Die Buchliebhaberin

Fundstücke aus Tom Petsinis' Buch


Ein Lebenselexier
Bücher-Arrangements
Kundenwünsche
Bücher und Zeit
Wie die Franzosen ihr Brot...
Unwiderruflich das Letzte
Himmelsverschmutzer
Wie eine Auster
Wie eine Faust
Rechenschaftpflichtig
Vom Buch beherrscht
Imaginative Freiheit
Eine Kundin
Medium egal
Forderung
In der Bibliothek
Die Freiheit der Sprache
Ästhetik, nicht Anästhesie
Die Bücherverschlingerin


Ein Lebenselexier

Ausgefüllt von ihrem Geschäft und dem Reiz der Bücher vollkommen verfallen, hatte sie nicht das Bedürfnis, sich mit ihren wenigen Freunden zu treffen. Bücher, vor allem Romane, waren schon immer ihr Lebenselexier gewesen. Wann immer sie sich ein bedeutendes Ereignis oder einen Wendepunkt in ihrem Leben ins Gedächtnis rief, geschah es anhand der Bücher, die sie zu jener Zeit gelesen hatte; sie erinnerte sich nicht nur an ihren Inhalt, sondern auch an die Beschaffenheit der Seiten, das Gewicht in ihrer Hand, den Geruch des Papiers. Umgeben von den Objekten ihrer Begierde, gab es nun keinen Grund mehr, das Glück anderswo zu suchen. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 12)


Bücher-Arrangements

Von Kindesbeinen an eine unersättliche Leserin, hatte Sonya ihre Bücher immer in Ehren gehalten und Stunden damit zugebracht, sie auf dem Sperrholzregal, das ihr Vater gebaut hatte, immer wieder neu zu ordnen. Die Möglichkeiten, Farben und Titel zusammenzustellen, schienen unbegrenzt und jedes neue Arrangement war wie eine ganz neue Sammlung. Manchmal las sie sich die Buchtitel laut vor, als wäre diese besonders Klangfolge der Schlüssel zu einer Welt voller Abenteuer, das "Sesam, öffne dich" zu einer Geschichte, die noch darauf wartete, geschrieben zu werden. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 13)


Kundenwünsche

Als Bücherliebhaberin fällt es ihr oft schwer, sich von ihrem wertvollen Besitz zu trennen - eine Notwendigkeit, die sich schon immer bedrückt hat, doch jetzt, wo so viele ihrer Kunden dieser unseligen Mode anhängen, fällt es ihr umso schwerer. Manchmal ist sie kurz davor, einen Verkauf zu verweigern, nicht nur aus Verbundenheit mit ihren Büchern, sondern wegen des schlampigen Aussehens ihres Kunden. Sie atmet jedes Mal auf, wenn ihre Bücher von gleich gesinnten Bibliophilen gekauft werden - von Menschen, die nie einen Buchrücken brechen oder Eselsohren in die Seiten knicken würden, die ihre Bücher an stillen, trockenen, ordentlichen Orten aufheben und für die Lesen so lebenswichtig ist wie Essen. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 44)


Bücher und Zeit

Er beneidet Sonya. Als junger Mann ist auch er ein Leser gewesen. Tatsächlich hatte er seine Entscheidung zu heiraten gegen seine Liebe zu Büchern abgewogen. Auf seine Hochzeitsreise nahm er Aristoteles' Ethik mit. Im Hotelzimmer streifte er beim Umblättern - vertieft in das Zehnte Buch über die Glückseligkeit und ein glückliches Leben - seine frisch gebackene Ehefrau mit einem flüchtigen Blick und hoffte, sie würde noch ein bisschen länger am Frisiertisch sitzen bleiben, wo sie sich nach einem Abend im Theater gerade abschminkte. Er beeilte sich, die wenigen Seiten bis zum Kapitelende zu überfliegen, als sie frisch parfürmiert neben ihm glitt. Sie lag einen Moment lang still, während er weiter Aristoteles' anschaulichen, in eingängige Prosa gekleideten Gedanken folgte. Erst als sie sich ihm zuwandte und anfing, seinen Schenkel zu streicheln, sah er sich gezwungen, das Buch wegzulegen, allerdings nicht ohne die Seite mit einem duftenden Lesezeichen zu kennzeichnen, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Und dann verflucht er aufs Neue ihren Verrat und lamentiert darüber, wie viele Bücher er noch hätte lesen können, wenn er nicht geheiratet hätte. Seit er hauptberuflich Schriftsteller ist, muß er aufs Lesen verzichten, weil wer einfach nicht genug Zeit dazu hat. Wenn Bücher doch nur mit einem Päckchen Zeit auf dem Umschlag verkauft würden: Drei Stunden für 'Herz der Finsternis', zwei volle Tage für 'Krieg und Frieden'. Er geht immer noch gerne in Buchländen, liebt es, zu stöbern und vielleicht ein Dutzend Bücher auszuwählen, obwohl er am Ende nur mit einem oder zweien und noch häufiger ganz ohne nach Hause geht, erfüllt von dem deprimierenden Gedanken, daß er nie genug Zeit haben wird, sie zu lesen. "Des vielen Büchermachens ist kein Ende, und viel Studierens macht den Leib müde", zitiert er eine Passage aus dem Buch Prediger. Doch er stimmt nicht mit dem weisen Salomo überein. Die Zeile hätte lauten müssen: Schreiben ermüdet den Leib, während Lesen ihn nährt. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 46f.)


Wie die Franzosen ihr Brot...

Kopfschüttelnd kommt Cape mit ein paar Büchern zurück an dem Tresen und stützt sich mit der flachen Hand auf die Glasplatte. Das ist wahrscheinlich meine Leserschaft, flüstert er. Sie ist bestimmt arbeitslos und hat alle Zeit der Welt für Bücher. Er muß an Hämorrhoiden leiden, damit ihresgleichen den ganzen Tag in einem gemütlichen Cafe sitzen und über seine Geschichten schmunzeln kann. Er bezahlt Thukydides' 'Der Peloponnesische Krieg', Mark Aurels 'Selbstbetrachtungen' und Platons ' Politeia'. Keine Belletristik für ihn, sagt er und klemmt sich die Bücher unter den Arm. Möchte er eine Tüte? Nein - er mag es, sie so zu tragen, wie die Franzosen ihr Brot. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 48)


Unwiderruflich das Letzte

Ihr Verbrechen beginnt sie zu schmerzen, bohrende Schuldgefühle nagen an ihr und lassen ihr, selbst wenn sie allein ist, keine Ruhe mehr. Doch sie muss ihre Liebe zu den Büchern gegen den Respekt abwägen, den sie ihren Eltern schuldet. Dieses verbotene Vergnügen, ein gestohlenes Buch mit einer gestohlenen Taschenlampe zu lesen, ist nicht recht. Vielleicht ist es nichts weiter als Zerstreuung und Nervenkitzel und unterscheidet sich in nichts von den Erfahrungen derer, die Comics, Liebesromane oder Pornohefte lesen. Es ist schwer zu überwinden, dieses Verlangen, Leib und Seele eines Buches zu besitzen. Sie schleicht sich mit 'Schuld und Sühne' aus der Schulbibliothek. Dieses wird unwiderruflich das Letzte sein - nie wieder stehlen. Dieser Gedanke gerinnt plötzlich zur Überzeugung, nicht aus Angst vor Entdeckung, sondern wegen der überwältigenden Traurigkeit, die sie beim Anblick ihrer Mutter überkommt, die sich ihr Mittagsbrot für den nächsten Tag zurechtmacht. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 59)


Himmelsverschmutzer

Sie starrt abwesend durch die schwarzen Dachbalken von PLAMEN'S GRILL und verfolgt die Kapriolen eines Himmelsschreibers. Nicht größer als eine Bleistiftspitze, sprüht das Flugzeug eine scharfe Linie aus Rauch in den blauen Himmel. Werbung! Sie verzieht das Gesicht und bohrt die Büroklammer unwillkürlich tiefer in ihren Handrücken. Der jungfräulichen Himmel wird missbraucht, Toilettenpapier zu verkaufen! Der Himmel ist für Tagträumer, was Gärten für Spaziergänger und Naturliebhaber sind. In kontemplativen Momenten kann ein klarer blauer Himmel einem Menschen seine Hoffnungen, Träume und still gehegten Ideen widerspiegeln. Er ist dem Denker, was dem Maler die weiße Leinwand und dem Mathematiker ein Blatt Papier ist: Ein Spiegel für die, die einfach sinnieren und deren Gedanken durchaus unverwirklichte Kunstwerke sein könnten. Der Himmelschreiber besudelt kostbaren öffentlichen Raum! Sonyas Empörung wächst, während er seinen ersten Buchstaben, ein B., vollendet. Inserenten haben schon die Erde mit ihren Wurfsendungen verschmutzt, nun verunreinigen sie auch noch den Himmel, korrumpieren das Alphabet und erniedrigen das Wunder des Lesens, indem sie es dazu missbrauchen, ihre Produkte zu verkaufen. Es sollte zwei Alphabete geben, denkt sie plötzlich. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 83)


Wie eine Auster

"Nein", sagte der Amerikaner mit fester Stimme (und ich stimmte unwillkürlich in seinen entschlossenen Ton ein), "das Schreiben sollte eine Bestätigung des Lebens sein, selbst wenn es vom Tod handelt. Ich möchte über die Welt und ihre Wunden schreiben. Außerdem möchte ich Romane schreiben, die sich verkaufen, übersetzt werden und dem Leser neue Erfahrungen und Begegnungen mit dem Tod ermöglichen." "Sie sind im Herzen Reporter." "Schreiben heißt, so klar wie möglich mit der größtmöglichen Anzahl von Menschen zu kommunizieren. Die Idee, für sich selbst zu schreiben, um seine Seele von so genannten Dämonen zu läutern, klingt mir zu sehr nach Psychotherapie." "Vielleicht kann große Literatur nur von denen geschrieben werden, die nicht gesund sind und sich in der Welt nicht heimisch fühlen. Der Prozess ist analog zu einer Auster, die ein Unbehagen wegen eines irritierenden Sandkorns verspürt, das sie mit einem eigenen Sekret ummantelt, glättet und rundet, bis aus dem Ursprung ihres Schmerzes eine Perle geworden ist." "Und die Literatur, die von den Gesunden und Kräftigen geschrieben wird?" "Sie gehört zu der Welt." (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 142f.)


Wie eine Faust

"Warum schreiben Sie vorsätzlich schwierig?" Der Amerikaner hieb unwillkürlich mit der Faust wie mit einer kleinen Ramme auf den Tisch. "Warum nicht schlicht und direkt?", fuhr der Amerikaner fort. "Ein kurzer, sauberer Satz schlägt dem Leser wie eine Faust ins Auge." (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 144)


Rechenschaftpflichtig

In seinem rastlosen Streben nach dem Wort hatte er sein kostbares Familienleben mit Frau und Kindern möglicherweise vernachlässigt. Und wofür? Drei Kurzgeschichtensammlungen, die alle sang- und klanglos untergegangen waren. Vor ein paar Monaten war ihm im Laden zufällig eins seiner Bücher in die Hände gefallen: zerfleddert, mit Eselsohren und von Kritzeleien bedeckt. Auf die Titelseite hatte ein verstimmter Leser geschrieben: Es sollte eine Geld- zurück-Garantie für ungenießbare Bücher geben. Und vielleicht hatte der Leser sogar Recht. Schließlich hatte er oder sie teuer für das Buch bezahlt. Umgerechnet in Zeit, musste man ein oder zwei Stunden arbeiten, um es kaufen zu können, und dann brachte man noch weitere drei oder vier Stunden mit der Lektüre zu. Sechs Stunden kostbare Lebenszeit, und wozu? Ein Produkt, dessen Substanz mehr in seiner glänzenden Verpackung als in seinem Inhalt lag. Wie eine Schachtel Cornflakes waren die meisten Bücher von außen betrachtet viel versprechend, halb leer, wenn man sie öffnete, und wenig nahrhaft, wenn man sie konsumierte. Ja, Schriftsteller sollten ihren Lesern gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Wer weiß, in diesem Zeitalter der Prozesshansel war es absehbar, dass ein Leser einen Verleger wegen irreführender Werbung und den Autor möglicherweise wegen arglistiger Täuschung und Vorspiegelung schon immer zum Geschäft der Belletristik gehört hat. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 217f.)


Vom Buch beherrscht

Seit meinem neunten oder zehnten Lebensjahr nähre ich mich vom gedruckten Wort. Ich kann mich noch an die Enttäuschung jenes Kindes erinnern: Wenn es sich beim Spiel mit Stöcken und Steinen versehentlich geschnitten hatte, erwartete es statt des Blutes ein paar Tropfen Tinte zu sehen. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 164)


Imaginative Freiheit

"Es ist gefährlich, von der Literatur zu leben." "Gefährlicher, als von der Hoffnung zu leben?" "Schau dir an, was es Quixote angetan hat - es hat ihn in den Wahnsinn getrieben." "Wir sehen seinen Wahnsinn als den Versuch seiner Phantasie, sich gegen die dingliche Welt zu behaupten. Don Quijote ist zum Symbol für den Kampf um imaginative Freiheit geworden." (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 178)


Eine Kundin

Eine Frau, eine Stammkundin, betritt den Laden. Aus ihren Gedanken aufgeschreckt, drückt Sonya ihre Zigarette aus und verteilt den Rauch mit einer wedelnden Handbewegung. Die Frau stellt einen tropfenden Regenschirm neben die Tür. Sonya räumt den Aschenbecher vom Ladentisch. Die Kundin ist um die fünfzig, korpulent und halslos, sodass es aussieht, als säße ihr kleiner runder Bubikopf direkt auf ihren breiten Schultern. Die Straße ist überflutet, klagt sie kopfschüttelnd. Die Regierung steckt Milliarden in die Raumfahrt, aber zum Reinigen der verstopften Gullys reicht es nicht. Sie kommt mehrmals im Monat und kauft jedes Mal ungefähr ein Dutzend dicke Romane. Und Sie sollten diese abscheulichen Zigaretten aufgeben, fährt sie fort. Während sie auf den Ladentisch zugeht, erinnert sie Sonya an ein Walross, das sich über einen Felsbrocken kämpft. Sie hat Sonya schon oft wegen ihres Rauchens kritisiert. Es schädige nicht nur ihre Lunge, was selbstverständlich ihre eigene Angelegenheit sei, sondern kontaminiere auch ihre Bücher, die nun einmal zum allgemeinen Gebrauch bestimmt seien. Ihr Geruchssinn sei so scharf wie ihre Augen: Es gebe nichts Schlimmeres, als ein lang ersehntes Buch aufzuschlagen, aus dessen seiten einem der widerliche Gestank von Zigarettenqualm entgegenschlägt. Das sei, als würde man die Tore zum Paradies öffnen, um dahinter einen stinkenden Abwasserkanal vorzufinden. Sie habe schon manches Buch mit ihrem stärksten Parfüm einsprühen müssen, bevor sie es lesen konnte. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 222)


Medium egal

Natürlich würde er weiterhin Bücher lesen; tatsächlich habe er vor, nun, da er nicht mehr schreibe und keine Familie mehr habe, zu seiner ersten wahren Liebe zurückzukehren - dem Lesen. Doch als Leser sei es ihm gleichgültig, auf welchem Material ihm das Wort präsentiert wurde: Papyrus, Pergament, Papier, Computerbildschirm - vor einem fesselnden Text seien sie alle gleich. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 218)


Forderung

Buchläden sollten die ganze Nacht geöffnet haben, sagte er und zückte sein Portemonnaie. So wie Bordelle und Tankstellen. Für manche Menschen seien Bücher wichtiger als Sex und Nahrung. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 221)


In der Bibliothek

Allein das Berühren eines Buches sei zu einem revitalisierenden Akt geworden. Ist sie in letzter Zeit im Lesesaal der Staatsbibliothek gewesen? Sie sollte noch hingehen, bevor sie wegen Renovierung geschlossen würde. Er ist in der letzten Woche auf Einladung eines Freundes dort gewesen, der als Angestellter der Bibliothek Bücher einsortiert und besondere Anfragen bearbeitet. Es sei ein wahrhaft beeindruckendes und Ehrfurcht gebietendes Erlebnis, in den runden Lesesaal zu kommen und sich unvermittelt von Wänden voller Bücher umgeben zu sehen. Sein Freund hatte ihn auf einen Rundgang hinter die Kulissen mitgenommen, auf schmale Korridore, verschlungene Durchgänge und Kellergewölbe, alle von Büchern jeder nur vorstellbaren Größe gesäumt, von winzigen Miniaturen nicht größer als eine Streichholzschachtel, für deren Entzifferung man eine Lupe brauchte, bis zu riesigen Wälzern, die geöffnet aussahen, als wären sie die Tore zum Paradies oder je nach Gemütszustand auch der Schlund zur Hölle. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 372)


Die Freiheit der Sprache

Die Freiheit der Sprache ermutigt die Freiheit von Körper und Geist. Wenn der Dichter von dem "weindunklen Meer" spricht, verwandelt er die dingliche Welt und schafft in einem Augenblick, was eine Ewigkeit der Evolution nie erreichen könnte. Durch die Metapher erhebt sich der Dichter über die fatalistische Welt und steht auf der Schwelle endloer Möglichkeit. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 240)


Ästhetik, nicht Anästhesie

Natürlich sei er als Schriftsteller auch ein Leser gewesen, aber sein Lesen stand immer im Dienst des Schreibens. Nun liest er in seiner Freizeit, nur um des Lesevergnügens willen, wie er es als Kind getan hat. Nie sei er mehr bei sich als mit einem Buch in der Hand. Anfangs habe ihn ein gewisses Unbehagen, beinahe ein Schuldgefühl befallen, ein Buch zwischen sich und die Welt zu schieben. Als Schriftsteller habe er sich bemüht, soziale Probleme wie Spielsucht, Impotenz oder jugendlich Selbstmörder in seinem Kurzgeschichten aufzugreifen, um wenigstens dazu beizutragen, sie ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Doch was könne er als Leser zur Lösung solcher Probleme beitragen? Kehrte er der Welt den Rücken, weil er zu schwach war, sich engagieren? Nach gründlicher Selbstprüfung sei er zu dem Schluss gekommen, dass das Schreiben von Kurzgeschichten ebenso viel zur Linderung der Weltprobleme beitrage wie Lesen. Letzten Endes liege die Gabe der Literatur, uns zu beeinflussen, in der Ästhetik und nicht in der Anästhesie. Er habe trotzdem Glück gehabt: Seine Rückkehr zum Lesen hat ihn von seinen persönlichen Dämonen befreit, von seinen elenden Hämorrhoiden ganz zu schweigen. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 371)


Die Bücherverschlingerin

Wie schon bei früheren Gelegenheiten, verschwendet die Frau keine Zeit mit Stöbern: Sie weiß genau, was sie will, marschiert schnurstracks auf die Regale an der Stirnwand zu, packt ihre Auswahl in eine Plastiktüte und kehrt zum Ladentisch zurück. Ihr Gang wirkt unbeholfen in ihren flachen, wegen ihrer Korpulenz vollkommen ausgetretenen Männerschuhen. Zeit ist kostbar für die, die Bücher verschlingen, schnauft sie. Vor Jahren sei sie eine langsame Leserin gewesen. Bei 200 Worten pro Minute brauchte sie zwei Minuten, um eine Seite zu lesen, was bedeutete, dass sie 1000 Minuten oder ungefähr 17 Stunden für einen 500 Seiten starken historischen Roman benötigte. Wenn sie sich pro Tag sechs Stunden zum Lesen einträumte, schaffte sie ungefähr alle drei Tage ein Buch oder annähernd 123 Bücher im Jahr. Sie war 40, als sie ihre Effiziens in Frage stellte. Wenn man die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau mit 78 ansetzte, blieben ihr noch 38 Jahre Zeit zum Lesen, oder, umgerechnet in Bücher, 4674. Diese Zahl hatte sie aufgerüttelt. 25 gute Lesejahre, in denen sie pro Buch drei Tage vertrödelt hatte, waren bereits unwiederbringlich vertan. Aber die vor ihr liegenden 38 Jahre konnte sie optimaler nutzen. Sie riss sich am Riemen, belegte einen Kurs im Schnelllesen und verbesserte ihren Minutenschnitt. Und nach sechs Monaten, in denen sie mit trägen, uneffizienten Lesegewohnheiten brach und ihre Augen darin übte, über die Seiten zu fliegen und ganze Absätze mit einem Blick zu erfassen, hatte sie es geschafft, ihre Quote zu verdoppeln. Wort für Wort zu lesen, sei ein Überbleibsel aus der Kindheit, es sei, als krieche man über die Seite. Nachdem sie das überwunden habe, könne sie Bücher nun überfliegen, was ihr Leben unermesslich bereichert habe. Im Laufe der Zeit habe sie ihre Quote erst verdreifacht und schließlich sogar vervierfacht. 800 Worte pro Minute, das entspreche 100 Metern in zehn Sekunden. Ja, sie sei schon immer eine große Person gewesen, nie gut in Sport, und heutzutage könne ihr selbst das Gehen zur Qual werden, aber wenn es ums Lesen gehe, könne sie stolz und ehrlich sagen, dass sie noch nie jemand Flinkeren getroffen habe. Übung und Selbstdisziplin, sagt sie, während ihre Augen hin und her flitzen, als ob Sonya ein Text wäre. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 223f.)


Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin. München: Goldmann, 2003. 446 S. ISBN: 3-442-72669-7


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