Der BuchstabensaufausVon Uwe Tellkamp Christian las. Und wenn er nicht las, fing er manchmal an zu lachen. Früher hatte er Jules Verne gemocht, Jack London und Gerstäcker, hatte Mark Twains "Huckleberry Finn" und "Tom Sawyer" wieder und wieder gelesen. Er hatte Abenteuergeschichten geliebt, Stevensons "Schatzinsel", Defoes "Robinson Crusoe", Geschichten von Spionen, Musketieren und Agenten. Zu Beginn der EOS aber hatte ihm Meno ein Buch gegeben, das Christian auf eine Weise beeindruckte, die er sich nicht erklären konnte; es war "Die Welt von gestern" von Stefan Zweig, ein Buch, das von einer lange versunkenen Zeit, der Bello Epoque im Wien der Jahrhundertwende, erzählte. Es wimmelte darin von Namen, Anspielungen, Zitaten, die Christian von Meno selbst und von Niklas gehört hatte, ein Wiedeerkennungseffekt, der ihn begeisterte. Nicht nur das, eine Nebenbemerkung Stefan Zweigs ging ihm nicht aus dem Sinn: daß man in Europa vor dem Ersten Weltkrieg keinen Paß brauchte, um zu reisen, wohin es einem gefiel; daß man in Paris oder Florenz studieren konnte, wenn man wollte (und, verstand sich, sofern man das Geld dazu hatte). In diesem Buch fand er eine Weite des Horizonts, die er selbst von den Türmern bisher nicht gekannt hatte. Im "Lager für Arbeit und Erholung" hatte er die "Wahlverwandtschaften" gelesen, mehr aus Renommiersucht Verena gegenüber als aus Interesse; jetzt gab ihm dieses Buch von Zweig eine Ahnung von Weltliteratur. Weltliteratur - in der Schule hatten sie auch davon gesprochen (Goethe, Faust I: aber Christian spielte damals noch lieber Schiffe versenken oder Handball); er hatte wolkige Vorstellungen davon gehabt: Das waren die grauleinenen, würdevollen Buchreihen hinter dem Glas des Bücherschranks im Wohnzimmer der Karavelle, die auf Christian zu starren schienen mit dem Ausdruck: Du bist zu jung, zu dumm für uns. Aus Geringschätzung, die schon mit Neugier gemischt war, hatte er manchmal ein Buch aus der Reihe gezogen, hier geblättert, da einen Absatz gelesen (Liebesdialoge, auch das noch), hatte es vorsichtig in der Hand gewogen und zurückgestellt. Er mußte lesen, er mußte lernen. Er sagte sich, daß seine Vorbilder mit vierzehn, fünfzehn Jahren schon weiter gewesen waren als er mit seinen siebzehn; er sagte sich, daß er, um wirklich einmal zu den großen Forscherpersönlichkeiten zu gehören, sein bisheriges Pensum zum mindesten zu verdoppeln habe. Jeden Tag in Waldbrunn sehnte er das Ende der Schulstunden herbei, um endlich an seine eigenen gehen zu können. Er lernte wie besessen, acht bis zehn Stunden am Tag, Schulisches und Außerschulisches, vom Schulischen aber nur soviel, wie nötig war, um in den Klassenarbeiten und mündlichen Befragungen Einsen zu bekommen. Das Außerschulische bestand (unter anderem) aus täglichen 50 Vokabeln Englisch, Französisch und Latein, neben erweiternden Lektionen Chemie, Physik und Biologie. Christian paukte Tag für Tag bis zur Verbitterung, die spätestens um Mitternacht eintrat, weil er um diese Uhrzeit für gewöhnlich alle Vokabeln durcheinanderwarf, vom biochemischen Krebs-Zyklus (ein Geflecht disteliger Formeln, gedacht für Medizinstudenten im zweiten Studienjahr) einen der fast unaussprechlichen Namen auf auf -at oder -ase vergessen hatte, nicht mehr wußte, was der Unterschied zwischen einem Enzym, einem Vitamin und einem Hormon war. Er war zum Umfallen müde, aber es war noch nicht genug. Danach zwang er sein Gehirn, das ihm schon Trugbilder vorgaukelte, zur Lektüre von mindestens einem Kapitel Weltliteratur. Wehe, wenn es jemand wagte, seinen Tagesablauf zu stören; Christian hatte auch schon Frau Stesny, die ältliche Internatsleiterin, durch einen Tobsuchtanfall verjagt; erstaunlicherweise hatte sie sich bei Direktor Engelmann nicht beschwert. Im Internat wurde er scheel angesehen, weil er sich von allem ausschloß. Swetlana Lehmann zeigte ihm einen Viogel, Verena zuckte die Achseln, Jens spottete. Nur Siegbert schwieg, Siegbert mit seinem kleinen Schreibtisch voller Streichholzschiffe und Segelhandbücher, der sämtliche Dienstgrade der Volksmarine kannte (und auch der NS- Kriegmarine, aber das durfte niemand wissen), die Schiffstypen, Kreuzerklassen und Tonnagen, Siegbert Füger, der zur See gehen wollte und nautische Gerschichten liebte, besonders die Corto-Maltese-Hefte von Hugo Pratt; Christian hatte ihm einige Exemplare, die Schiffsarzt Lange doppelt hatte, mitgebracht. Er las sogar die Odyssee und die Argonautensage des Apollonios Rhodios, die Berichte von Pharao Nechos Kapitän und Herdodot. Als die Internatsleiterin in ihrer Not die Klassenzimmer zusperren ließ, in denen Christian abends lernte (er beeinträchtigte die Internatsnachtruhe, und nicht nur dann, wenn sein überspanntes Gehirn früh um zwei Uhr auf die Idee kam, sich auf dem Violoncello oder auf dem schuleigenen Klavier zu entladen) - nun, wenn Frau Stesny die Zimmer zusperrte, arbeitete Christian eben auf der Toilette weiter. Er schließ wenig, vier bis fünf Stunden nur, und ging mit glasigen, rotgeränderten Augen in den Unterricdht, wo er vor Müdigkeit dahinduselte und erst am schadenfrohen Kichern der Klasse merkte, daß er gerade aufgerufen worden war. Die Bücher begannen ihm anzuhaften, wie er es nannte, für die anderen wurden sie so etwas wie sein Wahrzeichen. Selten ging er irgendwohin, ohne ein Buch dabeizuhaben. Er las in den Schulpausen, wenn die anderen ihre Brote aßen oder, in der großen Pause, hinaus auf den Hof gingen, wo die Mädchen Kasetten tauschten und die Jungs einen Skat klopften, Reden über Rockbands schwangen, die letzten Fußballergebnisse kommentierten. Er richtete sich sogar verschiedene Buchkategorien ein: Lektüre für den Bus, mit dem er nach Desden fuhr, Lektüre für denjenigen Unterricht, der ihn langweilte (Englisch bei Frau Kosinke, Geographie bei Herrn Plink, der immerzu grinste und mit einem Zeigestab auf den Hängekarten herumfuhr), Lektüre für die Freizeit (das tägliche Kapitel) und Lektüre für die Schulpausen. Bald genügte es ihm nicht mehr, täglich nur ein Kapitel Weltliteratur zu lesen, und er setzte 100 Seiten fest. Sein Tag ging bis weit in die Morgenstunden des nächsten Tages hinein. In den Herbstferien, in denen er selbstverständlich weiterlernte, erhöhte er das Pensum auf täglich 400 Seiten, so daß er manchmal vierzehn, fünfzehn Stunden hintereinander las und sich danach mit rollenden Augen von der Couch erhob, bleich und blaß wie ein Kartoffelsproß. Manchmal las er zwei oder drei Bücher am Tag und wußte am Ende von Tagore, beispielsweise, nur noch, daß in der verflossenen Woche schon fünf Bücher dieses Autors hinter ihm lagen. Er durchpflügte die Waldbrunner Bibliothek, brachte die Gesamtausgaben Max Plancks, Rutherfords, Albert Schweitzers nach drei Wochen zurück, um für die nächste Woche die nächsten verlockenden Stapel mitzunehmen, und je dicker ein Buch war, desto besser! Christian liebte dicke Bücher. Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane. Mit 500 Seiten begann der Ozean, drunter war Bachpaddeln. Vergeblich schüttelte Meno den Kopf und wies darauf hin, daß in einer kurzen Geschichte Tschechows mehr Welt, mehr an Leben und Kunst stecken konnte als in manchem bloß dickleibigen Wälzer. Aber Christian griff nach den Blauwalen, wie er die großen epischen Romane Tolstois, Dostojewskis, Thomas Mann, Musils und Doderers nannte, er liebte Thomas Wolfe, aus dessen Büchern Schiffsirenen, Musik von den Südstaaatendampfern, die Pfiffe der amerikanischen Kontinentalzüge klangen. Er las, daß Eugene Gant (also Wolf selber, dachte er) in zehn Jahren zwanzigtausend Bücher gelesen hatte (was Christian schier unvorstellbar schien), ein wahrer Buchstabensaufaus also. "Jetzt knallen bei Christian alle Sicherungen durch", sagte Verena. 500 Seiten mußten es an freien Tagen sein, dafür ließ er Chemie und Physik beiseite. Nun geschah folgendes: Robert hatte sich in irgendeinem Balzac festgefressen und schwartete einfach so, an einem einzigen Tag und aus heitrem Himmel, 555 Seiten weg. 55 Seiten mehr als Christian. Das durfte es nicht geben; Christian war in puncto Lesen und Lernen der Chef im Haus, Roberst Rekord mußte gebrochen werden. Eines Tages stand Christian früh um vier Uhr auf, wusch sich, frühstückte nicht zu reichlich und begann zu lesen. An diesem Tag wollte er nichts lernen, er sollte ganz und gar dem neuen Rekord gewidmet sein. Er las von 4.30 Uhr bis 24.00 Uhr ununterbrochen, allerdings mit zwei überaus lästigen Pausen durch Mittagessen und Abendbrot, die die besorgte Anne ihm aufdrängte. Schlag Mitternacht hatte er 716 Seiten gelesen - und vergessen, aber was machte das, der Rekord war gebrochen. © Uwe Tellkamp: Der Turm, Frankfurt am Main, 2008. ISBN 978-3-518-42020-1. Seiten 151-155 |