Urs Widmer: Zwei KapricenGoethe oder Sch...dreckWenn ich an einem jener Sandstrände weile, wo alle Menschen Ferien haben, gehe ich zuweilen an den Reihen der sonnenhungrigen Frauen entlang. Bin Voyeur und Masochist in einem, denn ich kann mich kaum sattsehen an ihrer Schönheit und registriere mit zunehmender Erschütterung, daß über ungefähr allen Köpfen ein Buch von Heinz G. Konsalik schwebt. Keins von Cesare Pavese, den 'ich' im Augenblick lesen würde, keins auch von Kurt Vonnegut oder von Sir Rider Haggard, und schon gar keins von mir. Nicht einmal Simmel scheint eine Chance zu haben. Da stehe ich dann also, fühle mich nackt und denke, daß in der schönsten Brust ein Herz leben kann, das einen ganz anderen Takt als meins schlägt. Wenn ich mich drastisch ausdrücken darf: unsre Kultur scheint nur Spitzenleistungen oder das zuzulassen, was ich schon in den Titel hineingeschrieben habe. Goethe oder Sch...dreck. Nichts dazwischen. Zwar schreibt in der Tat immer wieder einmal einer ein geniales Buch, und dafür findet er dann zu Recht seinen geneigten Leser. Aber die andern? Die in angelsächsischen Ländern jene Leser hätten, die sicheres Handwerk und professionelle Intelligenz schätzen? Bei uns scheint jeder, der schreibt, dazu verurteilt zu sein, sich immer erneut als Genie zu erweisen; sonst ist er nichts. Aber wie selten sind in Wirklichkeit jene, denen just der Überreichtum ihrer Begabung das eigne Lebensgesetz aufzwingt! Und obwohl das so ist, und obwohl alle das wissen, strengen wir Autoren uns dennoch wie die Blöden an, auch so ein Goethe unsres Jahrhunderts zu werden: denn wer ist schon gern nichts. Naturgemäß geht das fast immer schief. Und natürlich stürzt niemand tiefer als der, der die Kondition fürs Allalinhorn hat, aber obstinat den Everest bezwingen will. Da liegt er dann, der fehlgeleitete Dichter, zerschmettert im heißen Sand des Strands, und die nackten Frauen steigen über ihn hinweg, ohne ihn überhaupt zu bemerken. Franz Kafka, wenn er seinen Freunden etwas vorlas, hielt zuweilen inne, weil er zu sehr lachen mußte. Er fand seine Sachen komisch! Viele guten Bücher, wenn nicht alle, sind leicht UND schwer; zum Lachen UND todernst. Gleichzeitig! Die Odysee, der Don Quixote und vielleicht ja sogar die Bibel. Genau dieses untrennbare Durcheinander macht uns jedoch Mühe, vielen von uns: nicht nur vielen Lesern, sondern auch manchen von denen, die schreiben. Auch wir sind ja Bauern und lachen, wenn einer ins Güllenloch fällt. Sind ernst, wenn von Gott die Rede ist. Im wirklichen Leben ist es aber, wenn nicht umgekehrt, so doch vermischt. Wer ist schuld? Niemand. Die Fragen, die uns die Geschichte stellt, beantwortet keiner mit einem Satz. Vielleicht sollten die Leser unter uns, statt immer neue Höchstleistungen bestaunen zu wollen, uns Schreibern einfach einmal ganz ruhig zuhören. Als sprächen wir mit ihnen. Denn sie sind es ja immerhin, die uns dazu bringen, jene Geschichten aufzuschreiben, die sie dann als die ihren erkennen. Ohne Leser kein Schreiber. Jeder Leser versammelt mit der Zeit ein paar Autoren um sich, die ihm das sagen, was sonst wörterlos in ihm drin bliebe, und umgekehrt schreibt kein Autor auch nur eine Silbe, wenn niemand von ihm etwas erwartet. Auch mir geht es so. Auch ich schreibe meine Geschichte und die des Lesers. Sie muß nicht genial sein, nicht von Goethe, aber so wahr und so verlogen wie unser gemeinsames Leben. Das verlorene BuchImmer schon habe ich jene lockeren Dichter bewundert, die mit den Manuskripten ihrer Meisterwerke, von denen sie keine Kopien besaßen, unbekümmert U-Bahn fuhren oder Sauftouren durch die Vorstadtkneipen veranstalten. Natürlich waren die Manuskripte dann weg. Keins dieser Bücher wurde jemals aufgefunden, und wir alle sind uns heute einig, daß sie das Wunderbarste waren, was jene Meister je geschrieben hatten. Engelszungenbücher. Über Jahre hin hatte ich mir vorgenommen, einst dereinst so stark zu sein, so voller Fülle, daß ich ein dickes Buch schriebe, in das ich mein Ganzes legte, 500 Seiten, und das ich dann verlöre, auf daß das Schaffen maßvoll bleibe. - Ich füllte dann tatsächlich 450 Seiten und versuchte auch sofort, sie zu verlieren. Entgegen meinen Gewohnheiten machte ich lange Straßenbahnfahrten und taumelte nach Mitternacht der Langstraße entlang. Aber immer kamen mir ein netter Mann oder eine freundliche Dame nachgerannt, He! und Hallo Sie! rufend, und gaben mir mein Manuskript. Ich warf es in ein vorbeirollendes Polizeiauto. Legte es einer Lehrerin für Schwererziehbare aufs Pult, die Papier fürs Schiffchenfalten brauchte. Tat es in den Bio- Kompost des Nachbarn. Nichts zu machen, stets kam es zurück. - Der letzte Versuch scheiterte dann so: Ich war zu den Solothurner Literaturtagen gefahren, zu dem zauberhaften Fest, das immer am Samstagabend im Weißen Kreuz stattfindet, und wollte die von mir beschriebenen Seiten in der allgemeinen Papierflut untergehen lassen. Aber sie fielen in die Hände eines Germanisten, der eigentlich seine Reisetasche mit dem Pyjama suchte, und der hatte natürlich gleich heraus, von wem sie waren. Rief mich ein paar Tage später an. Ich stotterte in den Hörer hinein, danke, und ob ich ihm das Buch, wenn es dann erscheine, widmen dürfe? Er schwieg zuerst lange und murmelte dann, er müsse mir um der Wahrheit willen sagen, daß ihm nach einer Strukturanalyse meiner Prosa zwar sofort klar gewesen sei, daß sie von einem Schweizer der jungen Generation stammen müsse: daß er vor mir trotzdem Max Frisch, Franz Böni, Rainer Brambach, der jedoch schon tot gewesen sei, und Peter Bichsel angerufen habe. - Dieser gestand mir später, er habe damals den Bruchteil einer Sekunde lang gezögert, ob er sich das unbekannte Manuskript nicht unter den Nagel reißen solle, denn 400 Seiten, nicht wahr, seien schon eine Versuchung. So gab ich das Buch resigniert dem Verleger. "Paß auf!" rief ich ihm nach, als er spät nachts davonradelte, mit meinem Werk auf dem Gepäckträger. "Sowas schreibe ich nicht jeden Tag!" Er winkte fern im Mondlicht und bog um eine Ecke. Eine Weile später klingelte das Telefon. "Das Manuskript!" schrie der Verleger. "Es ist weg!" - "Wie stellst du dir das vor?!" brüllte ich fassungslos in den Hörer. "Ich habe keine Kopie!" Der Verleger sagte, er stelle sich das so vor, daß das Buch nun halt im Eimer sei, und daß er für den Schaden aufkomme. Ob 750 Franken recht seien? Da hörte ich ein Maunzen vor der Tür. Canelloni und Risotto, die Katzen, schleiften einen Papierpacken die Treppe hoch. Es fehlte nichts, nicht einmal die Danksagung an die Pro Helvetia. Jetzt muß mein Buch also doch noch in die weite böse Welt hinaus, und jeder wird mit eigenen Augen sehen können, ob es mit Engelszungen spricht! Und nie mehr wird es jemand verlieren können. © Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab. Kolumnen, Zürch 1988, S. 149-151 und 224-226. [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |