Die Lesesucht


2 Tim. 3, 16.17

Soll dein verderbtes Herz zur Heiligung genesen,
Christ, so versäume nicht, das Wort des Herrn zu lesen,
Bedenke, daß dies Wort das Heil der ganzen Welt,
Den Rath der Seligkeit, den Geist aus Gott enthält.

Um deines Herzens Muth, das Geistes Recht zu stärken,
Ersammle Weisheit dir aus weiser Männer Werken;
Die Hinterlassenschaft, der Schatz der Geisterwelt,
Die vor dir lebt', ist da als Erbtheil ausgestellt.

Jedoch mit Vorsicht nimm, und lies und prüf' und wähle,
Daß statt der Wahrheit nicht sich Jrrthum zu dir stehle;
Denn auch der Thorheit, auch den Lastern dient die Schrift,
Und beut, statt Honig, dir des Todes süßes Gift. (2 Tim. 3, 16.17.)


Wider die Lesesucht

Auch das Wachsen in Erkenntniß hat seine eigenthümlichen Gefahren, insofern man dasselbe durch Lesung von Büchern verschiedener Art befördern will und muß. Jn jenen Zeiten, als man noch keine andern Bücher hatte, als solche, welche von einzelnen Händen geschrieben und wieder mühsam abgeschrieben werden mußten, wagten es nur vorzügliche Männer, ihre Gedanken aufzuzeichnen, und durch die Schrift auszubreiten. Obgleich es auch schon damals nicht an ähnlichen Arbeiten schlechter, selbst schädlicher Art fehlte -- denn was ist Vortreffliches unter dem Monde, was nicht der Mensch durch Mißbrauch verdürbe! -- so konnten doch werthlose Arbeiten nicht hoffen, lange in der Nachkommenschaft fortzudauern, weil sie die Mühe nicht belohnten, durch Abschrift vervielfältigt zu werden.

Ein Anderes aber ist es in unsern Tagen, da durch einfache Druckwerkzeuge das schlechteste, wie das beste Werk mit wunderbarer Schnelligkeit vertausendfacht und in die Welt ausgestreut werden kann. Jetzt erhält und verbreitet sich das Schlechtere länger und mehr als ehemals, und nimmt an Zahl an gleicher Menge zu, wie es der mittelmäßigen Köpfe, der Halbgelehrten, der Leute mit unedeln Nebenabsichten überhaupt mehr gibt, als der ausgezeichneten, zum Lehramt wahrhaft geweihten Geister, denen es um nichts als das Gute zu thun ist. Daher rührt die zahllose Fluth schriftstellerischer Werke, welche das Gepräge der Elendigkeit offen tragen, und die Jrrthümer und Geistes- und Herzensschwächen ihrer Verfasser Andern mitzutheilen bestimmt sind. Daher erkennt man heutiges Tages so selten in den Büchern das Zeichen von dem, was sie ihres Daseins würdig macht -- Kraft, Wahrheit, Geisteshoheit, Fülle und Gründlichkeit der Erkenntniß, lebendiges Abspiegeln der äussern und innern Welt, jenen Strahl der Göttlichkeit, welcher in Lehre oder Dichtung allezeit zu neuer Vollkommenheit die Bahn erhellt oder das Gemüth entzückt. Nur wo dies der Fall ist, da ist das Göttliche der Ursprung des Werkes und wieder dessen Zweck. Und deswegen kann auch noch heute zum Theil gelten, als vortrefflicher Werke Kennzeichen, was Paulus davon seinem Freunde Timotheus schrieb: Alle Schrift von Gott eingegeben ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, damit ein Mensch Gottes dadurch vollkommen werde, zu allem guten Werke geschickt.

Das Uebel zu vergrößern, verstehen Wenige mit Auswahl, Verstand und Nutzen zu lesen. Sie ergreifen mit gleichem Sinne das Schlechte wie das Gute; lesen ohne Prüfung und legen das Buch hinweg, ohne zu fragen oder zu wissen, was sie durch die Mühe des Lesens für Geist und Herz gewonnen haben. Aber Tausenden ist das Lesen keine Mühe, sondern ein Spiel, ein Zeitvertreib, eine Schwelgerei, besonders wenn es auf bloßes Beschäftigen und Kitzeln ihrer Einbildungskraft, und auf durchaus nichts Höheres abgesehen ist. Wie Kinder alles Nützliche bei Seite setzen, um wunderbare Mährchen anzuhören, die ihnen durch Erweckung von mancherlei Gefühlen und Selbsttäuschungen ergötzlich sind: so wird aus gleichem kindischen Hang bei vielen Erwachsenen das Lesen zur Leidenschaft. Dieser Fehler, noch unbekannt in den Zeiten Jesu und seiner Jünger, ist heutiges Tages, zumal in größern und kleinern Städten, einer der gewöhnlichsten geworden, und ist die nur allzuselten öffentlich gescholtene Quelle des Sittenverderbens und des Mangels an Kraft und Religiosität.

Die Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man lieset, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern um zu lesen; man lieset das Wahre und das Falsche prüfungslos durch einander, ohne Wißbegier, sondern mit Neugier. Man lieset und vergißt. Man gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande.

Das bloße Lesen, ohne ernsten Willen, Belehrung oder Besserung zu gewinnen, ist wirklicher Müßiggang des Geistes. Denn der Geist, so lange er nur fremde Vorstellungen an sich vorübergleiten läßt, verhält sich leidend; und wenn er von diesen Vorstellungen keine zurückbehalten kann oder mag, wird ihm das Ganze so wenig werth, als ein Traum. Er hatte eine kostbare Zeit verschwendet. Die Zeitverschwendung aber ist nicht der einzige Schaden, welcher aus der Vielleserei entsteht. Es wird dadurch die geistige Ruhe und Unthätigkeit, die Begierde, Andere für sich denken zu lassen, zum Bedürfniß. Es wird das Müßiggehen zur Gewohnheit, und bewirkt, wie aller Müßiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte.

Doch diese Wirkung äussert sich bei Menschen von verschiedenen Anlagen auf verschiedene Weise. Diejenigen zum Beispiel, welche ein vortreffliches natürliches Gedächtniß besitzen, häufen durch ihre Leserei eine ungeheure Menge nützlicher und unnützer Kenntnisse in ihrem Gedächtnisse auf, aber auf Unkosten ihres eigenen Denkvermögens. Das Gelesene geht nicht in ihr ganzes Wesen über, sondern bleibt roh und todt, wie die Speisen im Magen des Vielfressers, dessen Gesundheit durch das Uebermaas der Nahrung weit mehr geschwächt, als genährt wird. Eine selbstgedachte Wahrheit ist mehr werth, als ein Tausend angehörter Wahrheiten, die segenlos im Gedächtnisse liegen bleiben, so wie ein durch eigenen Fleiß gewonnener und benutzter Pfenning größern Werth hat, als der Goldklumpen in des Geizigen Kasten.

Andere, denen die Natur eine reizbare Einbildungskraft verlieh, und deren ist die große Zahl, bilden dies Seelenvermögen vermittelst der Vielleserei zum Schaden übriger Gemüthskräfte ins Ungeheure und Mißgeburtartige aus. Sie gewöhnen sich, Alles nur auf die Unterhaltung ihrer Phantasie zu leiten. Was damit in keiner Verbindung steht, wird ihnen trocken, widerlich, lästig. Bald müssen ihnen gründliche und nützliche Kenntnisse, bei denen Gedächtniß, Urtheilskraft und Scharfsinn erforderlich sind, zum Ekel werden. Sie wollen nur, was ihre Einbildungskraft kitzelt, und halten dies für das Höchste und Edelste. Sie sammeln aus dem Gebiet menschlicher Erkenntniß nur das, was darauf Bezug hat; was sie nicht ermüdet; was ohne Anstrengung erworben werden kann und allenfalls noch ihre Neugierde sättigt. Dadurch entspringt die geckenhafte, hohle Vielwisserei, welche eben darum auch nur Halbwisserei ist, und glänzt und schimmert, ohne innern Werth zu haben. Dadurch wird die Neigung zum stolzen, voreiligen Absprechen genährt, welche das unfehlbare Kennzeichen einer blöden Urtheilskraft und sich selbst genügender Unwissenheit bleibt. Dadurch entsteht jene Abneigung gegen nützliche, ernste Arbeiten und Beschäftigungen, zu welchen ein ganz anderer Aufwand von Kräften, als ein spielender Witz, als ein träumendes Dichtungsvermögen, erfordert wird. Aber diese Kräfte mangeln den Unglücklichen; denn im Geistesmüßiggang des Viellesens blieben sie ungeübt und erschlafften. Personen dieser Art beurkunden nur zu bald überall ihre Unbrauchbarkeit zu den Gewerben des Lebens, und jammern, wenn man sie verkennt, während sie eben deswegen nicht das Maas der ihnen wünschenswerthen Achtung empfangen, weil man sie gut kennt.

Wie viele leben, verdorben durch den Fehler der Lesesucht, welche für ihren nachmaligen Stand und Beruf nicht passen; Männer, die, ohne Würdigkeit und Kraft zum Bessern, sich immerdar aus ihrem ihnen zu klein scheinenden Wirkungskreise hinwegsehnen; Weiber, die in den Freuden und Leiden und Sorgen des ehelichen Standes und bürgerlichen häuslichen Alltagslebens keine Genugthuung überspannter Erwartungen, keine Nahrung ihrer Einbildungskraft und Empfindelei finden, und Alles, aber nicht das gelernt haben, was zu richtiger Beurtheilung ihrer Lage, zur wirthschaftlichen Hausfrau, zur treuen Pflege des Gatten, zur weisen Leitung des Gesindes, zur zweckmäßigen Behandlung der Kinder gehört. Die wenigsten von den Schriftstellern unserer Zeit, welche sich damit abgeben, durch ihre Werke einer wohlgeordneten Einbildungskraft Vergnügen zu bringen, haben hinlängliche Erfahrung, hinlängliche Kenntniß der Lebensverhältnisse und des menschlichen Herzens. Da die meisten derselben sich selbst durch Vielleserei verdorben und nur ihre Phantasie zu Träumereien geübt haben, geben sie der Welt in ihren Büchern nur die traurigen Früchte ihrer erhitzten Einbildungskraft und ihres verwahrloseten Verstandes. Sie stellen nicht dar, was ist und sein soll, denn sie kennen es ja nicht! sondern liefern ein Gespinnst von Träumen, denen Natürlichkeit und ein höherer Zweck fehlen. Sie suchen durch Neuheit ihrer Bilder zu gefallen, und wählen abentheuerliche Engel und Teufel, aber nicht die Macht des menschlichen Gemüthes. Sie geben nur wieder, was sie durch Vielleserei eingesogen haben.

Man nimmt von der Welt, mit der man am häufigsten umgeht, Denkart und Stimmung an. So darf es uns nicht wundern, wenn diejenigen einen Ekel am bürgerlichen Leben und dessen Verhältnissen empfinden, die, mit verwöhnter Einbildungskraft und überreizter Empfindsamkeit, darin weder den Wechsel und die Wunderbarkeit der Zufälle, noch die Gestalten ihrer Träumereien wiederfinden; wenn sie sich überall gern selbst zu täuschen suchen, und über Elend jammern, sobald der Ernst der kalten Wirklichkeit ihre Trugbilder zerstört. O wie unendlich viel des häuslichen Unglücks strömt aus diesen Quellen! Den verderblichsten Einfluß hat die Lesesucht auf die Jugend, theils weil in derselben das unerfahrne Herz am empfänglichsten für Eindrücke jeder Art, theils weil die Einbildungskraft ohnehin das Thätigste ihrer Seelenvermögen ist. Wirft dann ein unglücklicher Umstand, Schlechtigkeit der Bücherausleiher oder Verkäufer, Nachlässigkeit der Erzieher, Unachtsamkeit der Aeltern, ein auf Sittenverderbniß berechnetes Buch, das Machwerk eines geilen Wollüstlings, in ihre Hand; wird ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechers vertraut gemacht -- wer rettet dann das schirmlose Herz vor der vergifteten Phantasie? Seht da die geheimen, nur selten mit verdientem Fluch genannten Ursachen der Altklugheit und frühen Reife der Jugend, ihre Erfahrenheit in den Lastern der Wollüstlinge, ihrer innersten Ruchlosigkeit bei äusserer scheinbarer Sittigkeit! Sehet da die Ursachen ihres frühern Hinwelkens, ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden! Was der Mütter treue Liebe, was des Vaters fromme Sorge, was des Lehrers warmer Eifer Jahre lang baute, reißt oft der Fluch eines einzigen verbrecherischen Buches in einer Stunde nieder.

Und mag auch der Jüngling und das Mädchen glücklich genug sein, die Unschuld des Gemüthes zu bewahren in allen Gefahren, welche die Lesesucht herbeiführt; wer mag verhüten, daß die Vielleserei, was sie selbst bei Erwachsenen und Bejahrten leicht verursacht, nicht auch hier bewirkt? -- Viel- und Halbwissen, Kenntniß ohne Gründlichkeit; daher dann Mangel der Ueberzeugung, Ergreifen des Scheins für die Wahrheit, Zweifelsucht, Unglauben und inneres, stilles, trostloses Vergehen! Doch, wie könnte ich die mannigfaltigen Nachtheile, Fehler, Schwächen und Laster alle nennen, welche in der Lesesucht theil ihren Ursprung, theils ihre Hauptnahrung finden! Und wenn auch Tausende durch eintretende Umstände vor dieser Leidenschaft verwahrt, Andere wieder von ihr entwöhnt werden; wenn auch Tausende nicht von den schädlichen Wirkungen derselben leiden: kann man sich es bergen, daß auch Tausende darin ihr lebenslängliches inneres und äusseres Unglück finden?

Wie dem helfen? -- Zwar Obrigkeiten vermögen viel, wenn sie mit Ernst der Verbreitung offenbar sittenverderblicher Werke wehren -- doch ihrem Scharfblick werden noch zahllose, Geschmack, Geist und Herz verderbende Schriften entschlüpfen. Zwar Aeltern und Erzieher vermögen viel, wenn sie auf die Lesereien der Jugend nicht minder wachsames Auge halten, als auf deren Gespielen. Böse Gesellschaften verderben gute Sitten; aber die gefährlichste Gesellschaft ist ein Buch, welches den Vorstellungen und der Fassungskraft des Lesers nicht angemessen ist, oder den Jrrthum seines Verfassers einschmeichelt, oder die Grundsätze der Rechtlichkeit, Sittsamkeit, Keuschheit und eines religiösen Glaubens untergräbt. Zwar Erzieher und Aeltern vermögen viel, wenn sie Herz und Verstand der Jhrigen zweckmäßig ausbilden, und die Tugend derselben durch Religiosität schirmen, also, daß natürlicher Abscheu gegen alles Unedle und Gemeine entsteht; oder wenn sie ihnen für die Bedürfnisse ihres Alters und ihrer Verhältnisse die vortrefflichsten Schriften zuerst zu lesen geben, damit sie nachher desto lebhaftern Ekel gegen das Schlechtere empfinden, sobald sie es erblicken. Doch dies alles sind schwache Hilfsmittel, wenn nicht in demjenigen, welcher den Gefahren der Lesesucht entzogen werden soll, ein heiliger, fester Wille steht, ihnen wirklich zu entrinnen. Wer ist fähig, den zu hüten, der freiwillig verloren sein will?

Bist du von den Gefahren der Lesesucht, oder wenigstens von ihrem Nachtheil für Geist und Herz überzeugt: so ermanne dich zu dem unverbrüchlichen Entschlusse, dich fortan des Viellesens zu enthalten. -- Darum waren unsere Alten kräftiger; sie lassen [!] weniger, handelten mehr; dachten lieber selbst, als daß sie sich von andern, oft sehr seichten Köpfen vordenken liessen. Lies nicht viel; aber auch nicht vielerlei durch einander. Allzugroße Mannigfaltigkeit, statt zu erquicken, verwirrt den Blick des Geistes. Der Eindruck des einen Gegenstandes löscht den Eindruck des vorhergegangenen aus. Wähle dir das, was deinen Verhältnissen am nützlichsten sein kann, oder deiner Bestimmung im bürgerlichen Leben wohlthätig werden kann. Hierauf wende deine ganze Aufmerksamkeit, ohne dich mit andern Lesereien über fremdartige Dinge zu zerstreuen. Suche einen Freund, einen Rathgeber, welcher die hinlängliche Kenntniß besserer Schriften über den erwählten Gegenstand besitzt, und diesen bitte um Leitung.

Lies nicht viel; aber das Wenige mit Ernst, mit Nachdenken und Ueberlegung, bis es dir deutlich, und eben damit in deinem Gedächtnisse bleibender geworden ist. Lege die Schrift oft hin, und erwäge, was sie lehrte. Prüfe ihre Gründe. Ruhe nicht, bis du zu fester Ueberzeugung und Kenntniß gelangt bist von dem, was in dem Gelesenen wahr, nützlich oder schön sei. Davon erforsche die Ursachen in dir selbst. Lies nicht viel, am seltensten aber zu deinem bloßen Vergnügen. Das reinste Vergnügen empfindet man immer da, wo man sich beim Lesen unterrichteter, gebesserter fühlt, und wo das, was unser Geist aus fremden Quellen schöpfte, wohlthätig in unser Leben übergeht. Darum soll man selbst die Menge der Dichter, die Schöpfungen einer schönen Einbildungskraft, nicht bloß der vorübergehenden Lust willen lesen, welche die Kunst durch Erregung unsers Gemüths erweckt: sondern um sich durch sie zu veredeln und die Tiefen des menschlichen Herzens, dessen Hoheit, dessen Schwächen kennen zu lernen. -- doch ist es eben bei Werken dieser Art, wo wir die vorzüglichste Sorgfalt anwenden müssen, nicht in das Schlechtere zu verirren, während wir dem Höhern nachstreben wollen. Das Mittelmäßige, wenn du dich dessen gewöhnst, stumpft zuletzt deinen Sinn für das Vortrefflichere ab; verdirbt den Geschmack. Das Geistreichere wendet hingegen seine Zauber auf unwürdige Gegenstände an; macht sich es zur schwächlichen Aufgabe, niedrige Leidenschaften zu reizen oder zu adeln, und das Laster zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder doch zu schmücken. Nur zu oft lauern unter solchen Rosen, die dich locken, Schlangen. Daher lies lieber keine solcher für das Vergnügen der Einbildungskraft berechneter Schriften, es sei denn, daß dir ein treuer, erfahrner, tugendhafter Freund die Lesung derselben empfohlen hat.

Christum und seine Weisheit lieb haben, ist besser denn alles Wissen. Was würde mir alle Bildung meines Geschmacks frommen, wenn darüber die Reinheit meines Herzens verloren ginge; was alle Kenntniß der Welt und ihrer Dinge, wenn sie die Erkenntniß meiner höhern Pflichten und der göttlichsten Dinge verdunkelte? Nur immer dahin soll mich das Lesen heiliger und weltlicher Schriften leiten, daß ich vollkommen werde in meinem zu Ewigkeit auserkohrnen Geiste, und mich Dir, o Geist der Geister, Dir, o Allweiser, nähere! Reinige du mein Urtheil und meinen Willen, daß ich die Gefahren vermeide, welche denen oft begegnen, die auf jenem schlüpfrigen Pfade Licht und Vollendung suchen. Amen.


[Heinrich Zschokke]: Die Lesesucht. In: Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung. Fünfter Band. Andachtsbuch für die Jugend. Sechste verbesserte Original-Ausgabe. Aarau: Heinrich Remigius Sauerländer, 1821, S. 130-139.


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