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Die Lüste des Lesens
von Daniel Pennac
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Das Verb "lesen" duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt:
dem Verb "lieben", dem Verb "träumen"...Man kann es natürlich trotzdem versuchen. Probieren
Sie es mal: "Liebe mich!" "Träume!" "Lies! Jetzt lies doch, zum Teufel, ich befehle dir zu
lesen!" "Geh in dein Zimmer und lies!" Ergebnis? Null. Er ist über seinem Buch eingeschlafen.
Das Fenster, ungeheuer weit offen, schien ihm plötzlich auf etwas Beneidenswertes hinauszugehen.
Dorthin ist er entflogen. Um dem Buch zu entgehen. aber es ist ein wachsamer Schlaf: Das Buch
liegt aufgeschlagen vor ihm. Wenn wir seine Zimmertür auch nur ein bißchen aufmachen, können
wir ihn brav lesend an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Selbst wenn wir uns auf Zehenspitzen
angeschlichen haben, hört er uns durch seinen oberflächlichen Schlaf kommen.
"Na, gefällt's dir?"
Er antwortet nicht mit Nein, das wäre ja eine Majestätsbeleidigung. Das Buch ist heilig, wie kann
man ein Buch nicht mögen? Nein, er sagt, die Beschreibungen wären zu lang. Beruhigt setzen wir
uns wieder vor unseren Fernsehapparat. Es kann sogar sein, daß diese Bemerkung eine
leidenschaftliche Diskussion zwischen uns und den Unrigen auslöst. "Er findet die Beschreibungen
zu lang. Man muß ihn verstehen, wir leben im Jahrhundert des Audiovisuellen, natürlich, die
Romanciers des 19. Jahrhunderts mußten alles beschreiben..."
"Das ist noch lange kein Grund, daß er die Hälfte der Seiten überspringt!"
Bemühen wir uns nicht weiter, er ist wieder eingeschlafen.
Diese Abneigung gegen das Lesen ist uns um so unbegreiflicher, wenn wir zu einer Generation
gehören, aus einer Zeit, einem Milieu, einer Familie stammen, wo eher die Tendenz bestand,
uns vom Lesen abzuhalten.
"Jetzt hör mal auf zu lesen, du verdirbst dir noch die Augen!"
"Geh lieber raus spielen, das Wetter ist phantastisch."
"Mach das Licht aus! Es ist spät!"
Ja, es war damals draußen immer zu schön und nachts immer zun dunkel.
Wohlgemerkt, ob lesen oder nicht lesen, das Verb wurde schon im Imparativ
benutzt. Selbst in der Vergangenheitsform erholt man sich nicht davon. So daß
Lesen damals ein subversiver Akt war. Zur Entdeckung des Romans kam das Erregende
des Ungehorsams gegen die Eltern. Doppelte Herrlichkeit. Oh, die Erinnerung
an jene Stunde stibitzter Lektüre im Schein einer Taschenlampe unter der
Bettdecke! Wie Anna Karenina in jenen nächtlichen Stunden zu ihrem Vronksij
eilte" Sie liebten sich, diese beiden, das war schon schön, aber sie liebten sich
trotz der noch nicht fertigen Matheaufgaben, trotz des unaufgeräumten Zimmers,
sie liebten sich, statt sich zu Tische zu setzen, liebten sich vor Dessert, sie
zogen einander einem Fußballspiel und dem Pilzesammeln vor..., sie vor... O mein
Gott, was für eine wunderbare Liebe!
Und wie kurz der Roman war.
Genau gesagt: Wir haben nicht sofort vorgehabt, ihm das Lesen als Pflicht
zuzumuten. Wir haben zuerst nur an sein Vergnügen gedacht. Seine ersten
Lebensjahre haben uns in einen Zustand der Gnade versetzt. Das totale Entzücken
angesichts dieses neuen Lebewesens hat uns so etwas wie Genie verliehen. Für ihn
sind wir Erzähler geworden. Sobald er zur Sprache erwacht war, habe wir ihm
Geschichten erzählt, Das war eine Begabung, von der wir vorher nichts geahnt
hatten. Seine Freude inspirierte und. Sein Glück gab uns den langen Atem. Für ihn
haben wir mehr und mehr Figuren eingebracht. Episoden aneinandergereiht, Fallen
ausgeklügelt. Wie der alte Tolkien für seine Enkel haben wir für ihn eine Welt
erfunden. An der Grenze von Tag und Nacht sind wir sein Romancier geworden.
Wenn wir diese Talent nicht hatten, wenn wir ihm die Geschichten der anderen
erzählt haben, und das eher schlecht - nach Worten suchend, die Namen entstellend,
die Episoden verwechselnd, den Anfang einer Geschichte mit dem Ende einer anderen
kombinierend-, so machte es überhaupt nichts. Und selbst wenn wir gar nicht
erzählt haben, selbst wenn wir uns damit begnügt haben vorzulesen, waren wir sein
Romanvier, der einzige Erzähler, durch den er allabendlich in den Pyjama des
Traums schlüpfte, bevor er unter der Bettdecke der Nacht davonglitt. Besser noch,
wir waren das Buch.
Erinnern Sie sich an diese so unvergleichliche Vertrautheit. Wie gern wir ihn
erschreckten, um des bloßen Vergnügens willen, ihn trösten zu können! Und wie
sehr er dieses Erschrecken von uns forderte! Schon so verständig und doch
zitternd wie Espenlaub. Kurz und gut, ein richtiger Leser. Das Paar, das wir
damals waren, bestand aus ihm, dem Leser und Schlaukopf, und aus uns, dem Buch
und Spießgesellen.
Mit einem Wort, wir haben ihm in jener Zeit, als er noch nicht lesen konnte, alles
über das Buch beigebracht. Wir haben ihm die unendliche Vielfalt des Imaginären
eröffnet, wie habe ihn in die Freuden des Reisens auf dem Blatt eingeführt, wir
haben ihn mit Ubiquität ausgestattet, von Chronos befreit, in die phantastisch
bevölkerte Einsamkeit des Lesens versenkt. In den Geschichten, die wir ihm
vorlasen, wimmelte es von Brüdern, Schwestern, Eltern, idealen Doppelgängern,
Schutzengelgeschwadern, Heerscharen von rettenden Freunden, die seine Kümmernisse
übernahmen, die aber im Kampf gegen die eigenen Unholde ihrerseits Zuflucht im
aufgeregten Pochen seines Herzens fanden. Er war seinerseits ihr Engel geworden:
ein Leser. Ohne ihn existierte ihre Welt nicht. Ohne sie bliebe er in der Enge
der seinen befangen. So entdeckte er die paradoxe Wirkung des Lesens, die darin
besteht, uns von der Welt abzulenken und dabei einen Sinn für sie zu finden.
Von diesem Reisen kehrte er stumm zurück. Es war Morgen, und man ging zur
Tagesordnung über. Ehrlich gesagt, bemühten wir uns nicht zu erfahren, was er
unterwegs erworben hatte. Er in seiner Unschuld hegte dieses Geheimnis. Es war,
wie man so sagt, seine Welt. Seine persönlichen Beziehungen zu Schneewittchen
oder zu irgendeinem der sieben Zwerge waren von einer Intimität, die
Verschwiegenheit gebietet. Die größte Lust des Lesers, dieses Schweigen nach dem
Lesen!
Ja, wir haben ihm alles über das Lesen beigebracht. Haben seinen Lesehunger
gewaltig angeregt. So sehr, erinnern Sie sich bitte, so sehr, das er es eilig
hatte, lesen zu lernen.
Was für Pädagogen waren wir doch, als wir uns noch nicht um Pädagogie
scherten!
Und jetzt sitzt er als Jugendlicher abgeschottet in seinem Zimmer vor einem Buch,
das er nicht liest. Alle seine Wünsche, woanders zu sein, bilden zwischen ihm und
den aufgeschlagenen Seiten einen graugrünen Schirm, der die Zeilen verwischt.
Er sitzt vor dem Fenster, die Tür hinter ihm ist geschlossen. Seite 48. Er wagt
die Stunden nicht zu zählen, die er bis zu dieser achtundvierzigsten Seite
gebraucht hat. Das Buch hat genau vierhundertsechsundvierzig Seiten. Das heißt,
so gut wie fünfhundert. 500! Wenn es noch Dialoge gäbe! Von wegen! Seiten, voll
mit eng gesetzten Zeilen zwischen winzigen Rändern, übereinandergestapelte
schwarze Abschnitte und ab und an das Erbarmen eines Dialogs - ein Gänsefüßchen,
wie eine Oase, das anzeigt, daß eine Fugur zu einer anderen spricht. Aber die
andere antwortet nicht. Es folgen zwölf Seiten an einem Stück! Zwpölf Seiten
Druckerschwärze! Da fehlt Luft zwischendrin! O Mann, fehlt da Luft zwischendrin!
Vefluchter Mist! Er flucht. Tut mir leid, aber er flucht. Beschissenes Mistbuch!
Seite achtundvierzig... Wenn er sich wenigstens an den Inhalt dieser
siebundvierzig ersten Seiten erinnern würde! Er wagt sich nicht einmal die Frage
zu stellen - die man ihm unweigerlich stellen wird. Die Winternacht ist
hereingebrochen. Aus der Tiefe des Hauses steigt das Jingle der
Fernsehnachrichten zu ihm herauf. Noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen
abzusitzen. Außerordentlich kompakt, so ein Buch. Das läßt sich nicht so ohne
weiteres in Angriff nehmen. Übrigens scheint es auch schlecht zu brennen. Nicht
einmal Feuer kann sich zwischen den Seiten vorarbeiten. Kein Sauerstoff. Lauter
Überlegungen, die er am Rande macht. Und es sind unglaublich viele Ränder.
Ein Buch, das ist dick, das ist kompakt, das ist komprimiert, damit kann man
jemand erschlagen. Seite achtundvierzig oder hundertachtundvierzig, wo liegt der
Unterschied? Die Szenerie ist dieselbe. Er sieht den Munde des Lehrers wieder vor
sich, der den Titel ausspricht. Er hört die anderen Jungs wie aus einem Mund
fragen:
"Wie viele Seiten?"
"Drei- oder vierhundert..."
(Lügner!)
"Bis wann?"
Die Angabe des schicksalhaften Tages entfesselt ein Protestgeschrei.
"Vierzehn Tage? Vierhundert (fünfhundert) Seiten in vierzehn Tagen lesen! Das
schaffen wie nie, Monsieur!"
Monsieur läßt nicht mit sich handeln. Ein Buch, damit kann man jemand erschlagen,
das ist ein Brocken Ewigkeit. Es ist die materialisierte Langeweile. Es ist das
Buch. "Das Buch". Er nennt es in seinen Aufsätzen nie anders: das Buch, ein Buch,
die Bücher, Bücher...
"In seinem Buch Gedanken will Pascal uns sagen, daß..."
Mag der Pauker noch so oft mit Rot protestieren, daß das nicht die korrekte
Bezeichnung ist, daß man von einem Essay, einem Roman, einer Sammlung von Novellen,
einem Gedichtband sprechen muß, daß das Wort Buch as solches alles bezeichnen
kann und somit nicht Genaues aussagt, das ein Telefonbuch ebenso ein Buch ist wie
ein Lexikon, ein Reiseführer, ein Briefmarkenalbum oder ein Rechnungsbuch...
Nichts zu machen, in seinem nächsten Aufsatz drängt sich ihm beim Schreiben
das Wort wieder auf.
"In seinem Buch Madame Bovary will und Flaubert sagen, daß..."
