Freundschaft mit Büchern


von Karl Heinrich Waggerl

Aus meinem Kindesalter sind mir zwei Bücher in dauernder Erinnerung geblieben, ein geistliches und ein weltliches. Das eine war das Gebetbuch meiner Mutter. An Sonntagen, wenn ich neben ihr im Kirchenstuhl hockte und auf die unschicklichste Weise alles versuchte, was mit bloßen Händen und Füßen gegen die Langeweile zu unternehmen ist, dann sah die Mutter plötzlich zürnend auf mich nieder und gab mir das heilige Buch. Sie hätte sichtlich gern ein Kopfstück vorangehen lassen, aber das durfte sie nicht, die Kirchenbank war eine Freistatt aller Sündern, und selbst ein Scheltwort kam hier tonlos und nur mir erkennbar von ihren Lippen. So saß ich also beglückt und warm zwischen weiten Frauenröcken eingebettet, hielt das Buch auf meinemm Schoß und blätterte darin. Schon der Druck war wunderlich genug, groß und verschnörkelt, Gottes oder Christi Namen standen immer rot dazwischen und füllten eine ganze Zeile. Ich buchstabierte seltsame Anrufungen und Litaneien, darin die Muttergottes ein elfenbeinerner Turm genannt wird, ein goldenes Haus, eine Arche, und sie nimmt es nicht übel. Vor allem aber betrachtete ich immer wieder die vielen losen Bilder zwischen den Blättern. Da gab es Andenken an Wallfahrten, die sich meine gute Mutter für das Heil der Ihren auferlegt hatte, manche kostbar bemalt oder mit Goldstaub bestreut und andere, die man auseinanderfallen konnte und dann kam unsere liebe Frau zum Vorschein, schwarz von Angesicht und ein wenig einer gesprenkelten Motte ähnlich.

Auf etlichen Blättchen sah man Heilige abgebildet, die wurden einem nach der Beichte geschenkt, damit der Büßende nicht ganz ohne Trost und Beistand bliebe... Am zahlreichsten aber waren die Sterbebilder. Ich fand unsere ganze jenseitige Verwandschaft im Gebetbuch der Mutter versammelt. Einige hatte ich selber bei Lebzeiten gekannt, dann verschwanden sie plötzlich und tauchten in diesem Buche wieder auf. Viele aber waren mir ganz fremd, die Mutter nannte mir ihre Namen, wenn ich auf dem Heimweg danach fragte, und knüpfte ein mahnendes Wort daran. Der war liederlich, sagte sie, und deswegen fiel er in den Wildbach, merk dir das. Noch schlimmer stand es mit anderen, etwas unserem Großvater, von dem die Sage ging, daß er als Bergführer eine Goldader entdeckt hatte, aber vorzeitig krank wurde und als der düstere Mensch, der er war, mit seinem Geheimnis zu Grabe ging. Manchmal, wenn ich sommers um Beeren geschickt wurde, nahm ich heimlich sein Bild mit mir, des Glaubens, er werde es sich doch nicht versagen können, ein bißchen mit den Augen zwinkern, wenn ich zufällig seinem Schatz auf die Spur käme. Aber das tat er nicht, er blieb verschlossen, ein unheimlicher Mann mit seinem schwarzen Wangenbart, Gott verzeihe ihm. Wir könnten alle in Freuden leben, wenn er nur rechtzeitig den Mund aufgetan hätte. Das andere, das weltliche Buch aber war der Kalender. Den kaufte der Vater im Spätherbst auf dem großen Jahrmarkt, und wenn der dicke Band endlich erstanden war und sicher in meinen Armen lag, dann hatten alle Buden mit Knallbüchsen und Rollschlangen, mit Lebkuchen und türkischem Honig keinen Reiz mehr für mich. Denn der Kalender barg unerschöpfliche Schätze an Kurzweil und Erbauuung für ein ganze Jahr. Die eigentlichen Kalenderseiten blieben freilich der Mutter vorbehalten.

Sie merkte dort an, wenn nach Gestalt des Mondes und nach den Tierkreiszeichen unsere Haare geschnitten oder die Bohnen im Garten gelegt werden mußten. Das war eine geheime und weitläufige Wissenschaft, in der nur die Mutter Bescheid wußte, und selbst der Vater zweifelt offenbar nicht daran, daß sie gewissermaßen in ihrer Macht hatte, uns alle mit krausem Haar vom Widder oder mit glattem vom Wassermann zu versehen. Aber der übrige Teil des Kalenders gehörte mir. Wochen brachte ich allein damit zu, die Bilder alle farbig auszumalen oder nach meinem Gefallen zu ergänzen, und dann waren noch immer die Geschichten nicht gelesen, die Merkwürdigkeiten der Welt nicht bestaunt, kein Rätsel war gelöst und kein Spaß war verstanden. Beiläufgi gesagt, ich konnte mich an Scherzen überhaupt nicht belustigen, ich wollte jeden ergründen. War etwa von dem Gast die Rede, dem der Kellner die Fliege in der Suppe als Fleischgericht anrechnete, so plagte ich den Vater tagelang mit dieser Fliegengeschichte, sie war für mich kein Scherz, sondern eine bitterernste Rechtsfrage. Bitterernst nahm ich auch alle anderen Erzählungen. Der Kalendermann hatte einen seherischen Blick für alls Rätselhafte und Künftige, und wenngleich die Mutter meinte, ein Mensch werde niemals fliegen lernen, es holte ihn denn der Teufel, so glaubte ich doch an das Wunder, und mein Glaube hat Recht behalten. ich kas die Berichte vom den Abenteuern frommbeherzter Missionare, die ergreifenden Beispiele vom Kampf der Tugend gegen die Mächte der Finsternis - ach, nie wieder im Leben ist mir das Gute so liebenswert, das Böse so verächtlich erschienen!

Manche dieser Geschichten könnte ich noch heute nacherzählen, heute freilich nicht ohne ein Lächeln. Aber vielleicht macht es gar nicht sehr viel aus, daß ich zu allererst bei einem einfältigen Kalendermacher statt bei einem größeren Licht des Geistes in die Lehre ging. Und heimlich hole ich mir noch immer Rat aus der Erinnerung, wenn mein eigener Witz versagt und alle Weisheit, die auf Stelzen geht. Um jene Zeit kamen auch andere Bücher in meine Hand, aber die waren mir viel weniger lieb. Denn zwischen der ersten Fibel und dem Leitfaden der Naturgeschichte für eine Oberstufe senkte sich immerfort Schulstaub und Mühsal auf meine Kinderwelt herab. Die Mutter hätte es für sündhaft gehalten, ein Buch zu kaufen, das nicht zum Lernen oder sonst einen nützlichen Zweck taugte. Brachte ich gelegentlich eines nach Hause, wie sie von vergeßlichen Kurgästen auf den Ruhebänken hinterlassen wurden, so verschloß sie es zwar gleich in der Nählade, damit ich nicht daran verdürbe, aber ich hatte es längst gelesen, weit schneller, als meine gute Mutter es für möglich hielt, und sie wunderte sich nicht wenig, daß ich ihr Fortgang und Ende gleichsam weissagen konnte, wenn ihre eigene Neugier noch kaum über die ersten Seiten hinaus war. Meine Lesegier brachte mich damals auf bedenkliche Abwege. Ich kletterte zum Beispiel durchs offene Fenster in das Lesezimmer eines Hotels und holte heraus, was mir passend schien, bis ich einmal von einem Gast überrascht wurde, als ich eben mit dem wenig anziehenden ersten Band der römischen Altertümer wieder angeschlichen kam.

Der freundliche Mann hatte seinen Spaß an meinem verworrenen Geständnis, schließlich erbot er sich, mit ein Buch im Laden zu kaufen, und weil ich ums Leben nicht mit ihm durch die Halle und am Portier vorbeigegangen wäre, schlug er sich auf meine Seite und stieg mit mir durchs Fenster hinaus. Und dann stand ich wirklich im Buchladen und durfte wählen, mein Freund geriet selber in Aufregung und hieb sich eins ums anderemal den Kneifer auf die Nase, bis ich mich endlich für Robinson entschied. Den kaufte er mir, ohne auch nur einen Groschen abzuhandeln. Ach, wie habe ich dieses Buch geliebt! Ich besaß es noch, als ich längst den Kinderstrümpfen entwachsen war und meine Jugend in den Schützenlöchern und Kavernen der Gebirgsfront begraben mußte. Irgendwo verlor ich es, auf dem Marsch oder in diesen Jahren ja auch manches andere Buch zu mir und wurde nicht eben wert gehalten, aber einige blieben mir doch dauernd, aus Zufall oder weil sie mir wahrhaft lieb waren. Später, als ich ins Stille geriet und mein Leben im Dorf einzurichten begann, fügte es sich bei meinem Hang zum Handwerk ganz von selbst, daß ich mich mehr und mehr auch mit dem Äußeren des Buches befaßte, mit seiner dinglichen Gestalt. Viele vergilbte Schwarten habe ich mühsam zerlegt, um den alten Meistern hinter ihre Schliche zu kommen. Ich sah mit Bewunderung, wie sie das Vorsatz falzten oder das Kapitel umstachen und noch den Heftfaden kunstvoll über die Bünde schlangen, obwohl das nie jemand zu Gesicht bekam. Schließlich lernte ich es doch, und daran habe ich noch immer meine Freude. Stehe am Schrank vor den schön gewandeten Büchern, befühle das köstliche Büchern, befühle das köstliche Leder, schlage eines und das andere auf und suche darin nach dem Wort, das mir lieb ist. Und so wird es wohl auch bleiben: am liebsten binde ich Bücher, weniger gern lese ich welche, und am wenigsten mag ich sie selber schreiben.


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