Habent Sua Fata Libellivon Johannes Willms Der Entwurf zur Archäologie der Buchleidenschaft ließe sich bis in die unmittelbare Gegenwart fortführen. Denn solange es Bücher gibt, wird es Sammler geben, die von der Leidenschaft für das Buch gepackt werden. Und doch würde eine Fortsetzung dieses Entwurfs bis auf den heutigen Tag wenig Neues bringen, denn der Vorrat an Formen und Inhalten, in denen sich die Leidenschaft für das Buch äußert, ist, so groß er auch scheinen man, letztlich begrenzt. Die Bibliophilie des 20. Jahrhunderts erntet auf einem Feld, daß von den Liebhabern des Buchs im 19. Jahrhundert bestellt worden ist. Diese leisteten die ungeheure Arebit, die Buchschätze vergangener Zeiten zu heben, zu sammeln, zu klassifizieren und zu bewerten. Das alte Buch, dem sich seit dem 19. Jahrhundert die Buchleidenschaft mit immer größer werdeneder Ausschließlichkeit zuwandte, während gleichzeitig dem neuen Buch lediglich ein Gebrauchswert zugestanden wurde, ist weitgehend erforscht. Das, was vor 1800 im Druck erschien,ist längst keine terra incognita mehr, ist in den zahlreichen bibliographischen Repertorien in allen Einzelheiten und Varianten verzeichnet und präzise geschildert. Diese genauen Kenntnisse über das alte Buch finden noch weitaus stärker, als die zu Breitkopfs Tagen der Fall war, ihren Niederschlag in den Preisen, die auf Buchauktionen und im Antiquariatshandel gezahlt werden müssen. Diese horrenden Preise haben spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer Entwicklung geführt, die einen nur schaudern machen kann: alte Bücher werden als Kapitalanlage empfohlen, als Objekte sicherer Spekulationsgewinne gepriesen. Anlageberater verweisen immer wieder darauf, daß einzig die gewaltigen Wert- und Preissteigerungen für alte Bücher seit Kriegsende weltweit konstant geblieben seien und daß aller Voraussicht nach die Preise im Antiquariatshandel auch weiterhin kontinuierlich steigen werden, während auf allen übrigen Sektoren des Antiquitätenhandels immer wieder beträchtliche Einbrüche und Preisstürze zu verzeichnen gewesen seien. Im großen und ganzen ist diese Darstellung der Dinge zutreffend, denn die Buchleidenschaft scheint insgesamt weitaus weniger den Schwankungen der Mode unterworfen zu sein als dies bei anderen "Antiquitäten" der Fall war. Gleichwohl ist aber auch das alte Buch als Spekulationsobjekt wenig geeignet. So haben sich beispielsweise die bis vor nicht allzulanger Zeit gezahlten hohen Preise für frühe Schriften der Reformation oder auch für Original- oder Erstausgaben der deutschen Barockliteratur bis auf wenige Ausnahmen nicht halten lassen. Dagegen erfreuen sich alte Atlanten, illustrierte Tafelwerke und das frühe Schrifttum zu Sozialismus und Nationalökonomie steigender Nachfrage, die auch, wie es noch jetzt, jedenfalls den Anschein hat, durch die enormen Summen, die für diese Objekte verlangt werden, nicht so bald gedämpft werden wird. Spekulation und Leidenschaft haben im übrigen nichts miteinander gemein. Wer Bücher als eine Kapitalanlage betrachtet, kann nicht als Bibliophiler gelten, denn er handelt da mit Überlegung und Kalkül, wo der Bibliophile, der Bibliomane allein seiner Leidenschaft folgt. Eine Leidenschaft kann sich aber auch nur dann behaupten, wenn ihr die Hoffnung auf Erfüllung nicht völlig genommen wird. Diese Hoffnung aber wird für die, die von der Buchleidenschaft auch heute noch gepackt werden, angesichts der Preise, die im Antiquariatsbuchhandel gefordert werden und die die wenigsten noch bezahlen können, immer geringer. Private Bibliotheken, von denen es sich noch sagen ließe, daß in ihnen die Leidenschaft ihrer Sammler sich erfüllte, können heute nicht mehr aufgebaut werden, es sei denn, der Sammler legte seiner Leidenschaft von vornherein Zügel weiser Bescheidenheit an, ein Unterfangen, das aber die Leidenschaft selbst in Frage stellt. Büchersammlungen des 20. Jahrhunderts wie die bedeutende Barockbibliothek Curt Faber du Faurs, die Bibliothek Hans Fürstenbergs, der neben einer vollständigen Kollektion der illustrierten französischen Bücher des dix-huitieme vor allem eine Bibliothek von kostbar gebundenen Büchern, die wohl hresgleichen sucht, zusammengebracht hat, oder jene Sammlung, die den von Goethe geprägten Begriff der Weltliteratur mit Erfolg materiell in einer "Bibliothek der Weltliteratur" einzulösen trachtete und dies nur in vorzüglichen Erst- und Originalausgaben jener einzelnen Werke aller Sprachen, Epochen und Kulturen, die dem Kanon der Weltliteratur zugerechnet werden können, kurz jene Bibliothek also, welche die Lebensarbeit des Schweizers Martin Bodmer darstellt, - all diese Privatbibliotheken, die sich an Reichtum und Glanz noch mit jenen viel zahlreicheren des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichen ließen, entstanden in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Wollte man heute eine Sammlung beginnen, die sich die Erfüllung eines Ideals, wie es jede der drei genannten Bibliotheken in je unterschiedlicher Weise verkörpert, zum Ziele setzte, man würde es, selbst wenn man immense Mittel aufwenden könnte, kaum erreichen. Denn nicht allein die horrenden und immer weiter steigenden Preise, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und in den USA für alte Bücher gezahlt werden müssen, lassen die Aussichten auf eine solche ideale Erfüllung der Buchleidenschaft heute immer illusionärer erscheinen, sondern vor allem auch die mit diesen steigenden Preisen in einem ursächlichen Zusamenhang stehende Tatsache, eines qualitativ wie quantitativ immer geringer werdenden Angebots an alten Büchern. Denn gelangten im 18. und 19. Jahrhundert die Masse der Privatbibliotheken immer wieder auf den Markt und stärkten so den Kreislauf des Altbuchhandels durch scheinbar nie versiegende Infusionen, so trat hier im 20. Jahrhundert ein erheblicher Wandel ein.Immer mehr bedeutende Privatbibliotheken sind seither direkt in den Besitz öffentlicher Einrichtungen übergegangen. Insbesonders die Bibliotheken nordamerikanischer Universitäten profitierten von dieser Entwicklung. Auch von den drei genannten bedeutenden Privatbibliotheken ist keine wieder auf den Markt gelangt. Die sammlung Faber du Faurs ist heute in die Bibliothek der Yale-Universität inkorporiert, ein bedeutender Teil der Sammlung Fürstenberg, die Kollektion illustrierter französischer Bücher des dix-huitieme wurde vom Sammler der Bibliotheque Nationale geschenkt, und Bodmers "Bibliothek der Weltliteratur" ist in eine eigens zu deren Erhaltung gegründete Stiftung eingebracht worden. Die Versteigerung bedeutender Bibliotheken, wie die der Sammlung Salman-Schocken durch das Hamburger Auktionshaus Hauswedell oder die Bibliothek des Büchernarren Karl Wolfskehl durch das gleiche Auktionshaus im Jahre 1976 gelten als Höhepunkte des Buchauktionswesens seit Kriegsende in Deutschland. Und doch können diese Bibliotheken, so reich sie auch gewesen sind, sich in keiner Weise mit dem Reichtum jener zahlreichen Privatbibliotheken vergleichen lassen, die im 19. Jahrhundert und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in Frankreich, England und auch in Deutschland unter den Hammer kamen. Die qualitative wie absolute Verringerung des Angebots an alten Büchern bei dem gleichzeitig zu beobachtenden Steigen ihrer Preise wird durch eine Entwicklung ergänzt, die im 19. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Seither nämlich ist das häßliche, das in jeder Hinsicht ästhetisch unbefriedigende Buch, das "Gebrauchsbuch" im Vormarsch. Die bewegte Klage des Romantikers Charles Nodier über den "schwarzbeschmierten Plunder", wie er die Buchproduktion seiner Zeit pauschal abtat, wäre heute um einiges zutreffender. Denn zumindest jene bekannten yellow-backs der Tauchnitz-Ausgaben beispielsweise, die Werke der Weltliteratur in englischer Übersetzung brachten und die den auf dem Kontinent reisenden Engländern des viktorianischen Zeitalters von Deauville bis Zermatt ein vertrautes Angebot der Bahnhofsbuchhandlungen, oder jene uns, unseren Eltern, Großeltern oder gar Urgroßeltern seit Schultagen so vertrauten Reclam-Heftchen, die für viele eine erste Begegnung mit der Literatur vermittelten, sie beiden waren von dem in mancher Hinsicht viel praktischer denkenden 19. Jahrhundert eben nur für ganz bestimmte Zwecke entwickelt worden: Sie dienten als Reise- oder Schullektüre, zu Gelegenheiten mithin, bei denen Bücher besonderen Beanspruchungen ausgesetzt sind, für die deshalb jeder Aufwand in ihrer Ausstattung unnötige und in jedem Fall unzweckmäßige Vergeudung gewesen wäre und die in aller Regel nach einmaliger Lektüre ihren Zwecken auch vollauf Genüge geleistet hatten. Jene ehrwürdigen yellow-backs und Reclam-Heftchen sind die Vorfahren der heute immer höher steigenden Flut von Paperbacks, von nicht gebundenen, sondern einfach geklebten Taschenbüchern in uniformen Formaten und geistloser Typografie. Zweifellos gehören auch Taschenbücher definitorisch zur Gattung Buch. Aber was sind das für Bücher, auf deren Lebensdauer, auf deren Äußeres bei