Der einsame Leservon Gerhard Roth Er lag mit geschlossenen Augen da und dachte an Bücher, die er lesen wollte oder schon gelesen hatte. Er war immer neugierig darauf, ein Buch aufzuschlagen und den ersten Satz zu lesen. Manche Anfänge hatten ihn so elektrisiert, daß er die Lektüre unterbrochen hatte, um den Genuß der Inspiration auszudehnen, bevor er weiterlas und kurz darauf wieder eine Pause machte: bei Hamsuns Mysterien war es ihm so ergangen, Günter Brus' Irrwisch und den Erzählungen von Borges, Kleist und Kafka - grandiose (unkonventionellen Schachspielern ähnliche) Eröffnungskünstler, die in ihrer zeitungshaften Lakonik und epischen Kürze einen besonderen Reiz auf ihn ausübten. Die Erinnerungen an ein gelesenes Buch waren wie das Betrachten alter Reisefotografien: manches war vergessen, verblaßt, manches hatte an Bedeutung gewonnen, manches hatte sich in der Erinnerung verändert. Es gab Bücher, die er wieder und wieder las, wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Melvilles Moby Dick oder Joyces Dubliners und Ulysses, oft kam er sich dabei vor wie der Franzose Jean-Francois Champollion, dem es gelungen war, den Stein von Rosetta zu entziffern und damit die ägyptischen Hieroglyphenschrift. (Der Stein war neben den Hieroglyphen in demotischen und griechischen Buchstaben beschriftet gewesen, und Champollion hatte erkannt, daß die Hieroglyphen sowohl Ideogramme als auch phonetische Zeichen waren und daher für Silben und Bedeutungseinheiten standen.) So entdeckte auch er Schicht um Schicht die Geologie von Büchern und stieß auf neue unbekannte Zonen. Feldt verlor sich jetzt in seinen Gedanken... Als Bub hatte er einen Bericht über Howard Carters "Entdeckung des Grabes von Tut ench Amun" gelesen, nachdem er schon Karl Mays "Durch die Wüste" verschlungen hatte, das lange sein Lieblingsbuch (damals hatte er noch solche Kategoieren) gewesen war. Und er hatte sie mit demselben Entdeckungseifer gelesen wie jetzt die "Göttliche Komödie" und vieles beim ersten Mal nicht verstanden. Von Howard Carters Bericht war ihm ein gelbes, mysteriöses Innenbild in Erinnerung geblieben, ein geheimnisvolles und rätselhaftes Phantasiegebilde, da zugleich etwas Fiebriges hatte, wie William Turners Gemälde "Interieur in Petworth", da zu brennen scheint oder trancehaft eine Geistererscheinung festhält. 1 Von "Robinson Crusoe", einem anderen Lieblingsbuch, tauchte ein grünes und blaues Leuchten in seinem Kopf auf, wenn er daran dachte, der Schrein eines Papageis, der Todesgeruch eines am Strand faulenden Schiffwracks, ein trockener Gewehrschuß und die Fußspuren von Kannibalen im Sand. Die Liebe zu seinen Jugenbüchern hatte nie nachgelassen. "Gullivers Reisen" hatte er auf seinen Flügen nach Amerika und England bei sich gehabt, es war die kleine gelbe Studienausgabe des Reclam-Verlages - sogar beim Begräbnis seines Vaters hatt er sie eingesteckt, bevor er zum Friedhof gefahren war. Am nächsten Tag hatte er sie dann gegen die Inselausgabe des "Tristram Shandy" getauscht, das geschwätzigste Buch der Welt, wie er es liebevoll für sich bezeichnete, weil es gleichzeitig monologisiert, sich unterbricht und unverdrossen weitererzählt, während draußen die Welt weitergehen kann. Er war davon überzeugt, daß niemand sonst Bücher so inspiriert las wie er - aber gleichzeitig würde er niemals mit irgend jemandem darüber sprechen, da er dachte, daß jeder ernsthafte Leser dieser Überzeugung war. Nach Tristram Shandy hatte er Hermann Hesses "Steppenwolf" eingesteckt, aber seltsamerweise nie aufgeschlagen. Es gab Werke, die er nie gelesen hatte und trotzdem verehrte, wie Joyces "Finnegans Wake" oder Miltons "Das verlorene Paradies". Er war davon überzeugt, daß die Vorstellung, die er sich von ihnen machte, inspirierender war, als es die tatsächliche Lektüre sein würde. So blieben noch alle Möglichkeiten, ungeahnte