Die süße Freiheit, um zu lesenvon Sara Sef Ich bin gekommen, im Ihnen zu danken und mich zu verabschieden. Sie wissen ja, was geschehen ist: Ich habe zu lesen gelernt und Gesellschaft in meiner Einsamkeit gefunden, das Schweigen hat sich mit Stimmen angefüllt, die Leere mit Traumbildern bevölkert. In den Büchern habe ich das gefunden, was ich benötigte, jetzt gehört die Welt mir und darüber hinaus sogar noch ein Stückchen Ewigkeit. Im Gedicht heißt es: " Ich regiere über Drachen, Götter und Monde!" Ich habe alles erleben können, nichts vom Leben ist mir verlorengegangen. Ich bin quer durch die Zeiten, bin vor und zurückgegangen, habe Lanschaften und Inseln erforscht, die Menschen und ihre Geheimnisse, ihre Mißerfolge, ihre Ängste, ihre Worte und ihren Glauben kennenlernen können. Ich habe ein Leben nur mit meinem Herzen sowie ein Leben ganz im Geist der Vernunft gelebt, doch auch der Zufall mit seinem Überraschungen hat mir nicht gefehlt. Ich bin in große Romanzen eingetaucht und ebenso in mystische Verzückungen, in revolutionären Kampfgeist und in das Feuer der Poesie. Ich habe mir die Lust vorgestellt, und ich habe nicht nur alle Leidenschaften erlebt, sondern auch die Vielfalt in all ihren Schattierungen. Einmal war ich Wissenschaftlerin und ein andermal Philosophin, und in beiden Fällen habe ich mir Fragen gestellt und gewußt, wo ich die Antworten zu suchen hatte. Ich ließ mich von der Musik hinreißen, die meine Seele in Aufruhr versetzte, und ging in der Mutterschaft auf, die mich erfüllte. Ich versuhte mich als reiche, sagenhaft reiche Frau, und ebenso als gänzlich arme, die weniger als das besitzt, was für jeden heute unentbehrlich wäre. Ich konnte das Land bebauen, das uns ernährt, und ihm die heilige Nahrung entlocken, und ich habe ebenso erfahren, wie das Leben in der unberührten Natur ist, in dem ich mich vom Wind streicheln ließ. Ich habe in völliger Zurückgezogenheit gelebt, fern von der Welt, und habe auch erfahren, wie es ist, diese Welt nach Lust und Laune zu durchreisen, ohne irgendwo Wurzeln zu schlagen. Ich habe Treue und Gleichgültigkeit, Zärtlichkeit und Begeisterung, die höchsten Freuden und ebenso Enttäuschung kennengelernt. Ich war großmütig, jähzornig, entschlossen. Ich war auch furchtsam, unterwürfig und meinem Schicksal ergeben. Ich habe überall gelebt, wo ich gerne leben wollte: in Indien, in Rußland, in Kuba und in New York, am Meeresufer und inmitten der Wüste, in den Straßen der Städte und zwischen den Ähren der Felder. Ich habe gelebt, wann ich wollte: in vergangenen Jahrhunderten sowie in allen möglichen Jahren des laufenden Jahrhunderts. Ich habe gelebt, mit wem ich wollte: zusammen mit einfachen Männern und Frauen sowie an der Seite von Helden. Große Meister haben mich auf dem Weg des Kampfes, auf dem Weg der Lust, auf dem Weg der Kunst und auf dem Weg des Glaubens geleitet. Ich habe die unglaublichsten Wunderwerke, die erstaunlichsten Geheimnisse, märchenhafte Städte und unvorstellbare Schätze gesehen. Ich habe von Speisen gekostet, die mit den fremdartigsten Gewürzen zubereitet waren, und ebenso von Früchten und Süßspeisen von sonderbarem Geschmack. Ich habe auf meiner Haut Duftöle, Parfums und Stoffe gespürt, von deren Existenz ich noch nicht einmal etwas geahnt hatte, ich prägte mir Metaphern über Dinge ein, die ich noch nicht gesehen habe und von denen ich nicht weiß, ob ich sie jemals sehen werde, ich habe zu Gottheiten gebetet, deren Namen mit unbekannt sind, von denen ich nicht einmal ein einziges Wort auch nur aussprechen könnte.Ich bin durch das Land gereist, in dem die Orangen blühen, und durch das Land der blauen Berge, ich bin dort gewesen, wo der Schnee