Worüber wir sprechen...

...wenn wir über Bücher sprechen / von Tim Parks


Vorteile von E-Books
Nachteile von E-Books
Nüchterner Umgang mit dem Wort
Globalisierung der Literatur
Weltbeschreibungen
Offene Romanenden
Gelehrsame Bücher
Verhandlungsbereit und Verrückbar
Literaturnobelpreis
Internationale Literaturpreise
Akademiker vs. Literaten
Der Job des Schriftstellers
Industrielle Maschinerie
Der veröffentlichte Autor
Die Verehrung des Schriftstellers
Keine Romane mehr
Bewußtheitsstrom
Der nicht neutrale Leser
Literaturgeschmack & polarisierte Werte
Kleinere Notate


Vorteile von E-Books

  Was seine praktische Handhabung betrifft, lässt sich das EBook mühelos verteidigen. Wir können uns auf der ganzen Welt, wo immer wir gerade sind, sofort einen Text kaufen. Wir zahlen weniger dafür. Wir verschwenden kein Papier, nehmen keinen Platz weg. Kindles WLan- System merkt sich unsere Seite, selbst dann, wenn wir das Buch auf einem anderen Lesegerät öffnen als auf dem, das wir zuletzt benutzt haben. Wir können die Schriftgröße den Lichtverhältnissen und der Sehstärke unserer Augen anpassen. Wir können die Schrifttype unserem Geschmack anpassen. In der drangvollen Enge der U-Bahn blättern wir mit einem leichten Daumendruck die Seiten um. Beim Lesen im Bett ist Schluss mit dem Problem, ein dickes Taschenbuch mit beiden Händen offen zu halten.


Nachteile von E-Books

  Könnte es die Tatsache sein, dass das E-Book unserer Fähigkeit, bestimmte Zeilen wiederzufinden, indem wir uns an deren Position auf der Seite erinnern, im Weg steht? Oder unserer Vorliebe, Kommentare (begeisterte oder angewiderte) an den Rand zu kritzeln? Wir können nicht mehr so einfach wie bisher Seiten überspringen, um zu schauen, wo das aktuelle Kapitel endet oder ob Soundso jetzt oder später stirbt. Im Allgemeinen lädt das E-Book nicht zum Blättern ein, und obgleich der Balken, der unten auf dem Bildschirm anzeigt, wie viel Prozent vom Buch wir schon gelesen haben, uns mehr oder weniger wissen lässt, wie weit wir gekommen sind, geht uns das beruhigende Gefühl abhanden, das einem ein Buch mit seinem bloßen Gewicht verleihen kann (...), und auch das Vergnügen, Seitenzahlen zu zählen (...). Für Akademiker kann das ein Problem sein: ohne Seitenzahlen lassen sich schlecht Quellenangaben machen. Aber sind diese alten Gewohnheiten unverzichtbar? Könnte es nicht sogar sein, dass sie vom eigentlichen geschriebenen Wort ablenken? Gab es vielleicht nicht auch bei Pergamentrollen ein ganz besonderes Lesevergnügen, von dem wir nichts ahnen und ohne das wir wunderbar auskamen?


Nüchterner Umgang mit dem Wort

  Nur die Wortfolge muss unangetastet bleiben. Wir können an einem Text alles ändern bis auf die Wörter selbst und die Anordnung, in der sie erscheinen. Die literarische Erfahrung besteht (...) darin, wie sich der Verstand von Anfang bis Ende durch eine Abfolge von Wörtern bewegt. Mehr als jede andere Kunstform ist sie reine geistige Substanz, dem eigentlichen Denken so nahe, wie man ihm nur kommen kann. Indem es sämtliche Spielarten der Erscheinung und des Gewichts des physischen Objekts, das wir in der Hand halten, eliminiert und alles entfernt, was nicht Konzentration auf die eine Stelle ist, an der wir uns in der Abfolge der Wörter gerade befinden (...), müsste uns das E-Book eigentlich näher zum Kern der literarischen Erfahrung heranführen als das Buch aus Papier. Ganz sicher ermöglicht es uns einen nüchterneren und direkteren Umgang mit den Wörtern, die vor uns auftauchen und wieder verschwinden, als das herkömmliche gedruckte Buch. (...) Als habe man uns von allem Überflüssigen und Ablenkenden im Umfeld des Textes befreit, damit wir uns auf den Genuss der eigentlichen Wörter konzentrieren können. So gesehen ist der Übergang vom Papierbuch zum E-Book dem Augenblick nicht unähnlich, an dem wir von illustrierten Kinderbüchern zur Erwachsenenversion der Buchseite wechselten, die nur noch aus Text besteht. Es ist ein Medium für Erwachsene.


Globalisierung der Literatur

  Infolge der immer rasanteren Globalisierung bewegen wir uns auf einen Weltmarkt für Literatur zu. Man hat immer mehr das Gefühl, dass ein Autor ein internationales, nicht nationales Phänomen sein muss, um als "bedeutend" zu gelten. (...) In Italien, wo ich lebe, gilt ein Autor sicher erst dann als arriviert, wenn er in New York veröffentlicht wird. (...) Ein cleverer Agent kann dann das gleichzeitige Erscheinen eines Werks in vielen verschiedenen Ländern orchestrieren. (...) Indem er das Buch kauft, wird ein Leser Teil einer internationalen Gemeinschaft. Dieses Bewusstsein trägt zum Reiz des Buches bei. (...)

  Vom Augenblick an, da ein Autor sein künftiges Publikum als ein internationales wahrgenommen hat, wird sich seine Art zu schreiben zwangsläufig verändern. Insbesondere zeigt sich die Tendenz, alles aus dem Weg zu räumen, was verhindern könnte, international verstanden zu werden. Wenn eine Fülle von kulturspezifischen Faktoren und linguistische Virtuosität zu Hemmnissen geworden sind, so werden andere Strategien als positiv empfunden: die Verwendung von extrem anschaulichen Sprachbildern, die sofort als "literarisch" oder "imaginativ" erkennbar sind. (...) Was anscheinend zum Verschwinden verurteilt ist oder zumindest riskiert, vernachlässigt zu werden, sind jene Werke, die in den tieferen Nuancen ihrer eigenen Sprache und literarischen Kultur schwelgen, Texte, die die echte Lebensweise dieser oder jener sprachlichen Gruppe kritisieren oder besingen können.


Weltbeschreibungen

  Das eigentliche Problem ist, dass Prediger und Polemiker uns dazu bringen wollen, nur einen einzigen, exklusiven Kanon von Geschichten anzuerkennen, nur die eine Vision, die wir für die Wahrheit halten sollen. Und viele Menschen tun das gern. Sobald sie sich einer christlichen, muslimischen, buddhistischen oder auch liberal- pluralistischen Erzählung verschrieben haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich groß anstrengen werden, konkurrierende Beschreibungen der Welt zu erkunden. Menschen tendieren dazu, Geschichten, egal welcher Art, zu benutzen, um ihren Glauben zu untermauern, nicht, um ihn infrage zu stellen.


Offene Romanenden

  Tatsächlich ist das Beste, was wir uns von einem guten Schluss erhoffen können, dass er nicht ruiniert, was davor war. (...) zeigt Roberto Calasso, dass ein charakteristisches Kriterium einer lebendigen Mythologie ist, dass ihre vielen, immer so aufregend miteinander verwobenen Geschichten immer mindestens auf zwei, häufig »entgegengesetzte« Weisen enden können. Erst als der Mythos Geschichte wurde, kam der Wunsch nach einer einzigen »richtigen« Version auf, und man begann, die Alternativen zu vergessen. Bei Romanen ist ein Schluss, der mich am wenigsten enttäuscht, einer, der die Leser im Glauben, die Geschichte hätte genauso gut ganz anders ausgehen können, bestärkt. (...) Wenn die Struktur steht und das Erzählen läuft, ist die Notwendigkeit eines Endes nur eine unselige Last, eine Unannehmlichkeit, ein bedauerlicher Ausschluss so vieler Möglichkeiten. Könnte es nicht sein, dass man mit der Bereitschaft, einmal ein hervorragendes Buch nicht bis zum bitteren Ende zu lesen, eigentlich dem Schriftsteller einen Gefallen tut, weil man ihn von der nahezu unmöglichen Aufgabe entlastet, sich elegant aus der Handlung zu stehlen? Sie hat etwas Tyrannisches, unsere Besessenheit mit dem Ende. Sicherlich hätte ich von vielen Romanen, deren Lektüre ich abgebrochen habe, eine schlechtere Meinung, wenn ich sie ausgelesen hätte. (Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen)