Perspektiven des Lesens für ihn offen (vielleicht sogar die absolute Erfüllung, lesend auf das wirkliche Leben verzichten zu können). Nach dem "Steppenwolf" kam "Don Quichotte". Von "Don Quichotte" blieb in seinen Gedanken eine quecksilberfarbene Hitze und etwas wie das Erwachen nach einem schweren Rausch zurück. Dieses Katergefühl stellte sich auch beim Wiederlesen ein und - wie immer, eine Benommenheit, wenn er die Lektüre unterbrach. Bei Inoues "Jagdgewehr", das er monatelang in seiner Jackentasche mit sich getragen hatte, roch er kalte Luft, sah die Maserung eines aufgeschlagenen Steines und ein Lippenpaar so nahe vor den Augen, als wollte er seine Lider küssen. Ein Gefühl des Entspanntseins wie nach getaner Arbeit, wenn der Körper von Müdigkeit schwer wurde, der Verstand hingegen das Gewicht der Vorausplanung verlor. Die letzten beiden Bücher - er erinnerte sich natürlich nicht an alle - waren "Königin Albermarle oder Der letzte Tourist" von Jean Paul Sartre gewesen (beschwerlich, da Hardcover-Ausgabe) und Harold Brodkeys nahezu klassische Stories "Unschuld". Die "Göttliche Komödie" hatte er sich lange schon vorgenommen. Immer wieder hatt er in ihr geblättert, die verschiedensten Ausgaben gekauft, in den Kommentaren gelesen und versucht, in die Jenseitsbeschreibungen einzudringen. Schließlich hatte ihn der ersehnte Sog erfaßt und hineingezogen in die Selbstvergessenheit, in der er andere Bereiche seines Ichs endeckte. Es war etwas Ähnliches wie Aldous Huxleys Erfahrung mit Meskalin in "Die Pforten der Wahrnehmung", eine unbekannte Sicht auf die Dinge, die Menschen, die Welt, eine zugleich rücksichtslosere und ehrfurchtsvollere stellte sich ein: Ehrfurchtsvoller, was jede Einzelheit betraf, rücksichtsloser, was die vorgegebenen Bedeutungen anging. Insgeheim war er davon überzeugt, daß er religiöse Erfahrungen waren, aber wie hätte er, beim ersten Lesen noch halbes Kind, jemanden davon überzeugen können, daß "Alice im Wunderland" für ihn eine Vorahnung des Sterbens war? Halb erschrocken stürzte er damals in einen Lesesog, in dem die Trümmer eines untergegangenen Alptraumes trieben. Aber vielleicht interpretierte er das nachträglich hinein, denn das Buch hatte das Innenbild fliegender, schwebender, kreisender Gegenstände in ihm hervorgerufen, die Töne von Musikkapellen beim Stimmen von Instrumenten im Orchestergraben und den Geschmack in Alkohol angesetzter Himbeeren. Was niemand wußte, war, daß er von Kindheit an eine irrwitzige, unbestimmte Furcht mit sich trug, die zugleich ein kaum sichtbarer verräterischer Funken Licht in der schrecklichen Dunkelheit seiner Anfälle war, die Furcht, eines Tages ohne Asthma leben zu müssen. Nein, Furcht war nicht das richtige Wort, und auch der zweite Halbsatz "ohne Asthma leben zu müssen", war zu eindeutig, und es war ihm, als verurteilte er sich selbst. Ein Anfall war eine grauenvolle Situation, in der er Angst um sein Leben empfand, aber anschließend gestattete er ihm auch, sich die Freiheit zu nehme, die ihm oft verwehrt wurde (nicht nur von den anderen, sondern auch von seinem eigenen Gewissen); die Freiheit, mit Genuß zu lesen. Da er sich über dem Lesen erholte, war man sogar erleichtert, wenn er erschöpft nach einem Buch griff und, begleitet von den Lungen- und Bronchiengeräuschen in seiner Brust, mit der Lektüre begann. Er wagte es aber nicht, einen Menschen ins Vertrauen zu ziehen, daß er seine schönsten, intensivsten Leseabenteuer nach Asthmaanfällen erlebt hatte, so als hätte er durch die damit verbundene Gefahr erst Verstand und Phantasie befreit. Der Leser war für ihn ein Künstler ohne Werk. Er war davon überzeugt, daß ein Lese-Künstler keine andere Kunst ausüben durfte als das Lesen, um die Reinheit der Lese-Kunst zu wahren. Aus: Gerhard Roth: Der Plan, Frankfurt/M.: Fischer, 2000 [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |