Karl August Varnhagen von Ense: Wird man durch schlechte Bücher verdorben?


Eine der stärksten Anziehungen hatte ich (in Hamburg um 1795) ganz in der Nähe, auf dem Nikolaikirchhofe. Hier war ein Nebeneingang zur Kirche, der an Wochentagen immer geschlossen war; aber ein geräumiger Vorplatz stand offen, denn hier, nach der eifrigen Weise der Hamburger, Raum zu ersparen und zu benutzen, hatte sich eine Leihbibliothek eingemietet, für eine mäßige Abfindung mit dem Küster war diese Gunst harmlos nachgesehen worden. Da befand sich denn ausgestellt, was nur mein Herz begehrte, Ritter- und Geistergeschichten, Räuberromane, Liebesabenteuer, Robinsone und Wundermärchen aller Art. Ich hatte daheim Bücher genug und las viel und gern darin, aber solcher Bücher wie die bezeichneten fehlten mir ganz und gar. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und verschaffte mir den erwünschten, und leider auch verbotenen Genuß! Denn hatte mein Vater auch nicht den ihm fast undenkbaren Falln ausdrücklich untersagt, so wußte ich doch zu gut, daß er eine solche Leserei nicht gestatten würde. Ich las also heimlich, mit allem Eifer und aller Spannung eines jugendlichen Sinnes, und fühlte mich glücklich in dem phantastischen Leben, das neben dem wirklichen so zauberisch mir aufstieg. Ich gewann, dazu schon alt genug mich dünkend, die Eindrücke meiner Kindheit wieder, der schönen Zeiten, wo ich täglich das Theater besuchte und gleichgültig den armen Tag hinnahm, weil der Abend mich unfehlbar zu den Schätzen der Einbildungskraft entführte.

War eine Geschichte abgebrochen, etwa der zweite Teil nicht vorrätig, so empfand ich die lebhafteste Unruhe und konnte mich gar nicht zufrieden geben, als mein Lesen wirklich zum Schlusse kam, bevor ich den einiger angefangenen Romane erlangt hatte! Noch lange nachher hafteten die Titel verdrießlich mahnend in meinem Gedächtnis, und das Unglück wollte, daß sie sonst mir nie mehr vorkamen, denn höherstehende Leihbibliotheken hielten schon auf bessere Auswahl. Erst zwanzig Jahre später, in Böhmen, wo durch Zufall solcher Schund noch unverzehrt lag, konnte ich dem unvergessenen Anfang eines solchen Buches den unbekannten Schluß endlich anreihen, und ich gestehe, daß ich mir diese Genugtuung nicht versagte. Hier konnt' ich denn einsehen, welch zauberische Macht die Phantasie ist; sie verwandelt das Gemeinste in Kostbarkeiten; die meinige hatte aus erbärmlichsten Stoffe ihre Nahrunggezogen; daß aber schwarze Kühe auch weiße Milch geben, ist ein guter Spruch. Wirklich kann ich nicht sagen, daß diese wüste Leserei, welche nach einem Vierteljahr mit ihrer Entdeckung endete, mit im geringsten geschadet hätte; ich erkannte das Schlechte nicht als solches und verzehrte, umgekehrt von Tischbein's Esel, der die Ananas für Distel frißt, die für Ananas. Aus eigener Erfahrung muß ich Rousseau'n beistimmen, daß, wer durch schlechte Bücher verdorben wird, schon vorher verdorben war. Mein Fleiß im Lernen hatte durchaus nicht gelitten, im Gegenteil ging mir alles leichter von der Hand, weil ich stets ein Vergnügen in Aussicht hatte und im Bewußtsein, hierbei doch Tadel zu verdienen, nicht auch in anderer Beziehung mit Vorwürfe häufen wollte.


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