die Berghänge bedeckt und dort, wo der Himmel leuchtend kalr ist. Ich habe zu Füßen einer Birke geschlafen und am grünen, glasklaren Meer. Ich bin durch alte Dörfer gewandert und habe in kaum erleuchteten Kaffeehäusern gewartet. Ich habe Häuser und Brücken gebaut, Steine ins Rollen gebracht. Und ich bin auch durch das Feuer der Leiden und des Schmerzes gegangen. Ich habe Drogen und Gewalt kennengelernt, Demütigungen erlitten, die die Menschen einander zufügen können, sowie den tiefsten Kummer und bin dem unausweichlichen Tod begegnet. Und wenn ich während dieser Zeit an einem Tag Seine erhabene Gegenwart vergessen habe, so war ich an einem anderen dagegen eine fromme Gläubige. An einem Tag habe ich gezweifelt und die Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit aufgegeben, und an einem anderen fand ich schließlich den Weg des Herrn. Ja, all dies habe ich getan. Ich habe es gewagt, mir die unterschiedlichsten Masken anzulegen und eine andere zu sein, ich habe es gewagt, das Glück zu suchen, als hätte ich ein Recht darauf. Warum auch nicht? Es gab Zeiten, da habe ich mich nach dem Sinn des Lebens gefragt, und es gab andere, da habe ich es einfach nur gelebt. Es gab Zeiten, da wollte ich aus einem Stück geschnitzt sein, und es gab andere, da bekannte ich mich zu den zahllosen Wesen, die in meiner Brust wohnen, und zu den unzähligen Gestalten, die in meinem Inneren spuken. Es gab Zeiten, in denen ich nachdachte, Zeiten, in denen ich auf unwegsamen Pfaden wandelte, voll von dem Geröll des Verzichts, es gab Zeiten der Verwirrung und Zeiten, in denen ich begriff, daß wir hier auf Erden sind, um eine Mission zu erfüllen. Ich habe stürmische Tage erlebt sowie Tage der Ruhe, dann wieder andere, an denen andere, an denen sich alle in atemberaubender Geschwindigkeit veränderte. Ich bin auf vielen Wegen gewandelt und bin in die Tiefen hinabgetaucht. Ich habe zu den Höhen aufgeblickt und habe den Lauf der Flüsse bis zur Quelle verfolgt. Viele schlaflose Nächte habe ich verbracht, viele schutzlose Nächte, viele Nachmittage mit leeren Händen. Doch habe ich mir vor dem Ertrinken gerettet, ich habe das Feuer in mir brennen gespürt, habe ein Leben im Überdruß gegen ein Leben im Wahnsinn eingetaucht, mein langweiliges Leben gegen ein Leben voller Ausschweifungen, voller Irrwege, voll von Geheimnis, voll von Magie und voller Illusionen, voll vom Unendlichen und dem Absoluten. Haben Sie den Korintherbrief des Heiligen Paulus im Kopf? "So nehmet mich an als einen Thörichten, daß ich mich auch ein wenig rühme." Wenn ich bei einer Fee alle Wünsche offen hätte, dann würde ich ihr sagen, daß ich nicht mehr begehre, als ich habe, daß ich dort bin, wo ich h ingehöre, genau am richtigen Ort im Universum. Schön sind für mich die Tage, und so soll es auch bleiben: Ich bin Hausfrau, ich hege und pflege mein Heim und meine Lieben, ich habe eine Arbeit, die mir Freude bereitet, und ich verfüge über Zeit, über die süße Freiheit, um zu lesen, und diese unerschöpfliche Quelle läßt mich in meinen vier Wänden die wunderbarsten Abentteuer erleben. Es heißt, niemand besitzt etwas so sehr, wie jener, der es sich erträumt. Es heißt, nur die Träume und die Sehnsüchte sind wahrhaftig. Nun ist die Welt genau so, wie ich sie haben möchte: ein Universum der Verzückung, fünfzig Universen der Verzückung ganz für mich allein. Und es warten noch so viele Wege auf mich. Ich lebe im Land der Träume, und die, die ich bisher geträumt habe, waren herrlich. Und ich danke dafür Gott. Quelle: Doris Maurer (Hg.): Lese-Glück. Eine Anthologie über den Himmel auf Erden. Essen: Klartext, 1996. 2. 14-18. [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |