Erste Lese-Erlebnisse


von Gerhard Roth

Als Kind war Lesen für mich mit großen Mühen verbunden. Ich konzentrierte mich so auf das Entziffern von Buchstaben oder Aussprechen von Wörtern, daß mir der Zusammenhang des Gelesenen oft verloren ging. Namen brachte ich durcheinander, Fremwörter oder Wörter, die ich nicht kannte, verwirrten mich um so mehr, je mehr ich von einem Buch gelesen hatte. Ortsnamen von fremden Städten hatten nichts Farbiges für mich, genauso wie es mich störte, wenn eine Geschichte nicht nur die Hauptfigur begleitete. Ich übersprang ganze Seiten, bis ich wieder auf den mir bekannten Namen stieß und las dann die ausgelassenen Seiten erst am Schluß nach. Farbige Illustrationen halfen mir sehr. Sie regten häufig meine Fantasie so sehr an, daß ich doch zu lesen begann. Die meiste aber bedeuteten mir Bücher nicht viel. Ich besaß auch nur wenige. Winnetou Band 2, den ich nur zum Teil gelesen habe (ich habe überhaupt nie ein Buch von Karl May zuende gelesen, zwei Bücher von Josephine Siebe: Kasperle auf Reisen und Kasperle auf Burg Himmelhoch, die ich oft im Garten unter dem Marillenbaum in einem Liegestuhl las (ich habe eine sehr genaue Erinnerung daran, ich war plötzlich erstaunt, wie tief ich in die Geschichte eingedrungen war. Es war ein angenehmes Gefühl der Schwere, ein leichter Druck im Kopf, eine Müdigkeit, auf die ich stolz war, und dann wieder die Anstrengung und der Zwang weiterzulesen, um das körperlose Gefühl beim Tagträumen wiederzugewinnen: Das Sichselbstverlieren, eine andere Identität anzunehmen, wo anders zu sein, ohne dort zu sein), ferner besaß ich ein Buch, das ich mehrmals gelesen habe: Dr. Dolittles Zirkus von Hugh Lofting.

Mit jedem wiederholten Lesen erfuhr ich mehr von der Geschichte. Und gerade das brachte mich dazu, das Buch immer wieder zu lesen: Da waren Passagen, die ich ausgelassen hatte und die sich jetzt als unbekannter, spannender Teil in die Geschichte einschlossen, Namen, die ich beim ersten Mal bis zum Ende der Lektüre falsch gelesen hatte und die ich jetzt mit einigem Erstaunen richtig las, es schien mir, als sei dieses Buch jedesmal voll Überraschungen. Aber ich las nicht oft. Einige Jahre später packte mich so etwas wie eine Leseleidenschaft: Es waren bunte Comic-Hefte: Tarzan, Akim, Prinz Eisenherz, Mickey Maus und Donald Duck, die damals bei vielen Eltern verpönt waren und darum, noch mit dem Ruch des Verboteten behaftet, doppeltes Interesse hervorriefen. In der Schule wurden die Hefte ausgetauscht und eine Zeitlang gehörte es zum guten Ton, während des Unterrichts zu lesen, ein Vergnügen, das ich in erster Linie deshalb genoß, weil man bei den Mitschülern den Eindruck von Kaltblütigkeit erwecken konnte, denn man lief Gefahr - wurde man entdeckt-, daß das Heft weggenommen und man bestraft wurde. Doch das Interesse an Comic-Heften ließ schon nach einigen Jahren nach und ich begann mich mehr für Mädchenbekanntschaften zu interessieren. Zwei, drei Jahre später verfiel ich tatsächlich dem Lesen, das seither zu einer Art Droge für mich geworden ist: Ich las so viele Schriftsteller, die mich beeindruckten, daß ich immer schwerer meine eigene Sprache fand ... Ich wollte schreiben wie Rilke und Trakl, wie Hemingway, wie Dostoevskij und Hamsun, dann wie Borchert und Benn, Mann und Kafka ... ich lief tatsächlich Gefahr, mich mit dem Lesen selbst zu zerstören.

Aber das Lesen half mir zugleich über Krankheiten und Depressionen hinweg, über Phasen der Kontaktlosigkeit und manchmal auch der Einsamkeit. Ich las alle "Jugendbücher" im Nachhinein, zum Teil als ich schon über 20 war: Moby Dick und Robinson Crusoe, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, den Lederstrumpf und Seewolf, und ich lese diese Bücher auch heute gerne ... "Es begann damit" - und ich schreibe diesen Anfang deswegen gerne, weil ich viele Geschichten gelesen habe, die so oder ähnlich anfangen, es begann also damit, daß ich in der Familie meiner Frau eine Menge Bücher vorfand, die ich mir, als mich langweilte, näher ansah. Ich suchte mir den Roman Radetzkymarsch von Joseph Roth und blätterte herum. Ich hatte mir das Buch wegen der Namensgleichheit von Joseph Roth mit meinem Namen ausgesucht, und außerdem erschienen mir der Buchtitel und der Umschlag - ein Foto aus einem K.u.K.-Film mit Rudolf Prack und Winnie Markus - dafür geeignet, meine Lesescham, die ich ein wenig empfand, leicht in Spott auf das Buch überzuleiten, falls mich jemand darauf ansprechen sollte. Es war ein stiller Herbstabend, ich glaube Sonntag, ich lag auf einer Couch und es wurde dunkel und ich las die Geschichte des letzten Trotta (da stand auch der Satz: "Er las keine Bücher und bemitleidete im stillen seinen heranwachsenden Sohn, der anfangen mußte, mit Griffel, Tafel und Schwamm, Papier, Lineal und Einmaleins zu hantieren, und auf den die unvermeidlichen Lesebücher bereits warteten") und war bald so sehr gefangengenommen, daß ich am nächsten Tag meine Mutter bat, das Sonntagsgericht des Herrn von Trotta und Sipolje zu kochen: Nudelsuppe, Tafelspitz, rote Rüben, Spinat, Salat, Meerrettich und Kartoffeln mit Butter und als Nachspeise Kirschenknödel. Von da ab begann eine wilde chaotische Phase des Lesens, ich las Alain-Fournier und Andre Gide, Musil und Joyce, Tschechow und Maupassant, Grass und Camus, und bald darauf versuchte ich selbst zu schreiben.


Quelle: Gerhard Roth: Erste Lese-Erlebnisse. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]