Heimliche Lektürevon Christop Martin Wieland Zum Unglück für seine Vernunft befanden sich unter den Büchern, womit eine große Kammer des Hauses angefüllt war, eine Menge Feenmärchen, wovon Don Pedro ein großer Liebhaber gewesen war, ob er gleich von seiner weisen Schwester wegen seines Geschmacks an solchen unnützen Possen, wie sie es nannte, nicht selten angefochten wurde. Denn in so großem Ansehen die Ritterbücher bey ihr standen, welche sie mit den Kroniken, Historien und Reisebeschreibungen in Eine Klasse setzte, so verächtlich waren ihr all diese kleinen Spiele des Witzes, die bloß zur Unterhaltung der Kinder oder zum Zeitvertreib der Erwachsenen geschrieben werden, und meistens durch nichts als die angenehme Art der Erzählung Personen von Geschmack sich empfehlen können. Don Pedro gestand ihr willig ein, daß es Schäckereyen seyen: aber sie vertreiben mir, sagte er, doch manche langweilige Stunde; je schnakischer die Einfälle sind, die der närrische Kerl, der Autor, auf die Bahn bringt, desto mehr lach' ich, und das ist alles was ich dabey suche. Die weise Donna Mencia - welche, wie alle wunderliche Leute, nur ihre eigenen Grillen vernünftig fand - ließ sich zwar durch diese Antwort nicht befriedigen; allein die Arabischen und Persischen Erzählungen, die Novellen und die Feenmärchen bleiben nichts desto weniger in ruhigem Besitz ihres Platzes in der Bibliothek; und das sie meistens nur in blaues Papier geheftet waren, so verbargen sie sich so bescheiden hinter die erhwürdigen Folianten und Quartbände der Donna Mencia, daß sie nach dem Tode des alten Ritters in kurzem gänzlich vergessen wurden. Doch vermutlich wollte die Fee, die sich in das Schicksal des jungen Sylvio mischte, nicht zugeben, daß er seine Bestimmung verfehlen sollte. Denn da er einst in Abwesenheit seiner Tante, deren Ernsthaftigkeit und ewige Sittenlehren ihm sehr beschwerlich zu werden anfingen, in der Bücherkammer herumstöberte, um sich etwas zur Zeitverkürzung auszusuchen; so geriet er, es sey nun von ungefähr oder durch den geheimen Antrieb der besagten Fee, auf ein starkes Heft von Feenmärchen. Er steckte es voller Freude zu sich, und zog sich so geschwind er konnte in den Garten zurück, um den Werth seines Funds ungestört erkundigen zu können, denn es schwante ihm schon beym Anblick der Titel, daß es sehr angenehme Sachen seyn müßten. Die Kürze dieser Erzählungen war das erste, wodurch sie ihm gefielen, so sehr war er dicken Folianten müde, woraus er seiner Tante täglich etliche Stunden lang vorlesen mußte. So bald er aber eine oder zwey davon durchgelesen hatte, war nichts dem Vergnügen zu vergleichen, das er dabei empfand, und die Gierigkeit, womit der alle die übrigen verschlang. Ein gewisser Instinkt, der auch die einfältigsten unter den jungen Leuten lehrt, was sie ihren Aufsehern sagen dürfen oder nicht, warnte ihn, seine liebe Tante nichts von der gemachten Entdeckung merken zu lassen. Allein der Zwang, den er sich hierüber antun mußte, machte ihm die Feen nur desto lieber: und er würde die ganze Nacht durch gelesen haben, wenn man (wie Tasso ehemahls in seiner Gefangenschaft wünscht) bey den Augen einer Katze lesen könnte. Denn die Vorsicht der Donna Mencia für seine Gesundheit - und für die Ersparung der Kerzen hatte ihm, schon von langem her, die Mittel zu gelehrten Nachtwachen benommen. Dafür aber war er, so bald der Tag anbrach, schon wieder munter, er nahm sein Heft unter seinem Hauptkissen hervor, durchlas mit fliegenden Blicken ein Märchen nach dem andern, und wie er mit der ganzen Sammlung fertig war, fing er wieder von vorn an, ohne es müde zu werdeb. So oft er konnte, begab er sich in den Garten oder in den angrenzenden Wald, und nahm seine Märchen mit. Die Lebhaftigkeit, womit seine Einbildungskraft sich derselben bemächtigte, war außerordentlich: er las nicht, er sah, er hörte, er fühlte. Eine schönere und wundervollere Natur, als die er bisher gekannt hatte, schien sich vor ihm aufzuthun, und die Vermischung des Wunderbaren mit der Einfalt der Natur, welche der Karakter der meisten Spielwerke von dieser Gattung ist, wurde für ihn ein untrügliches Kennzeichen ihrer Wahrheit. Dieser Punkt fand desto weniger Schwierigkeit bey ihm, da er durch seine bisherige Lebensart vollkommen dazu vorbereitet war. Denn seit dem Anfang seiner Studien, der mit Ovids Verwandlungen gemacht wurde, war ihm bisher kein einziges Buch in die Hand gekommen, das ihm richtigere Begriffe hätte geben können. Im Gegentheil hatten verschiedene Schriftsteller aus den zeiten, da die Pythagorisch-kabalistische Filosofie durch ganz Europa in Ansehen stand, durch ihre systematischen Träumereyen von planetarischen und elementarischen Geistern, von Beschwörungen, geheimnißvollen Zahlen und Talismanen, und von jener vorgeblichen Weisheit, die ihren Besitzer zum Meister der ganzen Natur machen könne, ihm so sehr in seinen Einbildungen befestiget, daß selbst die wundervolle Haselnuß der Prinzessin Babiole, und das Stück Leinewand von vierhundert Ellen, welches der Liebhaber der weißen Katze aus einem Hirsenkörnlein auspackte, und sechsmal durch das feinste Nadelöhr zog, in seinen Augen nichts unbegreifliches hatten. Es hinderte ihn also nichts, sich dem Vergnügen gänzlich zu überlassen, welches er aus den Feenmährchen schöpfte, von denen er nach und nach unter der Makulatur, die den Boden der Bücherkammer deckte, noch eine große Menge hervorzog, wovon immer eines abenteuerlicher als das andere war, und worin er eine Unterhaltung fand, die er um alle Lustbarkeiten der Welt nicht vertauscht hätte. Er konnte nicht so vorsichtig seyn, daß seine eben so strenge als scharfsinnige Aufseherin nicht endlich die Ursache seiner häufigen Spaziergänge in das Lustwäldchen entdeckt, und ihm eine sehr scharfe, sehr gelehrte und sehr langweilige Strafpredigt deßwegen gehalten hätte. Allein das diente, wie es zu gehen pflegt, zu nichts anderem, als daß Don Sylvio behutsamer wurde, und sich besser in Acht nahm, seine Neigungen und angehenden Entwürfe vor ihr zu verbergen. [...] Sie mochte also sagen, was sie wollte, die Bezauberungen, die Schlösser von Diamanten und Rubinen, die verwandelten oder in Thürme und unterirdische Paläste eingesperrten Prinzessinnen, un die zärtlichen Liebhaber, die unter dem wundertäthigen Schutz einer guten Fee den Nachtstellungen einer bösen glücklich entgingen, blieben im gänzlichen Besitz seiner Einbildungskraft; er las nichts andres, er staunte und dichtete nichts andres, er ging den ganzen Tag mit nichts anderm um, und träumte die ganze Nacht von nichts anderem. Christoph Martin Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva [Ausschnitt] [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |