann und legte den Band weg, und die Tatsache, daß es sich um "langweiliges Zeug" handelte, beruhigte ihn ein wenig. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 51)


Ginzburg, Natalia: Simpeleien

  Mein Vater arbeitete abends in seinem Studierzimmer, das heißt, er korrigierte die Druckbogen seiner Bücher und klebte Illustrationen auf. Manchmal las er aber auch Romane. Ist das ein schöner Roman, Beppino? fragte meine Mutter. Aber nein! Todlangweilig! Eine Simpelei! antwortete er und zuckte die Achseln. Er las jedoch, mit lebhaftester Aufmerksamkeit, rauchte dabei Pfeife und wischte die Asche von den Seiten. Wenn er von einer Reise zurückkam, hatte er immer Kriminalromane bei sich, die er an den Bahnhofkiosken kaufte; und abends in seinem Studierzimmer las er sie dann zu Ende. Sie waren gewöhnlich in deutscher und englischer Sprache geschrieben: Es schien meinem Vater wahrscheinlich weniger frivol, solche Romane in einer fremden Sprache zu lesen. Eine Simpelei, sagte er und zuckte die Achseln; er las aber trotzdem bis zur letzten Zeile weiter. Später, als die Romane von Simenon zu erscheinen begannen, wurde mein Vater ein eifriger Leser dieses Autors. Simenon ist gar nicht schlecht, sagte er. Er schildert die französische Provinz ausgezeichnet. Dieses Provinzmilieu ist ausgezeichnet getroffen! Damals aber, in den Jahren in der Via Pastrengo, gab es noch keine Romane von Simenon, und die Bücher, die mein Vater von seinen Reisen mitbrachte, waren glänzende kleine Bändchen mit den Körpern von erstochenen Frauen auf dem Umschlag. Wenn meine Mutter sie in den Manteltaschen fand, sagte sie: Aber schau, was für Simpeleien dieser Beppino liest! (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 54)


Glaser, Peter: Ein wenig Neid

  Matthias startete ein Programm, mit dem man zwei winzigen Tongeneratoren in dem Rechner Synthesizerklänge entlocken konnte. An dieser Stelle muß ich anmerken, daß ich einerseits Schriftsteller bin, andererseits fast immer mit Musikern zusammengewohnt habe. Und seit jeher habe ich mich den Musikern unterlegen gefühlt, weil man mit einer Schreibmaschine nicht richtig Lärm machen kann. Ein Buch ist eine vollends gedämpfte Angelegenheit. Literatur kann man nirgends lauter drehen. Der kleine Computer, aus dem es da scharf herausorgelte, war genau das, was mir noch fehlte: eine Schreibmaschine, auf der man auch Klavier spielen kann. Ich hörte einen großen Klang in meinem Hinterkopf - Datendämmerung. (Peter Glaser: Datendämmerung)


Glaser, Peter: Buchseitenzähmung

  Die Seiten eines neuen Buchs so weit umzubiegen, bis man den Rücken weich brechen fühlt, ist nicht jedermanns Sache. Schon die nächste Seite würde dieselbe mikro- martialische Überdehnung erfordern, das Lesen wäre überschattet von einem Akt unangemessener Materialstrapaze. Eigentlich dürfte dieses Aufklaffen der Seiten gar nicht sein. Bei der Buchherstellung sollten die Fasern der Seiten immer parallel zum Buchrücken verlaufen, damit sich das Buch gut aufschlagen läßt und die Seiten sacht auf sich selbst zurücksinken. Daran halten sich aber offenbar nicht alle. Dessen ungeachtet, wenn ein Buch die Seiten aufwirft zu einem weißen, durchlässigen Plissee: das ist die Verführung. Es möchte berührt werden. Sanft niedergedrückt. So legt man seine Hand also über den Mittelbruch, auf die Zartheit der Zeilen. Oder man legt, damit sie nicht zuklappt, ein Ding auf das Schwalben-V der Doppelseite. Ein Brotmesser. Eine Fernbedienung. Eine Banane, deren Schattenrand zugleich Zeilenlineal ist. Manchmal genügt es, eine Ecke der Buchseite zu belasten, die sich wonnig wehrt und wölbt. Briefbeschwerer sind hierfür ungeeignet, da sie bei dicken Büchern von der Ecke kullern; ein weiteres Buch dagegen lässt sich gut auf die Ecke des ersten legen. All das aber ist uneleganter Behelf, ebenso Lesezeichen-Spangen, Jumbo- Büroklammern oder Gummiringe, die bei manchem Leser kurzfristig die Seite niederzwingen. An der Wahllosigkeit, mit der wir nach Gegenständen zur Buchseitenbezähmung greifen, wird deutlich: Da fehlt noch etwas. Es gibt keine Kultur von Dingen, die Buchseiten profund geöffnet halten. Das Problem gibt es bei e-Readern nicht, aber es gibt einfach auch Probleme, die man gern behalten möche. (Peter Glaser)


Glauser, Friedrich: Idiosynkrasie

  Das Mädchen las einen Roman von Felicitas Rose. Einmal hielt sie das Buch hoch, so daß Studer den Umschlag sehen konnte: Ein Herr in Reithosen und blanken Stiefeln lehnte an einer Balustrade, im Hintergrund schwammen Schwäne auf einem Schloßteich, und ein Fräulein in Weiß spielte verschämt mit ihrem Sonnenschirm. "Warum lesen Sie eigentlich solchen Mist?" fragte Studer. - Es gibt gewisse Leute, die überempfindlich auf Jod und Brom sind, Idiosynkrasie nennt man dies... Studers Idiosynkrasie bezog sich auf Felicitas Rose und Courth-Mahler. Vielleicht, weil seine Frau früher solche Geschichten gerne gelesen hatte - nächtelang-, dann war am Morgen der Kaffee dünn und lau gewesen und die Frau schmachtend. Und schmachtende Frauen am Morgen... (Friedrich Glauser: Wachtmeister Studer, S. 42)


Glavinic, Thomas: Gekaufte Gedanken

  Ich esse, dann trinke ich den Schnaps und das Cola, dann mache ich das erste Bier auf. Kurz vor Wiener Neustadt beginne ich wieder in "Train Dreams" zu lesen. Vielleicht liegt es am Alkohol, aber das ist unwichtig, jedenfalls bin ich glücklich, dieses Buch gekauft zu haben und jetzt lesen zu können. Dieses Gefühl ist etwas Konstantes und Kostbares in meinem Leben, ich kenne es, seit ich sieben Jahre alt war und unter dem Weihnachtsbaum mit "Huckleberry Finn" anfing. Ich sitze im Zug, lesen in "Train Dreams" und fühle mich geborgen, ich habe mehr als ein Buch, mehr als einen Gegenstand gekauft, ich habe mir Gedanken gekauft, die Chance, mehr zu werden. (Thomas Glavinic: Das bin doch ich, S. 159)


Glavinic, Thomas: Ein Leben im Regal

  Ein Buch. Wurde geschrieben, wurde gedruckt. Wurde in die Buchhandlung gebracht. Wurde ins Regal gestellt. Wurde von Zeit zu Zeit herausgezogen und betrachtet. Nach einigen Wochen zwischen anderen Büchern, zwischen James und Marcel oder zwischen Emma und Virgina, wurde es gekauft. Vom Käufer nach Hause getragen. Gelesen und ins Regal gestellt. Und dort stand es dann. Vielleicht wurde es nach Jahren ein zweites und drittes Mal gelesen. Doch es stand, stand im Regal. Fünf Jahre, zehn Jahre, zwölf, fünfzehn. Dann wurde es verschenkt oder verkauft. Kam in andere Hände. Wurde einmal gelesen und wieder ins Regal geschoeben. Stand da tagsüber, wenn es hell war, und abends, wenn die Lichter ausgingen, und nachts im Dunkeln. Und wenn der nächste Tag anbrach, stand es noch immer im Regal. Fünf Jahre. Dreißig Jahre. Und wurde wieder verkauft. Oder verschenkt. Das war es. Ein Buch. Ein Leben im Regal, Leben in sich bergend. (Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht)


Goethe: Bücher und Bekanntschaften

  Es geht uns mit den Büchern wie mit neuen Bekanntschaften. Die erste Zeit sind wir hochvergnügt, wenn wir im allgemeinen Übereinstimmung finden, wenn wir uns an irgendeiner Hauptseite unserer Existenz freundlich berührt fühlen. Bei näherer Bekannschaft treten alsdann erst die Differenzen hervor, und da ist denn die Hauptsache eines vernünftigen Betragens, daß man nicht, wie etwa in der Jugend geschieht, sogleich zurückschaudere, sondern daß man gerade das Übereinstimmende recht fest halte und sich über die Differenzen vollkommen aufkläre, ohne sich deshalb vereinigen zu wollen.


Goethe: Verhalten von Menschen

  Aus einer großen Gesellschaft heraus
Ging einst ein stiller Gelehrter zu Haus.
Man fragte: "Wie seid Ihr zufrieden gewesen?"
"Wärens Bücher", sagt' er, "ich würd sie nicht lesen."


Goethe: Bibliotheken Bibliothekare

  Ein Bücherkenner ist überall willkommen und er war es in jener Zeit noch mehr, als die Lust merkwürdige und rare Bücher zu sammeln lebendiger, das bibliothekarische Geschäft noch mehr in sich selbst beschränkt war. Eine große deutsche Bibliothek sah einer römischen ähnlich. Sie konnten mit einander im Besitz der Bücher wetteifern. Der Bibliothekar eines deutschen Grafen war für einen Kardinal ein erwü nschter Hausgenosse und konnte sich auch da gleich wieder als zu Hause finden. Die Bibliotheken waren wirkliche Schatzkammern, anstatt daß man sie jetzt, bei dem schnellen Fortschreiten der Wissenschaften, bei dem zweckmäßigen und zwecklosen Anhäufen der Druckschriften, mehr als nützliche Vorratskammern und zugleich als unnütze Gerümpelkammern anzusehen hat, so daß ein Bibliothekar, weit mehr als sonst, sich von dem Gange der Wissenschaft, von dem Wert und Unwert der Schriften zu unterrichten Ursache hat, und ein deutscher Bibliothekar Kenntnisse besitzen muss, die fürs Ausland verloren wären. (Aus: Winckelmann und sein Jahrhundert)


Goethe: Antizipation des Internets?

  Wenn es ein Werk von etwa zehn Folianten gäbe, worin in nicht allzu großen Kapiteln jedes etwas Neues, zumal von der spekulativen Art, enthielte; wovon jedes etwas zu denken gäbe und immer neue Aufschlüsse und Erweiterungen darböte: so glaube ich, könnte ich nach einem solchen Werke auf den Knien nach Hamburg rutschen, wenn ich überzeugt wäre, daß mir nachher Gesundheit und Leben genug übrigbliebe, es mit Muße durchzulesen.


Goethe: Nur keine Angst

  Es müßte schlimm zugehen, wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der skandalösen Szenen im Überfluß, wo nicht vor unsern Augen, doch vor unsern Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkung eines Buches oder Theaterstückes keineswegs ängstlich zu sein... die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, daß sie alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem anderen.


Goethe: Der ganze Himmel

  Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt;
Des Vogels Fittich werd ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.
(Famulus Wagner im "Faust")


Goethe: Die Muttersprache bereichern

  Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe. Reinigung ohne Bereicherung erweist sich öfters als geistlos... der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe, der geistlose hat gut reinsprechen, da er nichts zu sagen hat. Wie sollte er fühlen, welches künstliche Surrogat er an der Stelle eines bedeutenden Wortes gelten läßt, da ihm jenes Wort nie lebendig war, weil er nichts dabei dachte? Es gibt gar viele Arten von Reinigung und Bereicherung, die eigentlich alle zusammengreifen müssen, wenn die Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben hervordringt, und sollten sie in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitführen, er setzt sich zu Boden und die reine Welle fließt darüber hin.


Goethe: Entschuldigung

  Bis diese Tage hoffte ich noch immer, nach meiner getanen Zusage, ihnen etwas zu dem Frauenzimmer- Almanach zu senden. Aber es drängt sich so viel übereinander, daß es mir nicht möglich geworden ist, und ich würde mit mehr Verlegenheit dieses anzeigen, wenn nicht die Versprechen der Autoren, so wie die Schwüre der Liebhaber, von den Göttern selbst mit einiger Leichtigkeit behandelt würden... (Johann Wolfgang von Goethe an Cotta, 1811)


Goethes Faust

  Goethe weilt in Lottes Kammer
und sie streichelt seinen Hammer.
Sie zwurgelt auf, sie zwurgelt ab.
Langsam bringt sie ihn auf Trab.
Als sie ihn mit der Faust umschließt,
Goethe in die Höhe schießt.
"Das ist der Titel, den ich wollte,
wie er drüberstehen sollte
über meinem neu´sten Band.
"Faust" soll er heißen und nicht "Hand".


Goetz, Rainald: Wie eine Zeitung

  Letztlich stelle ich mir eine Literatur vor, die wie Zeitung ist. Noch nicht mal wirklich besser als Zeitung, sondern nur erweitert um dieses eine reale Einzelmoment, das jeder einzelne Leser der Zeitung zufügt, durch sein Lesen, in Gedanken, in Gesprächen, durch seine Interessen, sein emotionales Geführtsein von seiner Geschichte, all das als sozusagen abstraktes Schwerefeld, nicht EIN konkretes Leben, sondern die allgemeine Tatsache, daß dem Allgemeinen ein Ich gegenübersteht, ixzillionenfach. Diese Kollision oder Interferenz: das wäre das mehr, das ich von einem Buch erwarte, von Literatur. Sicher nicht, daß sie ist wie Literatur, das ist sie ja eh. Da kann sie ja nur wegwollen davon. (Goetz, Rainald: Abfall für alle, S. 103)


Goetz, Rainald: Es gibt kein zu spät

  Das Atmen des Schreibers. Sein Leben, das Lesen. Gefühlsmäßig ist es kein Unterschied zum Schreiben, es findet dauernd irgendwie statt, es macht einen praktisch nicht ermüdenden Spaß, immerzu und überall, in allen Lagen und Situationen. Lesen: Glück. Meine ganze Lebensgeschichte sagt mir auch: es gibt kein Zuspät für irgendwelche Lektüren. Das und das müsse man als so und so junger Mensch gelesen haben, wenn man dies und das nicht bis dann und dann gelesen habe, habe man es verpaßt etc etc. Heißt es doch immer, liest man überall. Widerspricht meiner Erfahrung völlig. Im Radio in Berlin lief jetzt in diesen Wochen Schuld und Sühne, und ich dachte oft: ja, genau, irgendwann einmal werde ich vielleicht die Russen lesen, mit dem Gefühl einer riesigen Vorfreude. Die ganze Bibliothek der Welt steht vor einem, offen. Man muß nur im richtigen Moment, entsprechend gestimmt, das richtige Buch herausnehmen. Und anfangen zu lesen. (Rainald Goetz: Abfall für alle, S. 364)


Gordimer, Nadine: Schule des Schriftstellers

  Immer wollen die Leute wissen, wo und wann man schreibt. Als gäbe es eine geheime Methodologie, der man folgt. Für die Arbeit - die "wesentliche Geste" des Autors (Roland Barthes), die Hand, die er der Gesellschaft zum Anfassen hinstreckt - schien es mir nie bedeutsam zu sein, ob der Schöpfer am Mittag oder um Mitternacht schreibt, in einem korkverkleideten Zimmer wie Proust oder in einem Schuppen wie Amos Oz in seinen frühen Tagen. Vielleicht ist der Fragesteller nicht nur neugierig; vielleicht sehnt er sich nach einem eifersüchtig gehüteten Rezept, wie man ein Schriftsteller werden kann. Es gibt keins. Schreiben ist der eine "Beruf", für den keine Ausbildung existiert: Kurse für "kreatives Schreiben" können den Aspiranten nur lehren, seine Hervorbringungen kritisch zu begutachten, nicht aber, kreativ zu sein. Die einzige Schule des Schriftstellers ist die Bibliothek - lesen, lesen. Eine Reise durch die Räume: wie weit und wie tief das Schreiben sich vorwagen kann in die endlosen Perspektiven des menschlichen Lebens! Von den Beobachtungen anderer Schriftsteller lernt man, dass man seinen eigenen Weg zu den eigenen Beobachtungen finden muss - angetrieben vom machtvollsten Gefühl für sein Selbst, von der Kreativität. In allem anderen ist man auf sich allein gestellt.


Gordimer, Nadine: Buchhändler

  Während jener ersten Wochen hatte Arthur mich von einem Buchladen in den anderen geschleppt. Wie alle mir zufällig bekannten Buchhändler waren auch diese entweder muntere Geschäftsleute, die Bücher verkauften, als handelten sie mit Käse, oder sarkastische Intellektuelle, die in Verachtung über den Geschmack ihrer Kunden beständig die Lippen kräuselten. (Nadine Gordimer: Fremdling unter Fremden)


Gottwald, Andre: Bücher in Filmen

  Was mich allerdings immer aufregt, ist der (materielle) Umgang mit Büchern im Film. Da werden altehrwürdige Folianten und Manuskripte rumgeschmissen wie Altpapier. In "Neun Pforten" wird ein vierhundert Jahre altes Buch traktiert wie ein Wegwerf-Paperback. Neueste Beispiel ist Gandalf im Herrn der Ringe I. Da sitzt er mit rauchender Pfeife inmitten knochentrockener Pergamente, die angeblich zweitausend Jahre alt sein sollen. Mein lieber Gott! (6.1.03 in drb)


Graf, Oskar Maria: Schlehdorfer

  Als er jetzt an den Tisch gehen wollte, stieß er auf den Bücherhaufen, der mitten auf dem Atelierboden lag. "Misthaufen, verfluchter!" murrte er, weil ihm ein Buch über den Fuß rutschte, denn nicht etwa aufeinandergestapelt, nein, kreuz und quer durcheinandergeworfen lagen die Bücher da und warteten, bis die Putzfrau sie wegbrachte. In seiner Wut warf sie Schlehdorfer stets so hin. Später fanden die Bibliotheksbeamten meist Zettel darinnen, wie etwa: "P.P. Bibliotheksanleitung - solcher Gallimathias gehört in den Abfallkübel." Oder "Beachten - besteht nur aus gemeingefährlichen Wortverdrehungen, um bedeutend zu erscheinen", und so weiter. Die Bibliothekare kannten die verschnörkelte Schrift und den Mann und lachten amüsiert. (Oscar Maria Graf: Raskolnikow auf dem Lande. Kalendergeschichten, S. 454)


Graf, Oskar Maria: Junggeselle und Bücherleser

  Außerdem war er Junggeselle und Bücherleser, lebte mit seiner alten Mutter und mit einer noch ledigen Schwester zusammen und hatte so seine Sonderbarkeiten. War er grad gut aufgelegt, so ging ihm der Schnabel wie geölt, und wenn jemand über Bücher mit ihm ins Gespräch kam, vergaß er schier die Arbeit. (Oscar Maria Graf: Raskolnikow auf dem Lande. Kalendergeschichten, S. 464)


Graf, Oskar Maria: Brot & Bücher

  An dem schönen Sonntagnachmittagen fuhr Maurus mit mir auf dem Rad fort, suchte ein ungestörtes Sonnenplätzchen im Walde auf und las mir aus Büchern vor. Ibsens Dramen, Kleists Novellen und vor allem immer wieder Shakespeare lernte ich dadurch immer genauer kennen. Dann kamen die Russen, Tolstoi hauptsächlich, und Heine und Lessing. Maurus brachte die Stücke warm heraus, und meine Begeisterung, das Wettlesen und das Triumphieren über den anderen, wenn man etwas kannte, was dieser noch nicht gelesen hatte, begann von neuem. Nunmehr bewog ich auch Anna dazu, Bücher zu lesen, und unsere Brotgänge wurden immer länger. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 29)


Graf, Oskar Maria: Kaffeehausliteraten

  Was ich von den neuen Dichtern hielte, wollte er wissen. "Ja, die dichten alle so intellektuell. Das ist nicht das, was ich will", sagte ich halb vorsichtig und halb selbstbewußt, und als ich merkte, daß er damit sehr zufrieden war, setzte ich mutiger hinzu: "Wissen Sie, das sind keine Leute... das sind lauter Kaffeehausliteraten." Als Mensch, der bettelt, hat man einen ungemein ausgebildeten Spürsinn, man rangiert schon beim Ansichtigwerden denjenigen, welchen man vor sich hat. Man riecht sozusagen seine Gesinnung, seine innere Lagerung. Ich hatte richtig getroffen. Der Mann wurde lebhafter. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 293)


Graf, Oskar Maria: Die Aufgabe des Schriftstellers

  In all meinem Oberflächenleben beschäftigte ich mich seit langem sehr intensiv mit den Werken und Lehren meines gewaltigen Lehrmeisters Tolstoi, und das war nicht spurlos in mir geblieben. Jetzt auf einmal fing ich an, gründlich über mich und meine Stellung zur Literatur nachzudenken und landete stets bei der bedrängenden Frage: "Für was und für wen schreibt man? Ist der Schriftsteller nur da, um die höchste Sprachmeisterschaft zu erreichen, um mit subtilster Kenntnis der Psychologie irgendwelche Fälle des wirklichen Lebens verständlich zu machen und seine Leserschaft durch die Kunst seines Erzählertums zu faszinieren, oder besteht seine Aufgabe nicht vielmehr darin, mit seinem Schreiben das Unrecht auf der Welt, wo immer es sich auch zeigt, zu bekämpfen, die Menschen für soziale und moralische Einsichten empfänglich und für sich selbst verantwortlich zu machen, jeden Krieg als Verbrechen zu brandmarken, und auf die Gefahr hin, ein Leben lang verkannt und verdächtigt zu werden, stets einer Gesellschaftsordnung das Wort zu reden, in welcher gleiches Recht für jeden gilt und die Freiwilligkeit zur Einordnung in das Ganze schließlich zur sittlichen Regel wird?" Von da ab wurde mir klar, daß ich nur noch ein Schriftsteller im letzteren Sinne, also zeitlebens ein sogenannter 'engagierter' Schriftsteller sein konnte, dessen Talent zugleich eine unabdingbare menschliche und soziale Verpflichtung war. Ganz gewiß nämlich lag in allem Schönen, in jeder Kunst etwas Humanes, aber dieses Humane entzückte und rührte stets nur, zerfloß wieder und blieb ohne tiefergehende Wirkung. Es drang nicht hinein in die Zweideutigkeit des menschlichen Charakters, es zerstörte nicht dessen ererbte, gedankenlos übernommene Vorstellungen, es war nicht imstande, den feigen, meinungslosen Jedermann zu einem selbständig denkenden und handelnden Menschen zu machen. Auch die Kunst war etwas wie 'Opium für das Volk'. Sie machte den einzelnen und ganze Völker widerstandsunfähig gegen das Sinnwidrige und Böse im Allgemeinleben, das wir in den letzten Schreckensjahrzehnten erleben mußten. Das konnte und durfte nie wieder die Aufgabe der Schriftsteller, der Künstler, der Geistigen sein! Blieben sie dabei, dann häuften sie auf die grauenhafte Mitschuld, die sie unleugbar in der Vergangenheit auf sich geladen hatten, noch unermeßlich mehr wirkliche Schuld, und das Schlimmste: Dann verläuft all ihr weiteres Mühen und Schaffen resonanzlos im blinden Nichts und bedeutet den nachfolgenden Generationen höchstenfalls noch soviel wie ein kurioses 'Hobby' aus der Großvaterzeit. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 545f.)


Graf, Oskar Maria: Vorlesen im Wald

  An den schönen Sonntagsnachmittagen fuhr Maurus mit mir auf dem Rad fort, suchte ein ungestörtes Sonnenplätzchen im Walde auf und las mir aus Büchern vor. Ibsens Dramen, Kleists Novellen und vor allem immer wieder Shakespeare lernte ich dadurch immer genauer kennen. Dann kamen die Russen, Tolstoi hauptsächlich, und Heine und Lessing. Maurus brachte die Stücke warm heraus, und meine Begeisterung, das Wettlesen und das Triumphieren über den anderen, wenn man etwas kannte, was dieser noch nicht gelesen hatte, begann von neuem. Nunmehr bewog ich auch Anna dazu, Bücher zu lesen, und unsere Brotgänge wurden immer länger. Sehr oft gab es dann Prügel von Max. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 30)


Graf, Oskar Maria: Bettelnder Literat

  Was ich von den neuen Dichtern hielte, wollte er wissen. "Ja, die dichten alle so intellektuell. Das ist nicht das, was ich will", sagte ich halb vorsichtig und halb selbstbewußt, und als ich merkte, daß er damit sehr zufrieden war, setzte ich mutiger hinzu: "Wissen Sie, das sind keine Leute... das sind lauter Kaffeehausliteraten." Als Mensch, der bettelt, hat man einen ungemein ausgebildeten Spürsinn, man rangiert schon beim Ansichtigwerden denjenigen, welchen man vor sich hat. Man riecht sozusagen seine Gesinnung, seine innere Lagerung. Ich hatte richtig getroffen. Der Mann wurde lebhafter. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene)


Graf, Werner: Selbst tragende Lektüre

  Wenn ein Leser so in den Text hineingekommen ist, daß er zum Weiterlesen keine Willensanstrengung mehr aufbringen muß und auch keiner Unterstützung von außen bedarf, sondern durchs Lesen selbst Gratifikation erhält, die es ihm ein Bedürfnis sein lassen weiterzulesen, dann ist das freiwillige Lesen in einen Prozeß übergegangen, der sich selbst trägt, weil er mehr psychische Energie freisetzt als er verbraucht. Dieses Lesen läuft dank eigener Dynamik ab, was von außen wie eine Sucht erscheinen kann. Wenn der durchs Lesen eines Textes produzierte Lustgewinn die mit dem Lesen verbundenen Frustrationen - als Folge unzureichender literarischer Kompetenz - übersteigt, dann kann sogar die lernende Verbesserung der literarischen Kompetenz motivational subventioniert werden. (Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks)


Graf, Werner: Leserestriktion

  "Die lustdominierte Lesehaltung der Kinderlektüre kann also unzerstört erhalten bleiben, die Literatur allerdings, die auf diese Weise rezipiert werden kann, ist eingeschränkt auf das unterhaltende Spektrum. Die Lesekonstruktion, die die befriedigende Lektüre von Trivialliteratur (bzw. von trivialisierter Lektüre anspruchsvoller Texte) organisiert, ist als Fortsetzung der lustorientierten Lesefunktion der Kindheit zu verstehen." (Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks)


Grass, Günter: Keine freie Wahl

  Mein Berufsleben, mein Schreiben, all die Dinge, die mich interessieren, haben mich gelehrt, dass ich meine Themen nicht frei wählen kann. Meistens wurden meine Themen mir von der deutschen Geschichte zugewiesen, von dem Krieg, der verbrecherisch begonnen und geführt wurde und den nie aufhörenden Folgen jener Ära. Darum sind meine Bücher schicksalhaft mit diesen Themen verknüpft, und ich bin nicht der einzige, der diese Erfahrung gemacht hat.


Grass, Günter: Nur eine Minderheit

  Ich gehe davon aus, daß es sich um eine Minderheit handelt, die das Buch braucht. Es ist natürlich schrecklich, wenn man sieht, wie die neueren Medien dabei sind, junge Menschen in die Klauen zu bekommen. Aber die lesende Minderheit wird sich immer wieder regenerieren. Denn es gibt eben zum Buch keine Alternative. Der Reiz des Lesens, der darin besteht, daß man sich mit einem abstrakten Schriftbild einläßt, setzt einen Menschen voraus, der bereit ist, sich in eine Gegenwelt zu begeben. (Günter Grass: Fragen an die Literatur, Stuttgarter Zeitung 1983)


Graubner, Hans-Joachim: Geöffnete Universen

  Es gibt das Buch, und es gibt "Buchiges". Letzteres sind etwa Leporelli, aber auch Blätter zwischen zwei Deckeln, die ganz anders angeordnet sind als in einem landläufigen Buch. Im Wettbewerb der Stiftung Buchkunst, die alljährlich die schönsten in Deutschland entstandenen Druckwerke prämiert, fallen sie unter die Kategorie "Sonderfälle". [...] Über die Sonderfälle lässt sich bestens ein Bewusstsein dafür schaffen, was das Wesen eines herkömmlichen Buches ausmacht. Zwischen dem Einband befinden sich Seiten, die von links nach rechts gelesen und geblättert werden - die sogenannte Kodex- Form, die seit rund 1500 Jahren im Abendland die gängige ist. Die Buchdeckel selbst bilden nicht die Hüllen, sondern den Beginn und das Ende einer jeden Lektüre. Ein Buch, das ist ein geschlossenes Universum, und es gibt nicht nur Buchkünstlern Anlass, über seine Öffnung nachzudenken.


Green, Julien: Leserbestechung

  Natürlich wollte sie, daß wir bestimmte Bücher lasen, die sie in ihren frühen Jugendtagen bezaubert hatten, doch hier trat der Konflikt zwischen den Generationen klar zutage: Wir bockten bei Bulwer-Lytton und sogar bei Walter Scott, wir setzten beim Lesen dieser alten Schinken solche Leidensmienen auf, daß sie uns die Bücher aus den Händen riß und uns als 'yahoos' beschimpfte, als wilde Tiere. Immerhin schaffte ich 'Ivanhoe', aber nur weil sie mich bestrach: Sie versprach mir zehn Sous, sollte ich den Roman verständlich nacherzählen können. Weil ich knapp mit dem Taschengeld war, ließ ich mich darauf ein, bedenkt man aber, daß zehn Sou gerade mal ein halber Franc waren, wird man zugeben, ich war nicht überbezahlt. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 76)


Green, Julien: Schriftstellertagebuch

  Es ist nicht weiter schlimm, wenn einem Schriftsteller die Eintragungen in sein Tagebuch öde erscheinen an dem Tag, da er sie niederschreibt, die Zeit übernimmt es, sie interessant zu machen; aber diese Wahrheit zu begreifen erfordert eine Anstrengung der Phantasie, zu der wenige breit sind, und so ist viel wertvolles Material, die eigentliche Substanz unseres Lebens und unserer Zeit, für immer und ewig verloren. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 219)


Green, Julien: Das Material des Schriftstellers

  Eines der merkwürdigsten Probleme, die ein Schriftsteller lösen muß, ist die Frage, wie er Schönheit schaffen kann mit den gewöhnlichen Wörtern seines alltäglichen Lebens. (...) Der Stoff, aus dem seine Bücher gemacht sind, ist zwangsläufig ein grobes Material. Nichts ist abgegriffener als die meisten Wörter, die sein Wörterbuch ihm anbietet, und dennoch werden diese Wörter, in eine bestimmte Reihenfolge gebracht, zu einem Gedicht von Baudelaire (der mit banalsten Wörtern die größte Wirkung erzielte) oder, in einer anderen Reihenfolge, zu einer neuen Reklame für Brillantine. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 226)


Green, Julien: Bei der Arbeit

  Unter den unvollendeten Geschichten, mit denen meine Schreibtischlade vollgestopft war, befand sich eine, der ich hin und wieder eine halbe Seite oder mehr hinzugefügte, einfach weil ich wissen wollte, was aus den Figuren würde. Ich konnte damals genausowenig wie heute einen Plan entwerfen, was Schriftsteller angeblich tun müssen, bevor sie mit einem Buch anfangen. Meine Methode bestand darin festzuhalten, was ich zunächst im Kopf hatte, und die Fortsetzung beim Weiterschreiben allmählich herauszufinden, ein bißchen so wie ein Kindermädchen, das seinen Schützlingen Gutenachtgeschichten erzählt. Das Ziel des Kindermädchens ist jedoch, seine Zuhörer in den Schlaf zu wiegen, während ich, wie man sich leicht denken kann, meinen Lesers schlaflose Nächte bescheren wollte. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 220)


Green, Julien: Reaktion auf Kritiken

  Natürlich gab es auch unfreundliche Artikel, von denen mich einige bis ins Mark trafen, denn ich war damals furchtbar empfindlich, aber heute kann ich nur sagen, Gott sei Dank, daß es sie gab. Am meisten wurmte mich, mitgeteilt zu bekommen, wie ein paar Leute es ganz unverblümt taten, es sei offensichtlich, daß ich, da in diesem Roman die Liebe überhaupt nicht vorkomme, dieses Thema wohl nicht angemessen behandeln könne: Sie sahen darin das Eingeständnis, daß ich schlichtweg außerstande sei, über Liebe zu schreiben. Ich hütete mich, anders darauf zu antworten als durch ein Buch, das meinen Kritikern den Mund stopfen würde. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 244)


Green, Julien: Ungeheure Liebe zur Literatur

  Robert de Saint Jean rezensierte Bücher für verschiedene Literaturzeitschriften. Er unterschied sich von den gewohnten Kritikern dadurch, daß er immer versuchte, etwas Gutes in den besprochenen Büchern zu entdecken, auch wenn er manchmal einen schlechten Roman so grausam verriß, daß man hätte meinen können, er sei angegriffen worden und schreibe, um sich zu verteidigen; das kam von seiner ungeheuren Liebe zur Literatur, die er durch eine Massenproduktion von Schund bedroht sah. Fast alles und jedes konnte in jenen Zeiten literarischer Inflation gedruckt werden. Jede Woche wurden neue Genies entdeckt von gewissen Verlegern, die es schafften, die Buchhandlungen mit kläglichen Imitaten von Cocteau oder Giradoux vollzustopfen, dank einer unerhörten Werbung, die selbst Balzac zuviel gewesen wäre. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 245)


Green, Julien: Lesen und Vergessen

  ...dachte ich an einige meiner Lieblingsbücher, und plötzlich fiel mir ein interessanter Aspekt auf: Ich erinnerte mich besser an Figuren als an Plots; manchmal hatte ich die Geschichte fast vollkommen vergessen, wogegen die Figuren mit erstaunlicher Wirklichkeit in meinem Kopf lebten; ich wußte, wie sie waren und wozu sie fähig waren, aber was ihnen tatsächlich widerfahren war, hatte sich aus meinem Gedächtnis verflüchtigt. Die zufälligen Ereignisse waren durch eine unbewußte Auslese fast völlig verdrängt worden, wenn ich so große Worte verwenden darf. An Handlungen und Äußerungen erinnerte ich mich nur insofern, als sie zum eigentlichen Ich der Figuren gehörten. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 247)


Green, Julien: Des Autors Figuren

  Der Autor schafft Figuren, und die Figuren schaffen den Plot. Streng genommen dürfte sich der Autor in den Plot überhaupt nicht einmischen. Er geht ihn genausowenig etwas an, wie das Privatleben eines erwachsenen Menschen dessen alte Eltern etwas angeht, und Autoren sind wie alte Eltern, die gewöhnlich scheitern, wenn sie versuchen, ihre geistigen Kinder das Gewicht ihrer Autorität spüren zu lassen und deren Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 247)


Green, Julien: Lesen am Totenbett

  Meine Mutter starb. Ein Herzanfall streckte sie eines Morgens nieder. (...) Ich fand ihren Körper, als ich von der Schule heimkam. Dieser Anblick des Grauens wird mich mein Leben lang verfolgen. Ich rief Nachbarn herbei und hatte erst einmal die Mitleidsbekundungen der Leute zu ertragen. Dann mußte dieses leblose, schwere Fleisch berührt, aufgehoben und zu seinem Bett gebracht werden. (...) Am Abend war ich mit meiner Mutter allein. Ich hatte meinen Onkel benachrichtigt, und wir waren übereingekommen, abwechselnd an dem Leichnam zu wachen, erst ich und dann er während jener allerschrecklichsten Stunden des Morgengrauens. (...) Um den abergläubigsten Befürchtungen, die mich bestürmten, nicht nachzugeben, versuchte ich mich durch Lesen zu zerstreuen, doch in dergleichen Umständen wird die Nichtigkeit der meisten Bücher offenbar. Ich wartete auf einen Satz, ein Zauberwort, das mich von mir selber befreit hätte, aber auch die Seiten, die als die schönsten gelten, vermochten nichts gegen das Grauen angesichts des Kadavers der armen Frau. (Julien Green: Der andere Schlaf, S. 84/85)


Greiner, Ulrich: Macht Lesen glücklich?

  Ums Lesen gibt es ein großes Gewese. (...) gibt es die Stiftung Lesen sowie manch andere ebenso philanthropische wie geschäftsfördernde Einrichtung. Die Branche, die vom Lesen lebt (...), ist groß, und sie muss zusehen, dass ihr der Nachwuchs nicht ausgeht. Das ist legitim, aber man sollte nicht übertreiben. Zunächst mal ist klar, dass diejenigen, die nicht lesen können, von Wissen und Bildung und damit von beruflichem Erfolg ausgeschlossen sind. Die Nachricht, dass 22 Prozent aller Deutschen in diesem Jahr noch kein einziges Buch gelesen haben, bestätigt die Vermutung, dass der Prozess der Marginalisierung voranschreitet. Dagegen etwas zu tun ist notwendig. Aber wenn vom Lesen die Rede ist, dann meist im emphatischen Sinn. Da sind nicht Lehrbücher oder Handbücher gemeint, sondern die Werke der schönen Literatur, der Dichter und Denker. Warum Lesen glücklich macht heißt ein Buch von Stefan Bollmann, und diese Behauptung ist irreführend. Wer liest, um glücklich zu werden, sollte es lieber lassen. Lesen ist, wie die Fähigkeit, Rad zu fahren oder den Computer zu benutzen, eine Kulturtechnik, man muss sie beherrschen, um in dieser Gesellschaft überleben zu können. Mit Glück hat sie nichts zu tun, eher im Gegenteil: Das dauerhafte, wahrhafte Glück besteht wahrscheinlich in der vollendeten Dummheit. Erinnert sich jemand an Emma Bovary? Das Unglück dieser hübschen und selbstsüchtigen Frau in Flauberts Roman beginnt damit, dass sie andauernd Romane liest, die ihr Bild von der Wirklichkeit nachhaltig beschädigen. Auch der berühmte Ritter von der traurigen Gestalt, der Don Quijote des Cervantes, hat so viele Romane gelesen, dass er sich zum Gespött seiner Mitmenschen macht. Nun ist es sicherlich richtig, dass Frau Bovary und Herr Quijote nicht intelligent genug waren, um aus ihrer Lektüre die richtigen Schlüsse zu ziehen. Angenommen, sie wären dazu imstande gewesen: Es hätte ihnen nicht zum Glück verholfen. Und wir hätten zwei große Romane weniger. Die gern verbreitete These, Lesen im emphatischen Sinn führe zu größerer Weisheit und Einsicht und es wäre um die Welt besser bestellt, wenn die Staatsmänner und Wirtschaftslenker häufiger Hölderlin läsen, ist unbeweisbar. Schaden würde es ihnen nicht, aber ob sie danach menschlicher und klüger entschieden, weiß man nicht. Marcel Reich- Ranicki erzählte einmal, er habe seinen Augenarzt wechseln müssen. Der Mann habe ihn allzu oft mit der Kenntnis neuer Romane beeindrucken wollen, anstatt sich fachlich weiterzubilden. Man sollte für das Lesen nicht mit falschen Versprechungen werben. Es vergrößert die geistige Reichweite. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Literaturkritiker. [X]


Greno, Franz: Aufregend und wunderbar

  Und für mich war das alte Buch, das antiquarische Buch immer aufregender als das, was ich in der Gegenwart gefunden habe, bei ganz wenigen hatte ich die Idee, dass das Buch etwas Wunderbares war, aber bei den Meisten hatte ich das Gefühl, der Gleichgültigkeit, vor allem ein hochglanzpolierter Schutzumschlag, war die größte Mühe, für die man sich ins Zeug gelegt hat, die anderen Dingen waren nicht so wichtig. Ich weiß noch, wie groß das Gelächter war, als ich das Lesebändchen als Komfortleistung bei 2001 wieder einführte, wie in den einschlägigen Kreisen. Es gab so Kreise, die sich maßgeblich fanden, wie das Buch aussehen muss, nämlich wie ein kleines Brikett, luftiges Papier, also man verkauft Luft zu hohen Preisen, und die Titelseite eines Buches war kaum ein Pfifferling wert.


