Eine Bücherbeichte


von Manuel Puig

"Ich erinnere mich, welche Wonne das war, als ich anfing zu lesen. Während der Pubertät. Ich hatte natürlich schon vorher in der Schule gelesen, Lehrbücher, versteht sich. Aber es war inmmer Pflicht gewesen, und ich hatte nur gelesen, weil der Zwang dahinterstand. In der Grundschule führten sie uns einmal in der Woche in eine Bücherei und zwangen uns, ein Buch auszuwählen, uns hinzusetzen und eine Stunde lang zu lesen. Und danach einen Vortrag darüber für den folgenden Tag zu verfassen. Alle haßten wir die Büchereistunde. Ich erinnere mich an ein paar schmale Bändchen über Mittelamerika, eines für jedes Land, Costa Rica, Honduras, Panama... Sie waren sehr hübsch und hatten viele farbige Illustrationen, aber ich mochte nie den Text lesen. All das änderte sich mit der Pubertät.

Nach der Schule verschlang ich die Bücher, das war meine religiöse Periode." "Wer sagte Ihnen, daß Sie Bücher lesen sollten?" "Niemand sagte es mir, ich holte sie mir. In der Kirche gab es Bücher. Die Bibel, das Gebetbuch. Die Priester lasen sie uns vor." "Lasen sie laut?" "Ja, während der Messe. Ich war Ministrant. Und bisweilen assistierte ich in einer Frühmesse an einem Wochentag, ohne die Gemeinde, nur der Priester und ich. Er war ein Riese, mit einem Gesicht wie rohes Beefsteak, einer Brille in Goldfassung, rotem Talar mit ein paar Spitzen darüber und grauem, ganz kurz geschnittenem Haar." "Wie Ihres jetzt." "Die Messe war um sechs Uhr morgens, ich mußte sehr früh aufstehen und ungefährt eine Meile bis zur Kirche laufen. Manchmal war es kalt und dunkel, aber ich freute mich darauf, hinzugehen, weil der Priester und ich allein blieben. Nie kam jemand zu diesen Messen. Manchmal war der Priester müde und schlecht gelaunt und roch aus dem Mund. Er schnurrte, so schnell er konnte, ein paar Gebete runter, und ich mußte 'Amen', 'Amen', 'Amen' sagen...

Aber dann kam der beste Teil. Wir frühstückten im Chorraum. Da hatte er sich dann schon beruhigt und wurde sogar vergnügt. Im allgemeinen kaufte er ein teureres Brot als Mama, und es war herrlich knusprig. Er hörte die Nachrichten im Radio und unterhielt sich mit mir. Danach ging ich zur Schule." "Erinnern Sie sich nicht zufällig an etwas, was er sagte?" "Er fragte mich, wie es mir in der Schule ging. Und bat mich um meine Meinung über die Dinge, als wäre ich ein Mann in Miniatur. Das machte mich glücklich." "Empfahl er Ihnen Bücher?" "Ich erinnere mich nicht. Aber er hatte eine große Bibliothek. Ich lieh mir Bücher aus." "Bücher mit Illustrationen? Romane? Gedichte? "Nein, dicke Wälzer über Geschichte und über Religion." "Tat es Ihnen leid, wenn Sie sie zurückbringen mußten?" "Nein, ich konnte mir immer wieder ein anderes mitnehmen. Einmal schenkte er mir eins, ein schwarzes Büchlein mit vergoldeten Lettern, mit Auszügen aus dem heiligen Augustinus. Ich habe es tausendmal gelesen. Verstanden habe ich nie etwas, aber ich war überzeugt, daß es mir gefiel." ---- "Danach begann ich auf eigene Faust zu lesen. Philosophie, Theologie, je verworrener, um so besser. Am liebsten mochte ich die langen, verwickelten Sätze, mit Verweisen auf Verweise von Verweisen. Das Thema war nicht wichtig, es war die Bewegung, die es gewann, die mir Freude machten.

Ich nehme an, was da zutage trat, war meine Fähigkeit, zu genießen. Aber Mama nahm mir alle Bücher weg. Es gab ein Kapitel in 'Sein und das Nichts' von Sartre mit der Überschrift 'Der Körper'. Sie glaubte, es wäre ein pornographisches Buch, und warf es in den Müll. Alles, was sie nicht verstehen konnte und was mir Freude machte, war ihr verdächtig." "Hielt Ihr Vater es auch für pornographisch?" "Mein Vater konnte gerade mal die populärste Abendzeitung lesen. Und meine Mutter warf ihm immer seine Unwissenheit an den Kopf." "Wer gab Ihnen Geld, um Bücher zu kaufen?" "Ich bekam ein monatliches Taschengeld, das ich meistens beiseite legte. Und ich war Schatzmeister vom Klub der Altarkinder. Bisweilen steckte ich die Hand in den Beutel. Bisweilen stahl ich auch Kleingeld, das lose im Haus herumlag. Und ein billiges Buch aus zweiter Hand konnte man immer erwischen." "Gab es jemanden, der Ihnen sagte, was Sie lesen sollten?" "Nein, ich begann damit, allein auszuwählen, meine eigenen Stoffe. Sie schienen mir eine Welt ohne Grenzen zu eröffnen, voller Abenteuer ohne Ende."


© Manuel Puig: Verdammt wer diese Zeilen liest. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996. ISBN 3-518-39063-5


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