Lesen verboten

Literarische Essays von Dubravka Ugresic


Vernichtung von Büchern
Bingo!
Der Bestseller
Mediale Banalität
Geschützte Verlierer
Lektoren
Torcedores
Gedichtfolter
I am a writer!
In der Halbillegalität


Vernichtung von Büchern

Die Art, wie die Bürger Jugoslawiens ihrem Land "Lebewohl" sagten, war äußerst grausam. Zusammen mit dem Land verschwanden Menschen, Häuser, Bücher, Dokumente, Fotos, Biografien, Landkarten, Sprache, Schulen, Dinge, Erinnerungen, Bibliotheken... In Sarajevo wurde die Nationalbibliothek vernichtet, hunderttausende Bücher zu Asche verbrannt. Die Bücher, die den serbischen Granaten entgingen, wurden von den Einwohnern Sarajevos selbst vernichtet. Zuerst dienten als Heizmaterial die kommunistischen Briketts, die gesammelten Werke kommunistischer Denker. Ihr Wärmewert war besonders hoch. Wenn solche gesammelten Werke mit Draht umwickelt werden, verbrennen sie langsam wie Kohle, behaupten die Menschen in Sarajevo. Um die Wahrheit zu sagen, auch Shakespeare diente als Heizmaterial. Im Kampf ums Überleben gibt es weder ideologische noch ästhetische Prioritäten. Zur gleichen Zeit segnete in Kroatien das neue nationalistische Regime die Säuberung der Bibliotheken von unerwünschten Büchern ab ("serbischen", "kommunistischen", "kyrillisch gedruckten", "antikroatischen", "antifaschistischen" und anderen, einschließlich Shakespeare.) Den Saubermännern war das egal. Tausende Bücher endeten auf Müllhalden. Tote und lebende Schriftsteller wurden aus Lehrprogrammen gestrichen, aus den Büchereien, aus der Literaturgeschichte, aus dem literarischen Leben. Die Arbeit verrichteten freiwillig intellektuelle "Vollstrecker". "Manuskripte brennen nicht", eines Tages erhält alles seinen Platz, man kann die Geschichte nicht tilgen, man wird neue Bibliotheken bauen und neue Bücher drucken, trösten uns die Kulturoptimisten. Die Optimisten haben meist keine Ahnung von der Praxis der Vernichtung, sie sehen alles aus freundlicher historischer Perspektive, daher ihr Optimismus. Die zerstörten Buchbestände sind kaum je zu erneuern. Für solche Dinge wird es lange an Geld fehlen. Die mafiosen Regimes haben die eigenen Völker bestohlen und auf viele Jahre verschuldet. Sollte eines Tages Geld da sein, ist es schwer vorstellbar, daß das Buch einen Vorrang erhält, so wie es auch schwer vorstellbar ist, daß die Literatur dieselbe Bedeutung haben wird wie vor ihrer Vernichtung. Eine nachträgliche Revision der Kulturgeschichte interessiert gewöhnlich nur einen engen Kreis von Fachleuten. (Dubravka Ugresic: Lesen verboten, S. 184)


Bingo!

Schriftsteller zu sein ist an sich kein besonderes Glück. Vertreter einer großen Literatur zu sein ist nicht sehr günstig - man verschwindet leicht unter den Größen -, aber anspornend. Am besten ist es, ein Schriftsteller aus einem kleinen Land zu sein, zumal wenn es noch jung und frisch ist. Ein ex- jugoslawischer Schriftsteller zu sein war nicht schlecht, aber eines Tages als kroatischer Schriftsteller aufzuwachen, weil das von der Idee eines eigenen Staates besessene Volk es so beschlossen hat, ist Bingo! (Dubravka Ugresic: Lesen verboten, S. 115)


Der Bestseller

Das Phänomen des Bestsellers hat (wie der Nudismus) etwas Rituelles. Wenn Millionen ein Buch lesen, dann ist es eine Art Ersatztheorie (Millionen strecken die Zunge heraus, um das Surrogat des Spirituellen zu schlucken und so an der kollektiven Läuterung teilzunehmen). Der Bestseller ist die Projektion der kollektiven Sehnsucht nach einem Buch, dem Buch der Bücher, dem Substitut der Bibel. Die Sehnsucht nach einem Buch ist zutiefst anti- intellektuell. Der Bestseller ist ein Raum ritualisierter kollektiver Unschuld (wie genießen etwas, was alle genießen). Das Phänomen des Bestsellers hat einen manipulativen, faschisierenden Zug, denn er ist die heilige Ehe zwischen Text (Induktor) und den Lesern (den Induzierten), er ist immer Ideologie, ein Surrogat des Spirituellen. Er offeriert ein geschlossenes System einfacher Werte und noch einfacherer Kenntnisse. (Dubravka Ugresic: Lesen verboten, S. 67)


Mediale Banalität

Die Bejahung der Annahme, daß Fernsehen das demokratischste Medium ist, bedeutet die Bereitschaft, mit gespielter oder echter Natürlichkeit vereinfachte Sätze über alles auszusprechen, mit anderen Worten, Banalität zu produzieren. (Dubravka Ugresic: Lesen verboten, S. 168)


Geschützte Verlierer

Als die Schriftsteller begriffen, daß ihre Position als geschützte Verlierer für immer dahin war, änderten sie radikal ihr Image. Die schwindsüchtigen Neurastheniker, bescheidenen Wirrköpfe, Trinker, Bohemiens, an ihre reichsortierte Hausbibliothek gelehnte Typen in schwarzen Strickpullovern, bärtige Intellektuelle im Tweedsacko mit Lederflicken am Ellenbogen und einem Buch in der Hand, die kurzsichtigen Pfeifen- und Zigarrenraucher - sie alle gehören längst der Vergangenheit an. (Dubravka Ugresic: Lesen verboten, S. 57)


Lektoren

Ein Schriftsteller, der sich erkühnt, etwas über Lektoren zu sagen, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Er ist ein Dummkopf. Die heutigen Lektoren sehen aus wie Schriftsteller, sie lassen sich am liebsten vor einem Bücherschrank fotografieren. Die heutigen Schriftsteller sehen aus wie Models, die ihr Publikum von Fotos verführerisch anblicken. Jeder läßt sich am liebsten mit dem fotografieren, was er nicht hat. Die Porträtfotografie ist Sehnsucht. Die Schriftsteller sehnen sich nach glamour, die Lektoren nach dem Image echter Lektoren. Im modernen marktorientierten literarischen Leben wird der naive Schriftsteller entdecken, was andere längst wissen: Lektoren nämlich lesen nicht. Sie sind Börsenmakler geworden, obwohl ich nie begriffen habe, was Börsenmakler tun. (...) Wenn Sie schwache Nerven und ein verklemmtes Ego haben (...), wird der Gang zum Lektor verheerend für Sie sein. Es gibt keinen Lektor, der Sie zur verabredeten Zeit empfängt. Er läßt Sie mindestens zehn Minuten im Vorzimmer warten. Das ist ein psychologisches Ritual. Damit der Wartende nicht vergißt, wo sein Platz in der Hierarchie ist. Damit sofort klar, wer hier beschäftigt und wer arbeitslos ist. Wenn Sie nicht warten möchten, besteht die Alternative in einem einstündigen Lunch mit dem Lektor, wo sich wieder herausstellt, daß der Schriftsteller massenhaft Zeit hat, während der vielbeschäftigte Lektor gezwungen ist, das Angenehme mit dem nützlichen zu verbinden, das heißt Salat und Mineralwasser mit dem Geschwätz des Schriftstellers. Wenn Sie auch das nicht mögen, besteht die Alternative im Telefon. Nichts ist schrecklicher als telefonisches Schweigen, das die Ohrmuschel vereist und Sie hindert, die Frage zu stellen, derentwegen Sie angerufen haben: was nämlich mit Ihrem Manuskript ist. Der Lektor wird das Thema nie zuerst anschneiden. Er läßt sie schwitzen. Oder frieren. (S. 18f.)


Torcedores

Neulich habe ich erfahren, daß die Zigarrenwickler, die Torcedores, die gebildesten Menschen in Kuba sind. Das Zigarrenwickeln ist eine langweilige und mühselige Handarbeit. Man sitzt auf Bänken wie in der Schule und hantiert den ganzen Tag mit Tabakblättern. Tröstlich ist jedoch, daß es in Kuba bezahlte Vorleser gibt. Die sitzen etwas erhöht, mit Buch und Mikrofon in der Hand, und lesen vor. Und die Torcedores hören zu. Ich stelle mir die stickige Werkstatt vor, die tropische Hitze, die summenden Fliegen, die schweißnassen Stirnen der Torcedores, die der Mikronfonstimme lauschen. Für Castros Reden freilich ist kein Platz in meiner Phantasie. Die kubanischen Zigarrenwickler hören ausgewählte Werke der Weltliteratur. Jede Zigarre ist getränkt von menschlichem Schweiß und den Worten, die aus dem Mikrofon kommen und in den schläfrigen Köpfen der Zuhörer wiederhallen. Die Torcedores meiner kubanischen Phantasie sind nicht passiv, ganz im Gegenteil. Einige haben bei ihrer langjährigen Tätigkeit herausragende Texte gehört, ihr literarisches Urteil ist geschärft wie ein Rasiermesser, sie reagieren auf jedes schiefe Wort, auf jeden falschen Ton. Und wenn ihnen das Gehörte nicht gefällt, murren sie laut und bewerfen den armen Vorleser mit schweren, kubanischen Zigarren. Die beste kubanische Zigarre kostet angeblich vierhundert Dollar. Hätte ich etwas zu sagen, ich würde den Preis verdreifachen. Denn wenn die Torcedores in ihrem Leben ganze Bibliotheken gehört haben, dann ist es so, als hätte Georg Steiner persönlich eine Zigarre hergestellt. (S. 11f.)


Gedichtfolter

Meist träume ich schreckliche Dinge. Neulich, daß mich der Kriegsverbrecher Radovan Karadzic gefangennimmt und foltert, indem er seine Gedichte für Kinder und Erwachsene rezitiert. Mehr noch, er zwingt mich, diese Gedichte auswendig zu lernen. Und kontrolliert mich täglich. (S. 16)


I am a writer!

Manche Schriftsteller bekennen sich ungern zu ihrem Metier. Ich selbst habe bisweilen "Stenotypistin" in die entsprechende Rubrik eingetragen. Heute, wo es diesen schönen Beruf nicht mehr gibt, schreibe ich "Übersetzerin". Es klingt seriöser. Denn "Übersetzerin" ist ein Beruf, aber was "Schriftstellerin" ist, mag der Teufel wissen. Die Schriftsteller haben dasselbe Problem wie die Alkoholiker. Sie geben ihr Laster einfach nicht zu. Vor dem Gespräch mit einem Lektor, vor einem Autorenabend, einem Interview, vor jeglicher Situation, in der ich meine Profession darstellen soll, nehme ich mir ein bißchen Zeit für autogenes Training. I am a writer! I am a writer! I am a writer! flüstere ich mir zu. Ich weiß nicht, warum ich den Satz auf englisch wiederhole. Wohl deshalb, weil Filme über Menschen, die einen Entzug machen, immer aus Amerika kommen und mir der Satz I am an alcoholic für immer ins Gedächtnis gegraben ist. (S. 30)


In der Halbillegalität

Weil [diese] Belanglosigkeiten das literarische Leben okkupiert haben und wichtiger geworden sind als die Bücher. Wichtiger ist der blurb auf dem Buchumschlag als das Buch selbst, wichtiger das Foto des Autors auf dem Schutzumschlag als der Inhalt, wichtiger, daß der Autor in auflagenstarken Zeitungen erscheint oder in einer TV-Show auftritt, als das, was er geschrieben hat. Viele Schriftsteller fühlen sich in solchen Zusammenhängen immer unbehaglicher. Sie sind dicht bevölkert von Verlegern, Lektoren, Agenten, Vertriebsleitern, Barsortimentern, Publicity- Experten, Buchhandelsketten, Fernsehkameras, Fotografen. Der Schriftsteller und sein Leser - die beiden wichtigsten Kettenglieder - sind heute einsamer denn je. Was kann da der Schriftsteller tun? Beide Augen schließen und fatalistisch die Ewigkeit als Wertmaßstab akzeptieren? Was heißt hier Ewigkeit, wenn das Lebensalter eines Buches im Frieden dreißig Jahre beträgt (im Krieg kommt es früher um) und danach die Papierbakterien es zu Brei zu machen drohen?! Soll der Schriftsteller auf eine höhere literarische Gerechtigkeit hoffen? Welche Gerechtigkeit, wenn immer öfter schlechte Bücher hochgepuscht und gute totgeschwiegen werden?! Soll er auf den Leser hoffen? Welchen Leser, wenn dieser den Verlockungen am Wegesrand erliegt: den mächtigen Buchhandelsketten, den Flughafenkiosken und Amazon.com. Der Schriftsteller, der die Regeln des Literaturmarktes nicht annimmt, ist zum Aussterben verurteilt. Ein Leser, der das Marktangebot ablehnt, ist zu literarischer Abstinenz verurteilt oder muß schon gelesene Bücher wieder lesen. Der Autor und sein Leser sind heute zu einem Leben in der Halbillegalität verdammt. Den Buchmarkt beherrschen Buchproduzenten, Bücher zu produzieren heißt aber nicht, Literatur zu produzieren. (S. 9f.)


Ugresic, Dubravka: Lesen verboten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002.
235 S. Geb. ISBN: 3-518-41315-5


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