Grieser, Dietmar: Geheimnis der Zeugung

  Eine zweite Passion, die mich in den Gymnasialjahren nach dem Krieg beherrschte, war das Lesen. Und - damit verbunden - der Besitz eigener Bücher. Das kärgliche Taschengeld reichte dafür nicht aus: Ich gab Nachhilfestunden, betrieb einen florierenden Briefmarkenhandel, verlangte von den Freunden, denen ich mein selbstgefertigtes Spielbrett für Pfennig- Fußball auslieh, Platzmiete in unverschämter Höhe. Was ich an wohlfeilen Ausgaben von Hermann Hesse, Francis Jammes und Thomas Wolfe auftreiben konnte, wurde zum Grundstock meiner ersten Bibliothek. Ich besitze sie alle noch, sie sind auf miserablem holzhaltigen Papier gedruckt, elend schlecht gebunden, meist nur kartoniert, und sie haben ein eigentümliches Aroma, an dem ich noch heute mit Genuß schnuppere. An den Büchern, die ich mir von meinem Taschengeld kaufte, interessierte mich seltsamerweise neben dem Inhalt immer auch ihre physische Gestalt, und so zerlegte ich eines Tages eines von ihnen in seine Bestandteile. Wieso das? Ich wollte dem Geheimnis seiner Konsistenz auf die Spur kommen. Einband, Leinenrücken, Fadenheftung - wie alles dies zusammen unter den Händen des Setzers, Druckers und Buchbinders den corpus Buch ergab, das war es, was mich faszinierte. Zwanzig Jahre später ging ich einen entscheidenden Schritt weiter, ging die Sache gewissermaßen von innen her an: Das, was Stefan Zweig einmal den "schöpferischen Moment" genannt hat, war es, was nun zunehmend mein Interesse auf sich zog: jene "geheimnisvolle Sekunde des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt". Und 'noch' mehr interessierte mich die 'Vorstufe' dieses Mysteriums: Wie kommt der Dichter zu seinem Rohstoff? Wie kommt er zu den Szenarien seiner Werke, zu den "Modellen" seiner Figuren? Welche persönlichen Erlebnisse sind es, die ihn zu seiner Fabel inspirieren? Das Geheimnis der Zeugung, die der Geburt vorausgeht - das war es, was mich fesselte. Und es war zugleich meine eigene Geburtsstunde als Schriftsteller: ich hatte mein Thema. Es ist mein Thema geblieben bis zum heutigen Tag. Zumindest zum Teil. (Dietmar Grieser: Alle Wege führen nach Wien. Abenteuer eines Literaturtouristen)


Grieser, Dietmar: Limitierung des Erfolges

  Frank Wedekind lehnte für seine Person nicht nur jedes öffentliche Auftreten ab, sondern setzte sogar der von ihm angepeilten Leserzahl ein strenges Limit: "Wenn ich ein Wort wüßte, das mein Buch vor dem Erfolg bewahrte", schrieb er in einer autobiographischen Studie, "nichts auf der Welt könnte mich hintern, es so heimlich wie möglich hineinzusetzen, unsichtbar, unauffindbar. Der Erfolg ist von sauer-süßen Geschmack, ist der Schrittmacher des Abstiegs. Von zehntausend Menschen möchte ich gelesen sein, nicht von mehr." (Dietmar Grieser: Alle Wege führen nach Wien. Abenteuer eines Literaturtouristen)


Grieser, Dietmar: Marsh's Library

  Ich peile stillere Vergnügungen an: 'Marsh's Library' hinter der Kathedrale von St. Patrick, 1701 errichtet und Irlands erste öffentliche Bibliothek, ist ein Geheimtipp für Büchernarren, die sich nicht sattsehen können an den drei Käfigen, in denen in alter Zeit die Benützer kostbarer Folianten hinter Schloß und Riegel gesperrt wurden, damit sie nicht etwa auf den Gedanken kämen, mit dem Objekt ihrer Studien durchzubrennen. (Dietmar Grieser: Alle Wege führen nach Wien. Abenteuer eines Literaturtouristen)


Grieser, Dietmar: Ausleihsperre

  An ein weiteres meiner "firsts" (wie die zu Nostalgie neigenden Amerikaner ihre Urerlebnisse zu nennen pflegen) habe ich keinerlei Erinnerung: das erste Buch. Was mag es gewesen sein? Ich weiß es nicht. Wohl aber entsinne ich mich eines Falles von einschneidender Beschränkung, deren Sinnhaftigkeit mir nicht in den Kopf wollte. In meinem Jahrgang war die Diphterie ausgebrochen, tagelang blieb die halbe Schulklasse dem Unterricht fern. Auch ich trug den Bazillus in mir, doch im Gegensatz zu den meisten anderen kam es bei mir nicht zum Ausbruch der Krankheit, und statt darüber froh zu sein, empfand ich meinen Kameraden gegenüber, die sich in Fieberkrämpfen wanden, Neid. Was mich aber vor allem wurmte, war die vom Gesundheitsamt verfügte Ausleihsperre in der Stadtbibliothek, zu deren eifrigsten Benutzern ich zählte. Wieso ließ man auch mich, der ich mich doch pudelwohl fühlte, nicht an die Bücherregale heran? (Dietmar Grieser: Alle Wege führen nach Wien. Abenteuer eines Literaturtouristen)


Grillparzer, Franz: In das Gutenberg-Album

  Du lichte, schwarze Kunst!
Ob Gutenbergs, ob Fausts,
War man mit Recht im Zweifel;
Denn halb stammst du von Gott,
Und halb mhat dich der Teufel.

 Doch laßt, wie sehr besorgt,
Vom Feind euch nicht erschrecken,
Gott hat ihm Macht geborgt,
Er dient nur Gottes Zwecken.

 Der Acker ist so weit,
Wer will ihn überblicken,
Die Sichel hält die Zeit,
Sie wird ihn schon beschicken.

 Und wenn auch Unkraut wächst,
So hütet euch vor Jäten,
Ihr könntet im Bemühn
Die gute Saat zertreten.


Grimmelshausen: Mit den Bildern reden

  Als ich das erstemal den Einsiedel in der Bibel lesen sahe, konnte ich mir nicht einbilden, mit wem er doch ein solch heimlich und meinem Bedünken nach sehr ernstlich Gespräch haben müßte. Ich sahe wohl die Bewegung seiner Lippen, hingegen aber niemand, der mit ihm redet, und ob ich zwar nichts vom Lesen und Schreiben gewußt, so merke ich doch an seinen Augen, daß er's mit etwas in selbigem Buch zu tun hatte. Ich gab Achtung auf das Buch, und nachdem er solches beigelegt, machte ich mich darhinter, schlug's auf und bekam im ersten Griff das ersten Kapitel des Hiobs und die davorstehende Figur, so ein feiner Holzschnitt und schön illuminiert war, in den Augen. Ich fragte dieselbige Bilder seltsame und meinem simplen Verstand nach ganz ungereimte Sachen. Weil mir aber keine Antwort widerfahren wollte, ward ich ungeduldig und sagte eben, als der Einsiedel hinter mich schlich: "Ihr kleine Hudler, habt ihr dann keine Mäuler mehr? habt ihr nicht allererst mit meinem Vater (dann also mußte ich den Einsiedel nennen) lang genug schwätzen können? Ich sehe wohl, daß ihr auch dem armen Knan seine Schaf heimtreibt und das Haus angezündet habt. Halt, halt, ich will dies Feuer noch wohl löschen." Damit stunde ich auf, Wasser zu holen, weil mich die Not vorhanden zu sein bedünkte. "Wohin, Simplici?" sagt der Einsiedel, den ich hinter mir nicht wußte. "Ei, Vater!" sagte ich, "da sind auch Krieger; die haben Schaf und wollen's wegtreiben; sie habens dem armen Mann genommen, mit dem du erst geredet hast. So brennet sein Haus auch schon liechterlohe; und wann ich nicht bald lösche, so wird's verbrennen." Mit diesem Worten zeigte ich ihm mit dem Finger, was ich sahe. "Bleib nur!" sagte der Einsiedel, "es ist noch keine Gefahr vorhanden." Ich antwortete meiner Höflichkeit nach: "Bist du dann blind? Wehre du, daß sie die Schaf nicht forttreiben, so will ich Wasser holen." - "Ei!" sagte der Einsiedel, "diese Bilder leben nicht, sie seind nur gemacht, uns vorlängst geschehene Dinge vor Augen zu stellen." Ich antwortet: "Du hast ja erst mit ihnen geredt; warum wollten sie dann nicht leben?" Der Einsiedel mußte wider seinen Willen und Gewohnheit lachen und sagte: "Liebes Kind, diese Bilder können nicht reden. Was aber ihr Tun und Wesen sei, kann ich aus diesen schwarzen Linien sehen, welches man lesen nennet, und wann ich dergestalt lese, so hältest du davor, ich rede mit den Bildern, so aber nichts ist." Ich antwortete: "Wann ich ein Mensch bin wie du, so müßte ich auch an denen schwarzen Zeilen können sehen, was du kannst. Wie soll ich mich in dein Gespräch richten? Lieber Vater, bericht mich doch eigentlich, wie ich mit diesen Bildern wirst reden können. Allein wird es Zeit brauchen, in welcher ich Geduld und du Fleiß anzulegen." Demnach schriebe er mir ein Alphabet auf birkene Rinden, nach dem Druck formiert; und als ich die Buchstaben kennete, lernete ich buchstabieren, folgends lesen und endlich besser schreiben, als es der Einsiedel selber konnte, weil ich alle dem Druck nachmalet. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 31ff.)


Groothuis, Rainer: Ein gutes Buch

  Ein gut gemachtes Buch ist ein in all seinen Bestandteilen durchkomponiertes Buch. Das fängt auf der ersten Seite an und hört erst beim Impressum auf. Ein schönes Buch ist ein organisches Buch, alle Teile entwickeln sich aus Inhalt und Funktion, nehmen aufeinander Bezug. Es ist von innen nach außen gestaltet. Der Leser muss Lust bekommen, mit dem Text auf die Reise zu gehen. Ein schönes Buch hilft den Gedanken des Autors bei ihrem Flug in den Kopf des Lesers - es dient, mit all seinen Bestandteilen, dem Verständnis des Textes, es schafft eine inhaltsbezogene Atmosphäre.


Großstadtneurotikerin: Ein Buch beenden

  Die Wahre Kunst des Lesens besteht daran, zu erkennen, dass ein Buch zu Ende geht. Es kommt dann drauf an wie man das Buch zuklappt. Ein Buch zu schliessen , heisst Abschied zu nehmen. Es gibt viele Arten wie man das tun kann. Nichts ist schwerer als etwas zu beenden. Das ist eine Kunst des Abbauens. Man muss einfach bereit sein sich zurückzuziehen. Ein enscheidenter Teil von diesem Kunststück liegt darin, abbrechen zu können , zu wissen, was man beenden muss, und wann und wie man es tun muß. Die Art und Weise, in der Du das Buch schließt, einen Schnitt machst, bestimmt, ob die Geschichte DENNOCH weitergehen wird. (Großstadtneurotikerin)


Groult, Benoite: Schreiben über Sex I

  Heutzutage, in einer Zeit der verbalen Inflation, wo sich die Wörter noch schneller abnutzen als die Kleider, bleiben uns nur noch die schweinischen Wörter oder die Wörter aus der Nuttensprache, die durch ständige Verwendung ihre Farbe verloren haben. (...) Und wenn die Rede auf die Organe kommt, die besagte Lust kanalisieren, dann warten auf den Schriftsteller, und mehr noch wahrscheinlich auf die Schriftstellerin, neue Klippen. (...) Wenn es sich um Sex handelt, verliert sogar die Anatomie ihre Unschuld, und die Wörter, diese verdammten Schurken, die ihr Leben unabhängig von uns führen, zwingen uns feststehende Bilder auf und verbieten einen unbefangenen Gebrauch. Sie gehören zum Medizinerlatein oder zum Schundvokabular, zum Pennälerjargon oder zur Gossensprache. Wenn sie überhaupt existieren. Denn das Vokabular der weiblichen Lust erweist sich, sogar bei den größten Autoren, als bestürzend armselig. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 12)


Groult, Benoite: Schreiben über Sex II

  Übrig bleibt die Aufgabe, den auf dieser Erde meistpraktizierten Akt als etwas Hinreißendes zu schildern. Denn wozu schreibt man, wenn nicht, um den Leser hinzureißen? Aber wie soll man jene Himmelshoffnung, die zwischen den Beinen der Männer und der Frauen aufleuchtet, einfangen? Wie das, was sich überall und immer schon zwischen gleichen oder verschiedenen, kümmerlichen oder großartigen Genitalien abspielt, als ein Wunder ausgeben? Ich verfüge über keinerlei Wissen, das andere nicht hätten, über keinerlei Worte, die andere nicht schon überstrapaziert haben. Es handelt sich keineswegs um eine Reise in unbekannte Gefilde: Es gibt kein unentdecktes Neuguinea der Liebe. Und letztlich gibt es nichts Banaleres als ein Möse, es sei denn zwei Mösen; und ein Phallus aus extrasamtiger Herrenhaut wird, wenn seine Zeit gekommen ost, genauso leergepumpt sein wie ein Schwanz der profansten Sorte. Die Vorsicht würde also dazu raten, die Sache gar nicht erst anzufangen, zumal zwischen den gefährlichen Klippen der Pornographie und des Groschenromans die ganz wenigen Meisterwerke aller Literaturen, die sich lachend über all diese Gefahren hinweggesetzt haben, in kühnem Glanz erstrahlen. Aber erst hinterher, im Falle eines Mißerfolgs, erscheint die Vorsicht als ein Tugend. Ist Literatur nicht immer unvorsichtig? (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 14f.)


Groult, Benoite: Mißerfolg

  Wir haben beide einen schwierigen Winter durchgemacht, Sydney und ich. Sein Roman hatte allen Mißerfolg, den er sich nur wünschen konnte. Aber es ist eine Sache, die von der Gesellschaft verstoßenen Autoren zu bewundern und diejenigen zu schätzen, die dem Erfolg nicht nachlaufen. Eine ganz andere ist es, die Gleichgültigkeit des Publikums und das ausbleibende Echo in den wichtigen Zeitungen und Zeitschriften selbst zu erleben. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 251)


Groult, Benoite: Noveau roman

  Zumal Sydney sich mit Hochgenuß in sein Lieblingsthema gestürzt hat, den französischen Nouveau roman, dem er lediglich vorwirft, sich überhaupt noch "Roman" zu nennen. Endlich befindet er sich an der Wiege dieses literarischen Genres, das seiner Meinung nach alle anderen überholt erscheinen läßt. Tief atmet er den Duft des Nouveau roman ein und entdeckt die Autoren als Personen, als fröhliche Kumpane oder langweilige Theoretiker wie du und ich, die kein besonderes Merkmal und keine spezielle Kleidung tragen. Ich habe den Verdacht, daß er enttäuscht ist. Aber er wird das ganze Jahr dem Buch widmen können, das er seit zwei Jahren plant. Es wird seiner Vorbilder würdig sein, denn er hat vor, ihm von vornherein jeglichen Funken Leben zu entziehen, der es mit einem romanhaften Werk in Verbindung zu bringen droht. Seit mehreren Jahren schon hatte er sich, dank der Rückendeckung, die ihm amerikanische Hochschulkollegen gewährten, in den gemütlichen Kokon der Verachtung für sogenannte Erfolgsliteratur zurückgezogen. Gnade fanden in seinen und in ihren Augen nur die Autoren, deren Verkaufszahlen verschwindend gering waren und die beim Lesen abgrundtiefe Langeweile hervorriefen; Höhepunkt war ein unlängst erschienener "strukturalistischer" Roman, dessen Held zur Sicherheit auch gleich "La Structure" hieß, und den Sydney nun als Vorbild wählt. Ich habe mich absolut willig an die Lektüre gemacht, aber je weiter ich las, desto mehr wurde es verbissener Wille, es durchzustehen. Das Wörtchen "Ende" erreichte ich nur dank einem allerletzten Aufbäumen dieser Durchhalteenergie. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 153f.)


Gstrein, Norbert: Rivalität

  Es war ein Fehler gewesen, ihn zum Wettlesen des Konsuls fahren zu lassen, wo die Wernicke, eine Bekannte von ihm, deren Bücher er ostentativ auf der Toilette stapelte, ohne sie auch nur anzublättern, die Auszeichnung abgeräumt hatte, den Mitteleuropäischen Literaturpreis, wie er nicht müde wurde zu wiederholen, und es war für mich kein Wunder, daß er bei seiner Ankunft augenblicklich wieder loslegte, mir ein weiteres Mal erklärte, sie habe ihm nach der Abstimmung, bei der er leer ausgegangen war, weil nicht einmal er selbst für sich gewesen sei, mit einem maliziösen Lächeln, gönnerhaft und von oben herab ihr Beileid bekundet... (Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten, S. 8)


Guardini, Romano: Wer das Buch liebt

  Wer das Buch liebt, nimmt das Ding, das so heißt, auf Papier gedruckt und in Leinwand oder Leder oder Pergament gebunden, mit dem Gefühl einer stillen Vertrautheit in die Hand. Er empfindet es wie ein Geschöpf, das man in Ehren hält und pflegt, und an dessen Leibhaftigkeit man sich freut. Es ist ihm nicht nur Mittel zu einem Zewck, und sei es der geistigste, sondern etwas, das in sich rund und voll ist, von vielerlei Bedeutungen gesättigt und fähig, reich zu spenden. Liebe zum Buch hat jener, der abends in seinem Zimmer sitzt, und es ist still geworden - vorausgesetzt freilich, daß es um ihn, den Glücklichen, dann wirklich still ist - und auf einmal sind ihm die Bücher im Zimmer wie lebendige Wesen. In seltsamer Weise lebendíg. Kleine Dinge, und doch erfüllt von Welt. Ohne Regung und Laut dastehend, und doch bereit, jeden Augenblick die Seiten zu öffnen und ein Zwiegespräch zu beginnen: stark oder zart, voll Freude oder Trauer, von Vergangenheit erzählend, in die Zukunft weisend oder Ewigkeit rufend, und um so weniger zu erschöpfen, je mehr der zu schöpfen vermag, der zu ihnen kommt.


Guedj, Denis: Einiges vom Buche

  Die Bücher erwecken die Toten nicht wieder zum Leben, machen einen Irren nicht zu einem vernünftigen Mann oder einen Dummkopf zu einem Gelehrten. Sie schärfen den Geist, rütteln ihn wach, verfeinern ihn und stillen seinen Wissensdurst. Will jemand alles wissen, sollte seine Familie sich seiner annehmen! Dieses Verlangen kann nur von irgendeinem seelischen Problem herrühren. Stumm, wenn du dir Ruhe von ihm erbittest, beredt, wenn du es sprechen läßt. Dank des Buchs, erfährst du innerhalb eines Monats, was du aus dem Mund eines Lehrers nicht in einer 'Ewigkeit' erfahren würdest. Es befreit dich, erspart dir den Umgang mit widerwärtigen Leuten und die Gesellschaft von dummen, verständnislosen Menschen. Es gehorcht dir bei Tag und in der Nacht, sowohl auf deinen Reisen als auch in den Zeiten, in denen du an einem Ort verweilst. Fällst du auch in Ungnade, das Buch weigert sich dennoch nicht, dir auch weiterhin zu dienen. Bläst dir auch der Wind ins Gesicht, so wendet sich das Buch nicht gegen dich. Manchmal kann es sogar sein, daß das Buch seinem Verfasser überlegen ist. (Denis Guedj: Das Theorem des Papageis)


Guggenmos, Josef: Rätsel Buch

  Ich nahm es, und ich trug es,
ich trug's zum Tisch und schlug es,
ich schlug es auf und las,
was ich herauslas, ließ
ich gerne noch für andre drin,
doch ist's in mir jetzt immerhin.


Gustafsson, Lars: In der Volksbibliothek

  Nur äußerst zögernd händigte ihm die Volksbibliothekarin, Frau Evenlyne Blörquist, das Buch aus. Die Bibliothek hatte es eigentlich deshalb eingekauft, weil der Übersetzer ein paar Jahre zuvor so großes Lob für seine Danteübersetzung bekommen hatte. Bernard seinerseits war überglücklich. Ein Blick auf drei, vier Gedichte hatte ihn davon überzeugt, daß er das Richtige gefunden hatte. Die Bibliothekarin indessen fand einige Dinge darin unpassend für einen Gedichtband. Keine soziale Gesinnung. Keine Friedenserziehung. Keine Einfühlung in das Problem der Behinderten. Kurz gesagt: eigentlich keine Literatur. Und was für ein absonderlicher Titel! Das Böse konnte doch schließlich keine Blumen haben! Andererseits hatte kein anderer Benutzer als dieser entschlossene Gnom je dieses Buch ausgeliehen, und es würde wohl auch keiner mehr tun. Hier hielt man sich meistens an Romanfolgen über das Leben im armen, unglücklichen Schweden des vorigen Jahrhunderts und dergleichen. (Lars Gustafsson: Die dritte Rochade des Bernard Foy, S. 359)


Gustafsson, Lars: Verrat und Mysterium

  Durch alle Ebenen, alle Grade der Öffentlichkeit in der Gesellschaft, von der tiefsten Intimität bis zur Eishockeyreportage, zieht sich eine Art Vieldeutigkeit. Die Dinge bedeuten das eine, aber zugleich auch etwas anderes. Wissen ist Macht in dem Sinne, daß jeder, der noch mehr Bedeutungen eines Wortes kennt als die übliche, noch mehr Bedeutungen einer Handlung als die übliche, dem anderen überlegen ist. Endlich beginnt ihr zu verstehen, woraus ich hinauswill. Die halbe Literatur basiert auf diesem Spiel. Der Romanautor öffnet dem schaudernden bürgerlichen Leser die Tür ein Spalt breit, läßt ihn mit erhöhtem Puls, keuchendem Atem und hochgezogenen Augenbrauen durchs Schlüsselloch gucken. Einer von den Burschen, die wirklich dabei waren, plaudert aus der Schule. Die Privatsphäre wird für einen Augenblick in die öffentliche Sphäre übertragen. Das Mysterium schaut hervor. Der Romanautor ist ein Verräter. Er verliert wie win Verräter ein bestimmtes Prestige, aber dafür gewinnt er natürlich sofort ein anderes, das des Schamanen, des Zauberers. Man beherrscht nämlich in der Eigenschaft als Schriftsteller/Verräter ein besonders geheimnisvolles Kunststück, einen magischen Akt: das Private öffentlich und das Öffentlich privat zu machen. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 24)


Gustafsson, Lars: Schleichend verdrängt

  Bücher verfolgten mich wie eine Pest. Ich unternehme nie etwas, um sie mir zu beschaffen. Wo ich mich auch befinde, wachsen sie um mich empor, wie Pilze auf einem bestimmten Boden wachsen. Dicke Folianten, dünne Pamphlete, Bände , in denen es von Notizzetteln wimmelt, folgen mir wie anhängliche Geschöpfe durchs Leben. In meinem Haus in Västeras gibt es nur in der Küche freie Wandflächen; in meinem Arbeitszimmer füllen sie Wände und Tische und die Bodenflächen, die man nicht unbedingt zum Gehen braucht: machtlos sehe ich den Augenblick näherrücken, wo meine Familie und ich von den Büchern hinausgedrängt werden und eine eigene Wohnung suchen müssen. (Lars Gustafsson: Herr Gustafsson persönlich, S. 38f.)


Gustafsson, Lars: Handschriften

  Den einen oder anderen Sommer reiste ich nach Schweden, aber öfter nach Schottland. Und nach Venedig, wo die Biblioteca Marciana eine Handschrift enthält, die noch keiner herausgegeben hat. Wenn die arme Menschheit eine Ahnung davon hätte, wie viele unveröffentlichte Handschriften es gibt! (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 51)


Gustafsson, Lars: Philosophie in der Literatur

  'Philosophie in der Literatur', ein ziemlich erfolgreicher Kurs, der eine Menge junger Leute anzog, die ein paar Grundkurse in Philosophie brauchten und glaubten, meiner müßte der leichteste sein. Da das Wort "Literatur" darin vorkam. (Lars Gustafsson: Der Dekan)


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