Bücher kniffenvon Birgit Vanderbeke Viszman liest Diderot, hin und wieder knifft er ein Eselsohr in eine Seite, und nachdem er eine Weile Eselsohren geknifft hat, entschließt er sich, einen Bleistift zur Hilfe zu nehmen. Leser erkennen sich an ihren Angewohnheiten, an den Eselsohren in meinem Bouvard und Pecuchet würde Viszman mich sofort erkennen, aber wir haben alle Zeit der Welt, um uns mit unserem Angewohnheiten kennenzulernen und zu entzücken, wobei die Angewohnheit, Eselsohren in Buchseiten zu kniffen, im Grunde fragwürdig ist, ein Gespräch über Eselsohren im Zusammenhang mit Diderot oder Bouvard und Pecuchet wird eine wunderbare Übereinstimmung zutage fördern: natürlich weiß Viszman so gut wie ich, daß sie Unfug sind: Das Buch wird immer dicker vor Eselsohren, jedes Eselsohr bezeugt eine Merk- und Denkwürdigkeit, die man behalten will, jede Seite ist voller Merkwürdigkeiten und verlangt ein Eselsohr, aber sobald man sich später an eine Merkwürdigkeit vage erinnert und sie heraussuchen will, weil man gewiß ist, ein Eselsohr in diese Seite geknifft zu haben, haben märchenhafterweise alle Seiten Eselsohren, und die Merkwürdigkeit ist nicht zu finden, ... ... daher die Angewohnheit, zunächst einmal Eselsohren zu kniffen, spontan sozusagen, und nach der Hälfte des Buches überzugehen zu Bleistiftbenutzung, zunächst mit dem Bleistift einzelne Merk- und Denkwürdigkeiten zu unterstreichen, plötzlich ist das ganze Buch voller unterstreichenswürdiger Sätze und Stellen, die Unterstreichungen häufen sich, Viszman unterstreicht die gesamte Rede des Tahitianers Oru, ich verstehe es, eine radikale Position hat dieser Oru, ohne weiteres entlarvt er die Europäer, ihre heuchlerische Moral, ihre Lust an der Macht anstatt einer Lust an der Lust, deren gesetzlich-moralische Unterdrückung geradezu, alles unterstreichungswürdig, sogar der katholische Schiffskaplan, dem diese Rede gehalten wird, ist binnen kurzem davon überzeugt, daß die Ehe eine sinnlose Angelegenheit ist, die überall Unglück, Betrug und Verzweiflung bereitet und verbreitet, unterstreichenswürdig ist folglich auch, daß nach der Rede Orus ein französischer Schiffskaplan am liebsten seine Kleider wegwürfe und in Tahiti bliebe, auch Gauguin ist schließlich in Tahiti geblieben, all dies muß unterstrichen werden. Das Problem mit dem Bleistift ist ähnlich wie das der Eselsohren, weil die Merkwürdigkeit, an die man sich später einmal erinnert und die man unterstrichen wähnt, unauffindbar in seiner seitenweisen Gesamtunterstreichung verborgen bleibt, was Viszman merkt, nachdem er eigenhändig Wort für Wort unterstrichen hat, was der liebes- und lebensfreudige Oru gegen Europa anführt, das erste Drittel des Buches ist angeschwollen vor Eselsohren, das zweite voll mit Bleistiftstrichen, und schließlich geht es nicht anders: die Schlußfolgerungen des Herrn B, Diderots Schlußfolgerungen aus einem unmöglichen Vergleich nämlich, die vergleichende Unmöglichkeit des Vergleiches also, müssen ins Buch hinten noch einmal hineingeschrieben werden, dafür gibt es zwei freie Seiten; ich bin entzückt und möchte nun doch einmal Bouvard und Pecuchet vorzeigen: vorne genifft, in der Mitte zusammengestrichen und das letzte Drittel unleserlich noch einmal in winzigster Schrift, weil zwei leere Seiten hinten zu wenig Platz sind für ein ganzes letztes Drittel, folglich werde ich nie etwas wiederfinden. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 93) Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, Reinbek bei Hamburg: rororo, 1998. Seite 92 bis 94 |