Weil vom Standpunkt seiner gegenwärtigen Einsamkeit aus ein Buch ein Buch ist. Und
jedes Buch wiegt soviel wie eine Enzyklopädie, wie jene Enzyklopädie zum Beispiel,
deren Bände man ihm vor kurzem noch unter seinen Kinderpopo schob, damit er in der
richtigen Höhe an der Familientafel saß. Und das Gewicht jedes Buches ist so
beschaffen, daß es einen nach unten zieht. Er hat sich vorhin relativ leicht
auf seinen Stuhl gesetzt - mit der Leichtigkeit des festen Vorsatzes. Aber
nach ein paar Seiten hat er sich von dieser schmerzlich vertrauten Schwere
überwältigt gefühlt, dem Gewicht des Buches, dem Druck der Langeweile, der
unerträglichen Last der unerledigten Aufgabe.
Seie Lider künden ihm den unmittelbar bevorstehenden Schiffbruch an. Die Klippe
der Seite 48 hat eine Wasserstraße unter seinen festen Vorsatz aufgerissen.
Das Buch zieht ihn hinab.
Sie gehen unter.
Währenddessen gewinnt unten, am Fernsehapparat, das Argument vom verderblichen
Fernsehen Anhänger:
"Die Dummheit, die Gewalt, die Vulgarität der Programme... Es ist unsäglich!
Man kann den Kasten nicht mehr anstellen, ohne daß..."
"...japanische Zeichentrickfilme laufen. Habt ihr schon mal einen von diesen
japanischen Zeichentrickfilmen gesehen?"
"Es liegt nicht nur an den Sendern. Es ist das Fernsehen als solches..., diese
Oberflächlichkeit..., diese Passivität der Zuschauer..."
"Ja, man macht ihn an, man setzt sich..."
"Man zappt..."
"Diese Verzettelung..."
"Zumindest kann man so die Werbung umgehen."
"Nicht mal das. Die haben synchrone Programme eingerichtet. Du springst
von einer Werbung in die andere."
"Manchmal sogar in die gleiche!"
Darauf Schweigen: Plötzlich wird eines dieser vom blendenden Glanz unserer
erwachsenen Klarsichtigkeit ausgeleuchtete Gebiet, wo Übereinstimmung herrscht,
entdeckt.
Dann jemand, halblaut:
"Lesen, natürlich, Lesen ist was anderes, Lesen ist handeln!"
"Sehr richtig, was du da sagst, Lesen ist Handeln, 'der Akt des Lesens', wie
wahr."
"Im Fernsehen dagegen und sogar im Kino, wenn man es genau bedenkt...
In einem Film ist alles vorgegeben, nichts wird erobert, alles ist vorgekaut,
das Bild, der Ton, die Szenerie, die stimmungsvolle Musik, für den Fall,
daß man die Intention des Regisseurs nicht verstanden haben sollte."
"Die knarrende Tür, die anzeigt, daß der Moment gekommen ist, sich zu gruseln."
"Beim Lesen muß man sich alles vorstellen. Lesen ist ein permanent kreativer
Akt."
Wieder Schweigen.
(Diesmal unter "permament Kreativen")
Dann:
"Was ich unfaßbar finde, ist die durchschnittliche Stundenzahl, die ein Kind
fernsieht, verglichen mit den Französischstunden in der Schule. Ich habe eine
Statistik darüber gelesen."
"Das muß enorm sein!"
"Eins zu sechs oder sieben. Ohne die Stunden im Kino. Ein Kind (ich spreche
nicht von unserem) sieht durchschnittlich - Mindestdurchschnitt - zwei Stunden
täglich fern, und am Wochenende acht bis zehn. Das heißt im ganzen
sechunddreißig Stunden auf fünf Wochenstunden Französisch."
"Klar, die Schule kann das nicht wettmachen."
Drittes Schweigen.
Das der unerforschlichen Abgründe.
Man hätte noch einen Haufen Dinge sagen können, um diese Distanz zwischen ihm
und dem Buch zu ermessen. Wir haben sie alle gesagt. Zum Beispiel, daß es nicht
nur am Fernsehen liegt. Daß die Jahrzehnte zwischen der Generation unserer
Kinder und unserer eigenen Jugend als Leser so einschneidend waren wie
Jahrhunderte. Wir fühlen uns unseren Kindern psychologisch zwar näher als
unsere Eltern sich uns, aber intellektuell stehen wir nach wie vor unseren
Eltern näher. (An dieser Stelle: kontroverse Diskussion, Richtigstellung der
Adverbien "psychologisch" und "intellektuell". Verstärkung durch ein neues
Adverb):
"Affektiv näher, meinetwegen."
"Effektiv?"
"Ich habe nicht effektiv, sondern affektiv gesagt."
"Anders ausgedrückt, wir sind unseren Kindern affektiv näher, unseren Eltern
aber effektiv näher, meinst du das?"
"Das ist eine gesellschaftliche Tatsache. Eine Akkumulation von
gesellschaftlichen Tatsachen, die man so zusammenfassen könnte, daß unsere
Kinder auch die Söhne und Töchter ihrer Zeit sind, während wir nur die Kinder
unserer Eltern waren."
"...?"
"Klar, doch! wir waren als Jugendliche nicht Kunden unserer Gesellschaft.
Kommerziell und kulturell gesehen war es eine Erwachsenenkultur. Gleiche
Kleidung, gleiche Eßgewohnheiten, gleiche Kultur, der kleine Bruder trug die
Kleidung des großen auf, wir aßen dieselben Gerichte zu denselben Zeiten am
selben Tisch, machten sonntags dieselben Spaziergänge, und das Fernsehen
versammelte die Familie vor ein und demselben Programm (das übrigens viel
besser war als alle heutigen), und was das Lesen betraf, so bestand die einzige
Sorge unserer Eltern darin, bestimmte Titel in die unerreichbaren Regalfächer
zu stellen."
"Und die Generation davor, die unserer Großeltern, verbot den Mädchen schlicht
und einfach das Lesen."
"Stimmt! Vor allem Romane: 'die Phantasie, das Wolkenkuckucksheim'. Schlecht
für eine Ehe, so was..."
"Heute dagegen sind die Jugendlichen vollwertige Kunden einer Gesellschaft,
die sie bekleidet, unterhält, ernährt und bildet, wo es von McDonalds, Levi's
und anderen Mustangs wimmelt. Wir gingen zum Tanzen, sie gehen in 'Discos',
wir lasen ein Buch, sie ziehen sich Kassetten rein. Wir liebten es, unter der
Pilzherrschaft der Beatles miteinander zu reden, sie sperren sich in den
Autismus des Walkman ein...Es gibt sogar diese unerhörte Sache, ganze Viertel,
die von der Jugend mit Beschlag belegt sind, riesige Stadtgebiete für
streunende Jugendliche."
Hier fällt der Name Beaubourg (Unterirdisches Einkaufszentrum an der Stelle
der früheren Hallen sowie die umliegenden Plätze und Straßen bis zum Centre
Pompidou.).
Beaubourg...
Beaubourg, die Barbarei...
Beaubourg, das wuchernde Phantasma, Beaubourg-Gammeln-Drogen-Gewalt...
Beaubourg und der Schlund der Metro und Vorortzüge, das Loch der Hallen!
"Aus dem direkt neben Frankreichs größter öffentlicher Bibliothek die Horden
der Analphabeten hervorströmen!"
Neuerliches Schweigen..., eines der schönsten: das Schweigen des "paradoxen
Engels".
"Gehen Ihre Kinder zum Beaubourg?"
"Selten. Zum Glück wohnen wir im 15."
Schweigen...
Schweigen...
"Kurz gesagt, sie lesen nicht mehr."
"Nein."
"Zu sehr anderweitig beansprucht."
"Ja."
Und wenn nicht dem Fernsehen oder dem totalen Konsum der Prozeß gemacht
wird, dann der elektronischen Invasion. Und wenn nicht die hypnotischen
kleinen Spiele schuld sind, dann ist es die Schule: die absurde Methode,
lesen zu lernen, der anachronistische Lehrstoff, die Inkomptetenz der Lehrer,
die baufälligen Schulen, der Mangel an Bibliotheken.
Und was noch?
Ach ja, das Budget des Bildungsministeriums... jämmerlich! Und innerhalb
dieses mikroskopisch kleinen Etats der verschwindend kleine Posten für
das "Buch".
Wie sollen mein Sohn, meine Tochter, unsere Kinder, die Jugend unter diesen
Bedingungen lesen?
"Übrigens lesen die Franzosen immer weniger."
"Das stimmt."
So reden und reden wir, ein ständiger Sieg der Sprache über die
Undurchsichtigkeit der Dinge, mit einleuchtenden Schweigepausen, die
mehr sagen, als sie verschwiegen. Wachsam und informiert, machen wir
uns keine Illusion über unsere Zeit. Wir haben den Durchblick.
Besser noch, wir sind leidenschaftlich darauf aus, durchzublicken.
Woher kommt dann diese unbestimmte Traurigkeit nach Gesprächen?
Dieses mitternächtliche Schweigen in dem sich wieder selbst überlassenen
Haus? Mit der einzigen Perspektive, das Geschirr zu spülen? Ein paar
hundert Meter von hier, vor einer roten Ampel, sind unsere Freunde in das
gleiche Schweigen versunken, das die Paare, wenn der Rausch durchzublicken
verflogen ist, auf dem Heimweg von einer Einladung in ihren stehenden
Autos befällt. Das ist wie ein Kater, wie das Erwachen aus einer
Anästhesie, ein langsames Wiederauftauchen zur Bewußtheit, die Rückkehr
zu sich selbst und das irgendwie schmerliche Gefühl, uns in dem, was
wir gesagt haben, nicht wiederzuerkennen. Wir waren nicht ganz da.
Alles übriges stimmte zwar, die Argumente waren richtig - und so gesehen
hatten wir recht -, aber wir waren nicht ganz da. Kein Zweifel, wieder
ein der betäubenden Routine durchzublicken geopferter Abend.
Was wir vorhin bei Tisch sagten, was das genaue Gegenteil dessen, was
in uns gesagt wurde. Wir sprachen von der Notwendigkeit des Lesens,
aber wir waren bei ihm, oben in seinem Zimmer, wo er niicht liest.
Wir zählten die guten Gründe auf, die die heutige Zeit ihm dafür
liefert, nicht gern zu lesen, aber wir versuchten, die Buchmauer zu
überwinden, die uns von ihm trennt. Wir sprachen vom Buch, während
wir nur an ihn dachten.
Er hat die Lage auch nicht gerade verbessert, als er in letzter
Sekunde zum Essen herunterkam, sich mit seiner jugendlichen
Schwerfälligkeit ohne ein Wort der Entschuldigung an den Tisch setzte,
nicht die geringste Anstrengung machte, sich am Gespräch zu beteiligen
und schließlich aufstand, ohne den Nachtisch abzuwarten.
"Entschuldigung, ich muß lesen!"
Die verlorene Vetrautheit...
Wenn ich, während ich nicht einschlafen kann, daran zurückdenke, dann
hatte dieses allabendliche Vorleseritual, als er klein war, am Fußende
seines Bettes - feste Uhrzeit und stets gleichbleibende Gesten -
etwas von einem Gebet. Diese plötzliche Waffenruhe nach dem Getöse des
Tages, dieses Sichwiederfinden unter Ausschluß aller Nebensächlichkeiten,
dieser Moment gesammelten Schweigens vor den ersten Worten der Erzählung,
unsere Stimme endlich sie selbst, die Liturgie der Episoden... Ja, die
jeden Abend vorgelesene Geschichte erfüllte die schönste Funktion
des Gebets, die uneigennützigste, die am wenigsten spekulative, bei
der es nur um die Menschen geht: die Vergebung der Kränkungen. Man
beichtete kein Vergehen, man trachtete nicht danach, sich eine Portion
Ewigkeit zu sichern, es war ein Moment von Übereinstimmung zwischen
uns, die Absolution durch den Text, eine Rückkehr in das einzig wahre
Paradies: die Vertrautheit. Ohne es zu wissen, entdeckten wir eine der
wesentlichen Funktionen des Erzählens und im weitesten Sinn der Kunst
ganz allgemein, nämlich dem Kampf der Menschen Einhalt zu gebieten.
