Der Hungerpastorvon Wilhelm Raabe Ich schätze und liebe (...) den wackern Meister Anton Unwirrsch, den Vater von Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch. (...) Aus allen Reliquien seines verborgenen Daseins geht hervor, daß er die Mängel einer vernachlässigten Ausbildung nach besten Kräften nachzuholen suchte; es geht daraus hervor, daß er Wissensdrang, viel Wissensdrang hatte. Und wenngleich er niemals vollständig orthographisch schreiben lernte, so war er doch ein dichterisches Gemüt, wie sein berühmter Handwerksgenosse aus der "Mausfalle" zu Nürnberg, und las, soviel er nur irgend konnte. Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, der ihm ganz allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden sein konnte. (S. 16) Hans Unwirrsch war ein frühreifes Kind und lernte das Sprechen fast eher als das Gehen; das Lesen lernte er spielend. Die Base Schlotterbeck verstand die letztere schwere Kunst sehr gut und stolperte nur über allzu lange und allzu ausländische Worte. Sie las gern laut und mit einem näselnden Pathos, das den größten Eindruck auf das Kind machte. Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel, Gesangbuch und einer langen Reihe von Volkskalendern, welche sich seit dem Jahr siebzehnhundertneunzig in ununterbrochener Reihenfolge aneinanderschlossen und deren jeder eine rührende oder komische oder schauerliche Historie nebst einem Schatz guter Haus- und Geheimmittel und einer feinen Auswahl lustiger Anekdoten enthielt. Für eine reizbare Kinderphantasie lag eine unendliche reiche Welt in diesen alten Heften verborgen, und Geister aller Art stiegen daraus empor, lächelten und lachten, grinsten, drohten und führten die junge Seele durch die wechselndsten Schauer und Wonnen. (S. 32) "Lerne, daß dir schwitzet der Kopf, Moses", sagte er, sobald der Knabe nur irgend imstande war, ihn zu verstehen. "Wenn se dir hinhalten an Stück Kuchen und an Buch, so laß den Kuchen und nimm das Buch. Wenn du was kannst, kannste dich wehren, brauchste dich nicht lassen zu treten, kannste an großer Mann werden und brauchst dich zu fürchten vor keinem, und den Kuchen wirst du auch dazu bekommen. Se werden dir ihn geben müssen, ob se wollen oder nicht." (S. 87) Seit sein Sohn wirklich auf dem Wege war, ein gelehrter Mensch zu werden, hatte Samuel Freudenstein seinen Bücherhandel erweitert. Es verging kaum ein Tag, an welchem er nicht einen Haufen alter Scharteken in Schweinsleder, Franzband oder Pappband in das Hinterstübchen schleppte und um den Arbeitstisch seines Sohnes aufhäufte. Wenn nun Moses den größten Teil dieser Bücher als unnützen Plunder verächtlich beiseite schob, so wühlte Hans mit gieriger Wonne darunter und verschlang alles durcheinander, wie es ihm in die Hände fiel. Griechische und lateinische Klassiker, Reisebeschreibungen, moderfleckige, abstruse Theologie, vergessene philosophische Traktate, moderne inländische und ausländische Dichter waren ihm gleich willkommen, wenn auch nicht gleich geschätzt. Es gab fast keinen Tröster, über den nicht sein Geist sich aus der Gegenwart verlieren konnte, um im blauen Äther, der über den Dingen ist, träumerisch lächelnd zu schweben, bis ihn die metallscharfe Stimme des Freundes durch eine ironische Frage oder Bemerkung wieder herabzog in die dunkle Stube in der Kröppelstraße, die dunkle Stube mit der schönen Aussicht auf den schwarzen Hof, über welchen so viele schnelle und feiste Ratten liefen. Der sinnreiche Junker Don Quijote de la Mancha allein hob unsern Hans vergnügt über einen ganzen, langen Winter hinaus, und die Schillerschen und Goetheschen Dichtungen, die hinunter in die dumpfige, dunkle Stube gerieten, waren imstande, alle Regentage des Lebens in ein olympisches Sprühen von Goldsonnenfunken zu verwandeln. Hans Unwirrsch gehörte in dieser Epoche zu den Glücklichen der Erde. (S. 132) Kleophea erschien dem Hauslehrer als ein Wunder, und sie war es auch in mancher Beziehung. Außergewöhnlich schön, war sie auch außergewöhnlich talentreich. Sie zeichnete und malte vortrefflich, doch am liebsten Karikaturen, sie spielte Klavier und sang, wenngleich ihre Stimme nicht zu den klangvollsten gehörte; sie sprach und schrieb mehrere Sprachen, am liebsten aber die französische. Sie las viel, überschlug aber auch viel, doch nie das, was junge Damen lieber überschlagen sollten. Eine ihrer schrecklichsten Waffen gegen die Mama war, daß sie imstande war, in einem vollen Gesellschaftszimmer höchst unbefangen Bücher und Schriftsteller zu zitieren, die einen ganzen Teetisch in die Luft sprengen konnten. In einem Damentee, und noch dazu in einem frommen, den Boccaccio und den "Decamerone" zu nennen mußte freilich auf die Mama wirken wie ein Flintenschuß auf eine Schneealpe. Es kam eine Lawine herunter, aber verschüttet wurde weiter nichts als einige Tassen Tee. Das schöne Haupt der Sünderin ließ sich nicht so leicht verschütten; die glänzenden Augen leuchteten munter durch alle eisigen, stäubenden Wirbel, und es befand sich in dem entsetzten Zirkel keine Matrone, die nicht ein Fräulein, das sich in solcher Weise bloßgeben konnte, zu vielen andern Dingen fähig hielt. (S. 361) Aus: Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor: Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |