Die Buchhandlung


von Pierre Peju

Das ‘Wort und Sein’ war eine alte Buchhandlung. Ein dämmmeriger Laden, nicht weil es zu wenig Licht gäbe, sondern wegen der vielen Nischen und Ecken. Ein tiefer Laden, dunkles, abgenutztes Parkett und ein paar verstecktere Höhlungen. Überall Bücher auf den Tischen liegend oder stehend. Tausende schweigender Beobachter auf den Holzregalen. Täglicher Kampf zwischen Schrift und Staub. Im ‘Wort und Sein’ standen überbordende Kartons, Bücherstapel, die einzustürzen drohten. Souveräne Anarchie. Grandiose Anarchie. Durcheinander von Genres und Titeln. Fröhliche Alchimie. Und in diese Höhle konnte man jeden Tag kommen und sich Literatur verschaffen, große oder populäre, Geheimtips oder Klassiker. Ein Ort, wie ihn manche junge Leute der Zukunft sich nicht einmal mehr werden vorstellen können, weil es so etwas nicht mehr geben wird, weil diese Mischung aus pedantischster Ordnung und absolutem Chaos verlorengegangen ist, diese Mischung aus Zuneigung zu Büchern und wilder Aufhäufung. Handel in kleinem Maßstab. Diskretes, aber unabdingbares Tauschgeschäft.

Oberhalb der Auslagen strahlten ein paar Lampen unter ihren Schirmen ein warmes Licht aus, in dessen Schein sich die dürstenden Leser voller Hingabe über den überbordenden Kelch des Textes beugen konnten. Champagner, Teufelstrank, berauschende Weine, Liköre, Fusel und klares Wasser. Im hinteren Teil des Ladens herrschte eine Dämmerung, an die man sich erst gewöhnen mußte, aber an manchen Vormittagen drang vorne die Sonne so großzügig durch die Glastür, daß man dem Vergnügen nicht widerstehen konnte, ein Buch im hellen Tageslicht aufzuschlagen, so daß das Papier warm strahlte und seine Struktur lange Schatten warf, sein Weiß sich wie eine Zeichenwüste dehnte. Langsamkeit, Licht, Lektüre: ein wahres Glück! In den letzten Jahren des zwanzigsten und in den ersten des folgenden Jahrhunderts konnte man schadenfreudige Prophezeiungen hören, daß Orte dieses Schlages nicht mehr lange zu leben hätten. Aus mit den kleinen Buchhandlungen! Diese Form des Handels liegt im Sterben... Vor allem gegen das Papier revoltierte man und gegen die Tinte.

Die Tinte der Stifte genauso wie die Druckerschwärze: schmutziges, altes Zeug. Aber man richtete sich auch gegen diese kleinen Vorratskammern der Gedanken, der Visionen, der Worte, die sich ausbreiten, von einer Seite zur nächsten, und die gleichzeitig so außerordentlich kompakt bleiben, ganz auf sich selbst konzentriert, immer bereit, in einer Manteltasche zu verschwinden, auf Reisen mitgenommen und irgendwo, irgendwann aufgeschlagen zu werden. Überflogen. Verschlungen. Durchgeblättert. Ohne Stromanschluß. Ohne Bildschirm. "Rate mal, wo ich gerade die 'Stanzen' von Agrippa d'Aubigne lese oder die 'Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes!'" Im Zug. In einer Felsspalte am Meer. Im Bett. Inmitten einer Menschenmenge. Auf dem Klo. In der Badewanne. Im Schein einer Stirnleuchte am Fuß einer Düne, mitten im Wind. Die Wärme der Bücher aus den Buchhandlungen, sorgfältig aufbewahrten Bücher, verschenkt oder ihrem erstaunlichen Schicksal überlassen. Eselsohren, vergilbtes Papier, Vergessen und Wiederentdeckung. Die weite Welt der großen Texte... 'Habent sua fata libelli". Buchgeschichten. Der Buchhändler Vollard erzählte gerne die Geschichte jenes Mannes, der im Nahen Osten mehrere Jahre lang von einer politisch- religiösen Gruppierung als Geisel festgehalten wird und durch einen grandiosen Zufall in einem Winkel, im stinkenden Loch einer Zelle, den zweiten Band von 'Krieg und Frieden' findet, zerknittert und verschimmelt, aber eine Übersetzung in seine Muttersprache. Ein Buch, das genauso übel dran ist wie er selbst. Von diesem Moment an ändert sich etwas für ihn. Alles ändert sich. Eine enorme Erleichterung verschaffen ihm diese paar hundert Blatt Papier, die kaum noch aneinanderhängen und dank derer er wieder Gefallen am Leben findet.

Meistens saß Etienne Vollard hinten in seiner Buchhandlung. Eine riesige Spinne in der Mitte ihres Netzes. Tag für Tag stieg er aus seiner Wohnung direkt über dem 'Wort und Sein' herunter, um Bücher zu verkaufen. Tag für Tag, jedenfalls vor dem Unfall, setzte sich Vollard der Buchhändler ans Krankenbett der Literatur. Ihr Atem ging unruhig. Sie hatte hohes Fieber. Aber sie atmete noch. Lange hatte er die Zeichen wahrgenommen, hatte das Neue willkommen heißen können, aber jetzt, sagte er, änderte sich das, was sich änderte, nicht mehr in derselben Weise. Parodistische Veränderungen, die nichts mehr wirklich verändern. Aber unter den Lawinen von Textware, unter den Wellen vergänglicher Produkte, die ironischerweise "Bücher" hießen, in der Masse von Menschen, die schrieben und sich Schriftsteller nennen ließen, bemühte sich der Buchhändler noch immer redlich, ein seltenes Erz abzubauen, hartnäckig und entschlossen. Und sein Gedächtnis nahm zu wie sein Körper.

Als ich wieder einmal meine Bücher ordne, denke ich, daß ich eigentlich auch gerne Buchhändler hätte werden, den wesentlichen Teil meiner Zeit in Gemeinschaft der Schriftsteller hätte verbringen wollen. Sie entdecken, zu lesen geben, ihnen helfen, sich zu verkaufen, diese herrliche Prostitution befördern, mich für diese Ware einsetzen. Literarischer Drogendealer. Fin-de-siecle- Buchhändler. Wer wird in ferner Zukunft noch ahnen, was Buchhändler und Buchhandlungen für Leute wie mich bedeuteten? Was in einer Stadt, einer kleinen oder einer großen, die Existenz dieser Orte ausmachte, die man betreten konnte in der Hoffnung auf eine Erleuchtung? Wer wird sich noch erinnern, wie friedlich man in diese Höhlen trat, wo es nach Papier und Tinte roch? Wie man den Kopf auf die Seite legte, um einen neuen Titel zu entziffern und noch einen, vertraute oder unbenannte Autorennamen, um Hinweise und lebendige Zeichen von den hellen Buchrücken abzulesen? Der einzige wahre Leser ist der nachdenkliche Leser. Wer wird sich noch erinnern, wie man den Zeigefinger oben auf den Rücken eines Buches legte, um es nach hinten zu kippen. Die Umschlagtexte zu lesen. Im Stehen, im Rascheln der umgeblätterten Seiten ein paar Worte zu entdecken, die sich ganz speziell an einen selbst zu richten scheinen. Das Unverhoffte schwarz auf weiß. Die universelle Intimität. Stillschweigende Musik.


© Pierre Peju: Die kleine Kartäuserin. München; Zürich: Piper, 2005. 189 S. ISBN: 3-492-04619-3


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