Der Liebe wuchs dabei eine neue Haut.
Es war gratis.
Gratis. Genau so verstand er es. Ein Geschenk. Ein herausgehobener Moment.
Trotz allem. Mit der abendlichen Geschichte warf er den Ballast des
Tages ab. Die Tauer wurden losgemacht. Er reiste mit dem Wind, und der Wind,
das war unsere Stimme.
Als Preis für diese Reise forderte man nichts von ihm, nicht einen Sou, man
verlangte nicht die geringste Gegenleistung. Es war nicht einmal eine
Belohnung. (Ach, die Belohnungen!) Wie würdig man sich erweisen mußte,
belohnt worden zu sein!) Hier ging alles im Land der Zweckfreiheit
vonstatten.
Der Zweckfreiheit, die die einzige Währung der Kunst ist.
Was ist nur geschehen zwischen der damaligen Vertrautheit und seinem
jetzigen Ich, das sich hinter einer Buch-Felswand verschanzt hat,
während wir versuchen, ihn zu verstehen (das heißt, uns zu beruhigen),
indem wir das Jahrhundert und dessen Fernsehen verantwortlich machen -
das wir vielleicht abzuschalten vergessen haben?
Ist das Fernsehen schuld?
Das zu "visuelle" 20. Jahrhundert? Das zu deskriptive 19. Jahrhundert?
Und warum nicht das zu rationale 18., das zu klassische 17., das zu
renaissancehafte 16.? Ist Puschkin zu russisch und Sophokles zu tot?
Als brauchte die Beziehung zwischen Menshcne und Buch Jahrhunderte,
um sich zu lockern!
Ein paar Jahre genügen.
Ein paar Wochen.
Die Dauer eines Mißverständnisses.
Damals, als wir am Fußende seines Bettes das rote Kleid von Rotkäppchen
und bis ins kleinste den Inhalt seines Korbes ausmalten, ohne die dunkle
Tiefe des Waldes, die plötzlich so wunderlich behaarten Ohren der
Großmutter und ihr entsetzlich großes Maul zu vergessen, fand er, soweit
ich mich erinnern kann, unsere Beschreibung nicht zu lang.
Nicht Jahrhunderte sind seitdem vergangen, aber jene Momente, die man
das Leben nennt, denen man unter Aufbietung unantastbarer Prinzipien
den Anstrich von Ewigkeit gibt: "Du mußt lesen."
Hier wie anderswo macht sich das Leben durch die Erosion unserer Lust
bemerkbar. Ein Jahr Geschichten am Fußende seines Bettes, ja. Zwei Jahre,
meinetwegen. Drei, äußerstensfalls. Das macht, bei einer pro Abend,
eintausendfünfundneunzig Geschichten. 1095, eine stolze Zahl!
Und wenn es nur die Viertelstunde des Erzählens wäre, aber da ist auch
noch die Zeit davor: Was soll ich ihm denn heute abend mal erzählen?
Was soll ich vorlesen?
Wir haben die Qualen der Inspiration erlebt.
Anfangs half er uns. Denn sein Entzücken verlangte von uns, nicht
irgendeine Geschichte, sondern dieselbe Geschichte.
"Noch mal! Noch mal den Kleinen Däumling!"
"Aber Herzchen, es gibt nicht nur den Kleinen Däumling, mein Gott,
es gibt..."
Der Kleine Däumling und nichts anders.
Wer hätte gedacht, daß wir uns eines Tages nach der glücklichen Zeit
zurücksehnen würden, in der sein Wald einzig vom kleinen Däumling
bevölkert war? Um ein Haar könnte man sich ohrfeigen, daß man ihm
die Vielfalt beigebracht, ihn zum Auswählen angeregt hat.
"Nein, die nicht, die hast du mir schon mal erzählt."
Ohne eine Zwangsvorstellung zu werden, entwickelten sich das Problem
der Auswahl doch zu einer harten Nuß. Mit kurzlebigen Vorsätzen: am
nächsten Samstag eine auf Kinderbücher spezialisierte Buchhandlung
aufzusuchen. Am Samstagmorgen verschoben wir es auf den nächsten
Samstag. Was für ihn eine heilige Erwartung blieb, war für uns Teil
der damiliären Belastung geworden. Eine geringe Belastung, die aber
zu den anderen von respektabler Größe hinzukam. Gering oder nicht,
eine aus einem Vergnügen hervorgegangene Belastung muß man sich genau
ansehen. Wir haben sie uns nicht genau angesehen.
Wir haben Momente des Aufbegehrens erlebt.
"Wieso ich? Wieso nicht du? Tut mir leid, heute abend erzählst du ihm
seine Geschichte!"
"Du weißt doch, daß ich überhaupt keine Phantasie haben."
Sobald sich die Gelegenheit bot, ordneten wir eine andere Stimme zu
ihm ab, einen Cousin, eine Cousine, einen Babysitter, eine Tante auf
Besuch, eine bisher verschonte Stimme, die noch Spaß daran hatte,
die angesichts der Ansprüche des pingeligen Publikums aber oft klein
beigab.
"Nein, das sagt die Großmutter nicht!"
Wir haben auch beschämende Tricks gebraucht. Mehr als einmal waren wir
versucht, den Wert, den er auf eine Geschichte legte, als Tauschobjekt
zu benutzen.
"Wenn du so weitermachst, erzähle ich dir heute abend keine Geschichte!"
Eine Drohung, die wir selten wahrmachten. Ihn anzubrüllen oder den
Nachtisch vorzuenthalten war nicht weiter schlimm. Ihn ins Bett zu
schicken, ohne ihm eine Geschichte zu erzählen, hieß, seinen Tag in
tiefe Dunkelheit zu tauchen. Und es hieß ihn verlassen, ohne ihn
wiedergefunden zu haben. Eine unerträgliche Strafe, sowohl für ihn
wie für uns.
Jedenfalls haben wir diese Drohung ausgestoßen... oh, so gut wie nie...
das Abreagieren einer Erschöpfung, die kaum eingestandene Verlockung,
diese Viertelstunde ein einziges Mal für etwas anderes zu verwenden,
für eine andere dringliche familiäre Sache oder ganz einfach für einen
Moment Stille, für die eigene Lektüre.
Der Erzähler in uns war außer Atem, bereit, die Fackel weiterzureichen.
Die Schule kam gerade recht.
Sie nahm die Zukunft in die Hand.
Lesen, Schreiben, Zählen...
Am Anfang war er mit echter Begeisterung dabei.
Daß alle diese Striche, Haken, Schleifen, Bögen und kleinen Brücken
zusammengefügt Buchstaben ergaben, war schön! Und daß diese Buchstaben
zusammen Silben und diese Silben aneinandergereiht Wörter bildeten,
darüber konnte er sich nicht genug wundern. Und daß manche Wörter ihm
so vertraut waren, war magisch!
Mama zum Beispiel, Mama: ein Bogen, ein Haken, ein Bogen andersherum -
ein Kringel, ein weiterer kleiner Bogen, Ergebnis: Mama. Wie kann man
sich über dieses Entzücken beruhigen?
© Daniel Pennac: Wie ein Roman, Köln 1994
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