Die andere Realität


von Peter Weiss

In den Büchern trat mir das Leben entgegen, das die Schule mir verborgen hatte. In den Büchern zeigte sich mir eine andere Realität als die, in die meine Eltern und Lehrer mich pressen wollten. Die Stimmen der Büchern forderten mein Mittun, die Stimmen der Bücher forderten, daß ich mich öffnete und auf mich selbst besann. Ich stöberte in der Bibliothek meiner Eltern. Das Lesen dieser Bücher war mir verboten, ich mußte die Bücher heimlich entwenden und die Lücken sorgsam ausgleichen, meine Lektüre fand unter der Bettdecke statt, beim Schein der Taschenlampe, oder im Klosett, oder unter der Tarnung von Schulbüchern. Das Chaos in mir von unausgegorenen Sehnsüchten, von romantischen Verstiegenheiten, von Ängsten und wilden Abenteuerträumen wurde aus unzähligen Spiegeln auf mich zurückgeworfen, ich bevorzugte das Anrüchige, Zweideutige, Düstere, suchte nach Schilderungen des Geschlechtlichen, verschlang die Geschichten von Kurtisanen und Hellsehern, von Vampiren, Verbrechern und Wüstlingen, und wie ein Medium fand ich zu den Verführern und Fantasten und lauschte ihnen in meiner Zerissenheit und Melancholie. Doch je mehr ich meiner selbst bewußt wurde, und je weniger ich vor mir selbst zurückschreckte, desto stärker wurde meine Forderung, daß die Stimme des Buches unverstellt zu mir spräche und nichts vor mir verbarg.

Bald zeigten mir schon die ersten Worte eines Buches die Wesenart des Sprechenden. Ich wollte gleich von ihm angerührt werden, wollte gleich seine Glut und innere Überzeugung erfahren. Lange Umschreibungen machten mich ungeduldig. Ich wollte gleich mitten in das Erlebnis hineingerissen werden, wollte gleich wissen, um was es ging. Nur selten befaßte ich mich mit Gedichten, hier war mir alles zu sehr bearbeitet, zu sehr einem Gerüst von Formen unterworfen. Ich mißtraute dem Abgerundeten und Vollendeten, und es fiel mir schwer, unter dem Kunstvollen und Geschliffenen nach dem verborgenen Sinn zu forschen. Oft ließ mich das Durchdachte kalt, während das Rohe, Ungestaltete mich ergriff. Mein logisches Denken war unentwickelt. Wenn ich versuchte, diesem Mangel mit dem Lesen von naturwissenschaftlichen oder philosophischen Werken entgegenzuwirken, so zerflossen mir die Buchstaben vor den Augen, ich konnte sie nicht zu lebenden Worten zusammenfügen, ich spürte keinen Atem in ihnen.

Was ich behielt, lag weniger auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung als auf dem Gebiet der Empfindungen, mein Wissen setzte sich zusammen aus bildmäßigen Erfahrungen, aus Erinnerungen an Leute, Stimmen, Geräusche, Bewegungen, Gesten, Rhythmen, aus Abgetastetem und Gerochenem, aus Einblicken in Räume, Straßen, Höfe, Gärten, Häfen, Arbeitsplätze, aus Schwingungen in der Luft, aus Spielen des Lichts und des Schattens, aus Regungen von Augen, Mündern und Händen. Ich lernte, daß es unter der Logik eine andere Folgerichtigkeit gab, eine Folgerichtigkeit von undurchschaubaren Impulsen, hier fand ich mein eigenes Wesen, hier im scheinbar Unorganisierten, in einer Welt, die den Gesetzen der äußeren Ordnung nicht entsprach. Mein Denken ließ kein bestimmtes Ziel zu, trieb mich von einem zum andern, duldete keine auferlegten Richtlinien, warf mich oft in Fallgruben und Abgründe, aus denen keine Erklärungen, sondern nur heimliche, unerwartet gefundenene Pfade mich herausführen konnten. Im Laufe der Jahre wurde die Zwiesprache, die ich in den Büchern suchte, immer bestimmter und eindringlicher, richtete sich immer tiefer ins Persönliche, und so wurde sie auch immer seltener, denn nur wenige konnten etwas von den Dingen ausdrücken, in denen die Wurzeln des Daseins angerührt wurden. Alle Stadien meiner Entwicklung hatten ihr Bücher.


Peter Weiss: Abschied von den Eltern, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1964


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