ihrer Herstellung so wenig Wert gelegt wird? Taschenbücher gehören unstreitig zu jenen Erzeugnissen, die zum sofortigen Verzehr bestimmt sind: die Seite, die man in ihnen gelesen hat, reißt man, wie ich unlängst Gelegenheit hatte es zu beobachten, einfach raus und wirft sie weg. Der Leser, bei dem ich dies sah, war vielleicht nicht zufällig ein Amerikaner, dessen Pragmatik des ex und hopp offentsichtlich von keinem Vorbehalt eines konservativen Verhältnisses zum Buch angekränkelt war, ein Vorbehalt, der ja auch, man muß dies zugeben, spätestens beim modernen Taschenbuch, selbst wenn es als schön oder bibliophil angepriesen wird, völlig unwahr geworden ist. Das Taschenbuch hat zwei Vorteile, die es unschlagbar machen: Es läßt sich sehr schnell und äußerst preiswert produzieren. Diese beiden Vorteile allein reichen aber nicht hin, seinen ungeheuren Erfolg zu erklären. Dieser ist vielmehr in einem grundsätzlichen Wandel des Buchverständndisses und der Buchbenutzung begründet. Das Buch kann spätestens seit den im 19. Jahrhundert mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht erfolgreich abgeschlossenen Alphabetisierungsanstrengungen als das erste Massenkommunikationsmittel gelten. Seither sind andere Massenkommunikationsmittel wie Rundfunk und Fernsehen, um von dem Aufschwung, den das ältere Zeitung- und Zeitschriftenwesen in unseren Tagen nahm, einmal zu schweigen, hinzugekommen. Vor allem der, verglichen mit dem Fernsehen, technisch wesentlich einfachere Rundfunk, verbreitete sich wie keine andere Erfindung vor ihm innerhalb kürzester Zeit über den ganzen Erdball. Die Auswirkungen dieser neuen elektronischen Massenkommunikationsmittel auf das Buchverständnis und die Buchnutzung wurden und werden in jenen Ländern, deren Kultur traditionell vom Buch bestimmt ist, nur erst sehr langsam deutlich. Ganz anders sieht es dagegen in den Ländern der Dritten Welt aus, in denen insbesondere der Rundfunk das Buch aus seiner klassischen Domäne eines Unterrichtsmediums weitgehend verdrängt hat, während in den hochzivilisierten, klassischen Buchländern das für Unterrichtszwecke wesentlich besser als der Rundfunk geeignete Medium Fernsehen bislang nur sehr zaghaft als Unterrichtsmedium genutzt wird, das Buch jedenfalls hier noch dominiert. Auch auf dem anderen, seit seinem Bestehen wichtigesten Gebiet, dem der Wissensspeicherung, hat das Buch seine traditionellen Bedeutung aucn in den hochtechnisierten Ländern einigermaßen behaupten können. Noch immer erweist sich die über 500 Jahre alte Technologie des Buchdrucks als der zweckmäßigste Weg, um Informationen zu speichern und diese möglichst vielen, möglichst einfach, möglichst preiswert und schnell überall und zu jeder zeit zugänglich zu machen. Das gedruckte Buch wird mit Sicherheit in zukunft durch Datengroßspeicher, durch Informationsbanken und Computerbatterien, die von jedermann über ein häusliches Datensichtgerät genutzt werden können und die die gewünschten Informationen in Bruchteilen von Sekunden zur Verfügung stellen, ergänzt werden. Verschwinden darf und wird es deshalb aber nicht. Denn das gedruckte Buch wird allen elektronischen Groß-Speichern stets in einem entscheidenden Punkt überlegen bleiben: die Gedanken, Ideen und Entdeckungen, deren Träger das gedruckte Buch war, ließen sich nie völlig unterdrücken, ließen sich nie mehr aus dem Gedächtnis der Menschen austilgen, wie viele Bücher auch wegen ihrer Inhalte im Laufe der Geschichte von den Mächtigen verboten, verbrannt, vom Henker zerrissen, eingestampft, zensiert oder sonstwie vernichtet oder geschädigt wirden sind. Das gedruckte Buch und die ihm anvertrauten Inhalte erwiesen sich doch stets stärker als alle Verfolgungen, denen sie ausgesetzt, als alle Kontrollen, denen sie unterworfen waren. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde der Idee der menschlichen Freiheit, der Freiheit des Forschens, Fragens, Suchens, Meinens, Denkens, Erkennens und Wollens, ja der Freiheit als eines erfüllbaren und erstrebensweren Ideals überhaupt der Weg bereitet. Solange diese Idee der Freiheit nichts von ihrer Strahlkraft verliert, wird es das Medium, das Massenkommunikationsmittel des Buches geben. Nicht augeschlossen ist, daß eine künftige Leidenschaft des Buchs eben darin ihren Gegenstand finden wird. Und dies, so scheint mir, wäre nicht der schlechteste Gegenstand, dem sich Leidenschaft zuwenden kann. Quelle: Johannes Willms: Bücherfreunde. Büchernarren. Entwurf zur Archäologie einer Leidenschaft. Wiesbaden: Otto Harrasowitz, 1978 |