Miss Lorburns Bibliothek



von Edith Wharton

Vance stand allein in Miss Lorburns Bibliothek. Er war noch nie in einer Privatbibliothek gewesen; eigentlich wusste er nicht einmal, dass es außerhalb von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen Büchersammlungen in privatem Besitz gab. Und all diese Bücher hatten einer Frau gehört, dieser Miss Lorburn, und sie hatte zwischen ihnen gesessen, hatte mit ihnen gelebt und war beim Lesen gestorben - beim Lesen von eben jenem Buch auf dem Tisch neben ihm! Das alles schien Teil der unbegreiflichen Vergangenheit, zu der sie und das Haus gehörten, einer so fernen, schwer fassbaren und geheimnisvollen Zeit, dass Vance' erster Gedanke war: "Warum hat mir nie jemand etwas über die Vergangenheit erzählt?"

Er wandte sich von dem Bild ab, sah sich im Zimmer um und versuchte sich vergebens auszumalen, wie diese Frau allein in ihrem düsteren Haus mit den hohen Zimmerdecken zwischen ihren Büchern gelebt haben mochte. Er stellte sie sich an Winterabenden vor, wenn sie an diesem Tisch saß, vor der Öllampe mit dem gravierten Glaszylinder, die komische kleine Brille auf der langen, würdevollen Nase, endlos über den Seiten grübelnd, während der Wind durch den Kamin heulte und der Schnee sich Schicht um Schicht auf den Rasen legte. Und wahrscheinlich saß sie auch an Sommerabenden hier - undenkbar, dass sie ins Freie hinausging -, saß im schrägen Licht, das so wie jetzt durch die Fransen des Blauregens fiel, stützte den traurigen Kopf auf und las und las. (...)

Sein Blick wanderte von den Reihen geschlossener Bücher in den Regalen zu dem einen, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Dieses Buch hatte sie gelesen, als sie starb - als uralte Frau und dennoch vor unermesslich langer Zeit. Vance ging zum Tisch und beugte sich über die aufgeschlagenen Seiten. Sie waren gelb und fleckig von der Feuchtigkeit, und auch die Schrift war seltsam, so eine hatte er noch nie gesehen. (...)

Er saß da, den Kopf zwischen den Händen, und las weiter, leidenschaftlich und gefesselt, und sein ganzes Wesen wurde von diesem mächtigen Fluss fortgerissen. Ihm fiel ein, dass er das Haus mit einer seit Langem stummen Glocke verglichen und sich gewünscht hatte, sie in wohlklingende Schwingungen zu versetzen, und siehe da: Jetzt schwang und klang die Glocke und umwogte ihn mit herrlichen Tönen wie die Wellen eines sommerlichen Meeres. Abgesehen von dieser inneren Musik war das Haus vollkommen still. Die Schritte und Stimmen von Cousin und Cousine waren verstummt. Selbst das Nachmittagslicht lag auf dem Buch wie festgezurrt.

Es war so still in dem düsteren, büchergesäumten Zimmer, dass die verstorbene Miss Lorburn, wäre sie wieder auf dem Schauplatz erschienen, den jungen Mann, der von ihrer Bibliothek Besitz ergriffen hatte, vielleicht ebenfalls für einen Geist gehalten hätte. Vance arbeitete sich seit einigen Tagen durch die Bücher von The Willows, er wischte sie mit einem weichen Tuch ab und stellte sie gewissenhaft eins nach dem anderen an den richtigen Platz zurück. Am ersten Morgen war Halo Spear in einem jähen Anfall von Eifer aus Eaglewood heruntergeschossen, um Vance zu zeigen, wie er vorgehen musste; er hatte ja nie gelernt, wie man respektvoll und methodisch mit Büchern umgeht. (Mrs Weston hätte wahrscheinlich gesagt, man müsse sie so behutsam behandeln wie feinstes Porzellan.) Miss Spear hatte es ihm mit geschickter, sicherer Hand kurz vorgemacht, begleitet von fortlaufenden Erklärungen."Du darfst die Bücher nicht schütteln, als wären es Teppiche, Vance. Es sind keine. Allenfalls sind einige von ihnen fliegende Teppiche, die einen auf die Rückseite des Mondes befördern. Aber Schlagen und Klopfen ist nichts für sie. Bücher haben nämlich Seelen wie Menschen, das heißt wie manche Menschen... Nein, ich wollte die Tracys nicht bitten, uns zu helfen, sie verstehen nicht viel von Büchern. Wir beide schaffen das auch allein. Schau: Wisch die Kanten vorsichtig ab, so, und dann bring die Seiten ganz leicht zum Flattern - als wärst du eine Biene, die eine Blume aufzuschütteln versucht -, damit der Staub rausgeht. (...)

Ihn verlangte danach, Zeit und Raum zu vergessen, bis sein ungestümer geistiger Hunger vielleicht nicht gesättigt, aber doch besänftigt war. Schon das Gefühl, dass ihn all diese Bücher umgaben, schweigende Zeugen einer unbekannten, ungeahnten Vergangenheit, beunruhigte ihn fast mehr, als er ertragen konnte. Von allen Seiten wirkte ihre Kraft auf ihn, zog ihn hierhin und dorthin, als befände er sich inmitten eines Magnetfeldes. Es fiel ihm immer schwerer, die Arbeit fortzusetzen, für die er eigentlich gekommen war. Nun, selbst Miss Spear hatte ihr Tun alle paar Minuten unterbrochen, um zu lesen und zu staunen, hatte das eine Buch weggelegt und sich auf ein anderes gestürzt, wie eine gierige Hummel blind für die Ordnungsprinzipien, die sie ihm einschärfte. Dabei waren diese Bände, oder die meisten von ihnen, für sie alte Freunde. Sie hatte die Erschütterung und Überraschung, die Vance erzittern ließen, gewiss schon vor langer Zeit überwunden, wohingegen für ihn fast alle Bücher neu und unbekannt waren und die wenigen vertrauten Namen seinen Hunger noch anstachelten. Wie sollte er sich daran erinnern, aus welchem Regalfach das eine oder andere Buch stammte, sobald es ihm einmal seine goldenen Horizonte eröffnet hatte?

Er versuchte es erst gar nicht. Er besaß schon einen ziemlich ausgeprägten Sinn für Werte und konnte nicht glauben, dass es für ihn oder irgendwen sonst lebenswichtiger und notwendiger sein sollte, die Bücher einer toten Frau abzustauben, als sie zu lesen. Dies war seine Chance, und er würde sie nutzen. Hätte er nur gewusst wie! Die drückende Last all dieser Weisheit erstickte ihn schier in seiner Ahnungslosigkeit; er kam sich vor wie das Mädchen, von dem ihm Miss Spear einmal erzählt hatte: Es hatte aus Goldgier Rom an den Feind verraten und wurde schließlich von den goldenen Schilden der feindlichen Soldaten schmählich erdrückt. Genauso erdrückten diese Bücher Vance. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den glatten Stamm des Baumes zu erklettern, an dem hoch oben die Früchte hingen! (...) Vance streifte langsam und staunend von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, und weil er nicht genug bekam, schob er das Buch unter seinen Stuhl, wie ein Hund einen Knochen versteckt, und wanderte zurück zu den magischen Regalfächern, um sich mehr zu holen.


© Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River, Manesse 2012


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