Gelehrsame Bücher

  ...dass jedes Mitglied der Familie, wenn es allein las, zu ganz anderen Büchern greifen würde, und dass das, was man las, unweigerlich zeigte, wie man zu dem stand, was der Familie wichtig war. Man musste aufpassen, mit wem man ein Buch teilen wollte. Im Arbeitszimmer meines Vaters reihten sich die Bibelkonkordanzen von Wand zu Wand, riesige Bände mit weinroten Einbänden, die brüchigen Seiten in zwei vergilbende Spalten geteilt und übersät mit staubigen Verweisen, Klammern, Fußnoten. Ein kurzer Blick genügte, um mich zu überzeugen, dass ich sie nie lesen würde. Vielleicht verursachten sie meine lebenslange Aversion gegen Bücher, die mir allzu fachspezifisch erscheinen: etwa von gelehrtem Jargon strotzende Werke der Literaturkritik. Ich assoziiere sie mit meinem Vater. Sein Arbeitszimmer hatte etwas traurig Zurückgezogenes; er hasste Lärm. In Kenntnis der Heiligen Schriften konnte es niemand mit ihm aufnehmen, aber es sah nicht so aus, als hätte das Referieren viel mit Leben und Atmen zu tun. In meiner Familie herrschte eine Atmosphäre, in der ich in Büchern frische Luft suchte, nicht Gelehrsamkeit.


Verhandlungsbereit und Verrückbar

  Wir alle haben unsere Haltungen. Identität zeigt sich vor allem darin, in welchen Verhaltensmustern wir reagieren, wenn wir mit einer neuen Situation, einem neuen Buch konfrontiert werden. Die Vorstellung von Unvoreingenommenheit ist eindeutig eine Schimäre. Literatur unvoreingenommen zu begegnen würde heißen, aus dem Nichts zu kommen, ein Niemand zu sein. Ich denke, die Herausforderung liegt darin, sich seiner Gewohnheiten bewusst zu sein, verhandlungsbereit zu sein, sogar, sich selbst zu überraschen. Vielleicht sind es ja gerade solche Bücher, die eine alte Position ein klein wenig verrücken oder uns wenigstens zwingen, sie nochmals zu überdenken, die uns am meisten bedeuten.


Literaturnobelpreis

  "Wie entscheiden nun diese Menschen darüber, wer zurzeit in der internationalen Szene die größten Romanautoren und/oder Dichter sind? Sie befragen zahlreiche Literaturexperten in zahlreichen Ländern und bezahlen sie dafür, ihre Gedanken über mögliche Kandidaten zu Papier zu bringen." Parks rechnet durch, wie straff das Lesepensum der Akademiemitglieder sein muß. "Da ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie jedes Jahr zweihundert Bücher lesen müssen (zusätzlich zu ihrem normalen Arbeitspensum). Es ist also ein heterogener und anspruchsvoller Bücherstapel, den diese Professorinnen und Professoren Jahr für Jahr verdauen und vergleichen müssen. (...) Stellen wir uns nun weiter vor, wir wären auf Lebenszeit dazu verdammt, jahraus, jahrein eine belastende und fast unmögliche Entscheidung zu treffen, der die Welt aus unerklärlichen Gründen eine inzwischen geradezu verrückte Bedeutung beimisst. Wie gehen wir diese Aufgabe an? Wir suchen nach einfachen, schnellen Kriterien, die eine breite Akzeptanz genießen, um die Qual möglichst schnell hinter uns bringen zu können. Und da, wie schon Borges geschrieben hat, die Ästhetik eine schwierige Angelegenheit ist, welche eine besondere Sensibilität und gründliche Reflexion erfordert, politische Beziehungen dagegen leichter und schneller erfasst werden können, fangen wir an, uns diejenigen Gebiete auf der Welt herauszupicken, die, zum Beispiel aufgrund gesellschaftlichen Aufruhrs oder einer Verletzung der Menschenrechte, in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten sind; wir entdecken Autoren, die bereits viel Beachtung gefunden, in ihren Ländern womöglich wichtige literarische Preise gewonnen haben und sich offen zur richtigen Seite des wie auch immer gearteten politischen Konflikts bekennen, und wir wählen sie aus. Folglich gab es eine Zeit, in der der Nobelpreis an osteuropäische Dissidenten, an antidiktatorische südamerikanische Schriftsteller, an südafrikanische Autoren gegen Apartheid oder aber, am erstaunlichsten, and den Berlusconi-Gegner und Theaterautoren Dario Fo ging, dessen Sieg in Italien für ziemliche Fassungslosigkeit sorgte. Diese Methode war durchaus ehrenhaft, aber leider kann nicht jeder Krisenherd der Erde (Tibet, Tschetschenien) mit einem großen, regimekritischen Schriftsteller aufwarten. Erschwerend kommt hinzu, dass der Preis zugleich als Auszeichnung des Herkunftslandes des Gewinners betrachtet wird und es daher nicht möglich ist, ihn zweimal hintereinander an einen Schriftsteller aus demselben Krisenherd zu vergeben. Eine schier unlösbare Aufgabe!" Und sein Fazit "Vielleicht brauchten die Juroren mal ein Sabbatical." paßt wie in seinem Fall beim Schweden Tomas Tranströmer auch in diesem Jahr bei Bob Dylan.


Internationale Literaturpreise

  ... ist das Faszinierende an internationalen Literaturpreisen, dass bei der Auswahl von Schriftstellern aus verschiedenen Kulturen und Sprachräumen die Hindernisse so offensichtlich und abschreckend sind, dass diese Aufgabe beinahe vergeblich erscheint; doch der Hunger nach internationalen Preisen und Gewinnern ist derart groß, dass die Menschen alles tun, um diese Tatsache zu übersehen. (...) Was mich am Hin und Her dieser lebhaften Diskussion am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass anscheinend niemand auf die Idee kam, dass es ausreichen könnte, die eigene Gemeinschaft anzusprechen, dass es vielleicht gar nicht nötig ist, auf der großen Weltbühne in Erscheinung zu treten oder an deren Aufbau mitzuwirken. Warum muss die Literatur sich von diesem Großprojekt in Geiselhaft nehmen lassen? Das Ideal einer großen Weltgemeinschaft ist ein durchaus ehrenhaftes Modell, aber wenn die Literatur (wie der Fußball) zur Erschaffung dieser Gemeinschaft instrumentalisiert wird, dann hat das Begleiterscheinungen, die vielleicht weniger attraktiv sind.


Akademiker vs. Literaten

  Kann es nicht sein, dass der Schriftsteller, hin- und hergerissen zwischen Angst und Mut (...), doch ein bisschen neidisch auf die Akademiker ist, die sich gern damit begnügen, sich aus dem Leben in das chloroformierte Allerheiligste der Wissenschaft zurückzuziehen und gar nicht erst vorgeben, an vorderster Front zu agieren? Oder kann es sein, dass der Schriftsteller erfreut ist, in der offensichtlich langweiligen akademischen Kritik eine Textart vorzufinden, die seine eigene Arbeit im Vergleich zwangsläufig vital und aufregend erscheinen lässt? "(...) diese Gruppe von Wichsern, die im Kreis beieinanderhocken und der Welt den Rücken kehren, damit niemand sieht, wie sie sich gegenseitig einen runterholen."


Der Job des Schriftstellers

  Wann genau war es eigentlich, dass Schriftsteller zu werden zu einer Berufswahl wurde, mit entsprechendem Studiengang und dazugehöriger Hackordnung? (...) So hat es sich in unseren Köpfen festgesetzt: auf der einen Seite der Schriftsteller als Handwerker, dessen Persönlichkeit kaum eine Rolle spielte – die vorherrschende Situation in der vorindustriellen Zeit, als es nur wenige Schriftsteller gab, die in den rigiden Hierarchien eher eine untergeordnete Stellung einnahmen (Autoren wie Petrarca oder Chaucer) –, auf der anderen Seite der Schriftsteller als charismatischer Superman (wie Byron oder Shelley), dessen ausgeprägte Empfindsamkeit und kreative Kraft ihm oder ihr das Recht verliehen, die Regeln der Gemeinschaft zu verletzen und infrage zu stellen. (...) Es lag etwas Schmerzhaftes und Edles in diesem Unterfangen, das den Schriftsteller in einen von einer Elite verehrten Götterhimmel erhob. Vor allem betonte Eliot, dass die Schöpfung literarischer Werke über Jahre hinweg unendlich harte Arbeit bedeutete und wahrscheinlich ein abgeschlossenes Studium der klassischen und/oder modernen europäischen Literatur erforderte. Damit hatten die jungen Anwärter, ob Mann oder Frau, einen Lehrplan, dem sie folgen konnten, um Schriftsteller zu werden, wussten aber, dass auch viele Jahre harter Arbeit dazu nötig waren. Dennoch hat uns das alles nicht darauf vorbereitet, dass das Schreiben zu einer ›Karriere‹ werden würde. In den vergangenen dreißig, vierzig Jahren ist der Schriftsteller jemand geworden, der einer genau definierten Laufbahn folgt, genau wie in jedem beliebigen Mittelklasse-Beruf, allerdings nicht, um ein Handwerker zu werden, der für die Gemeinschaft arbeitet, sondern um (teils durch die veröffentlichten Texte, aber auch auf ein Dutzend andere Arten) ein Bild von sich als Künstler zu entwerfen, der die Richtung verkörpert, in die sich die Kultur bewegt. Kurz gesagt, die nächste neue große Sache. Eine Doris Lessing, ein Rushdie, ein Pamuk. Es ist fast so, als wäre aus der spontanen Romantik der Dichter des neunzehnten Jahrhunderts eine Stellenbeschreibung geworden; wir wissen, was ein Romantiker ist (kennen seine politische Meinung, seine Verhaltensmuster), wir wissen, das ist der Weg zu literarischer Größe, beschreiten wir ihn also.


Industrielle Maschinerie

  Was die Autoren zum Schreiben sich ähnelnder Bücher verleitet, ist vielmehr ihre Angst, aus ihrem Wunschberuf ausgeschlossen zu werden, im Verbund mit der Überzeugung, dass wir wissen, was Literatur ist, und lernen können, wie man sie produziert. Niemand erwartet tatsächlich etwas völlig Neues. Nur neue Versionen des Alten. (...) Ein vorgeblich unkonventionelles Publikum liebt also das Image des rebellischen oder zumindest bewundernswert unabhängigen Schriftstellers, aber ebendieser Schriftsteller ist mehr und mehr gezwungen, sich, wenn er erfolgreich sein will, der Logik einer industriellen Maschinerie zu unterwerfen, die ihn wiederum zur Kultivierung eines unkonventionellen Image anspornt. Das ist eine Aufforderung zur Heuchelei. In der Zwischenzeit öffnet sich die Welt immer mehr; Bücher kommen weiter herum und werden schneller denn je übersetzt. Ein natürlicher Ausleseprozess bevorzugt solche Schriftsteller, deren Stil und Inhalte sich leicht über Ländergrenzen hinweg transportieren lassen.


Der veröffentlichte Autor

  Woher kommt diese unkritische Bewunderung des veröffentlichten Schriftstellers? Wieso wird ein Mensch, der vorher fast ausgelacht wurde, allein durch die Tatsache der Veröffentlichung seiner Werke plötzlich zum Objekt unserer Bewunderung, zu einer Quelle besonderer Kenntnisse über das menschliche Dasein? Und, was noch interessanter ist, welche Auswirkungen hat dieses Umschwenken von Spott zu Verehrung auf den Autor und sein Werk, und auf die Literatur im Allgemeinen? (...) Es hat mich oft genug erstaunt, wie schnell und skrupellos junge Romanautoren oder Debütschriftsteller sich aus der Gemeinschaft der frustrierten Aspiranten zu lösen vermögen. Nach Jahren der Angst, übergangen und vergessen zu werden, hat der Autor durch die Veröffentlichung plötzlich das Gefühl, der Erfolg sei unvermeidbar gewesen, tief im Innern habe er immer gewusst, dass er zu den Auserwählten gehörte. Diese Autoren leben jetzt in einer anderen Dimension. Zeit ist wertvoll. Ein neues Buch muss folgen, denn die erlangte Anerkennung hat nur einen Sinn, wenn sie auch ausgeschlachtet wird. Ihrer Berufung sicher, ergeben sie sich ihr. Und schon allzu bald werden sie genau so, wie das Publikum sie will: vereinzelte Individuen, Hersteller dieses besonderen Produkts, der Literatur; Künstler.


Die Verehrung des Schriftstellers

  Bleibt die Frage, warum die Leute eine so hohe Meinung von Schriftstellern haben, selbst wenn sie gar keine Bücher lesen? Wieso pilgern sie zu Literaturfestivals, während die Buchverkaufszahlen sinken? Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass Verehrung und Bewunderung attraktive Gefühle sind; wir empfinden sie gerne, aber in einer agnostischen Welt des rücksichtslosen Individualismus wird es immer schwerer, Menschen zu finden, vor denen man sich verneigen kann, ohne sich albern vorzukommen. Politiker und Soldaten kommen nicht mehr infrage. Sportler sind nicht hochkarätig genug und ihre Karrieren zu kurz. In dieser Hinsicht ist es schön für den Leser und sogar für den Nichtleser, einen Literaten als Helden zu haben, der begabt ist und edel, vielleicht sogar leidgeprüft, jemand, der anscheinend nicht hauptsächlich damit beschäftigt ist, erfolgreicher zu sein als man selbst.


Keine Romane mehr

  ... der kuriose Fall des ersten, unveröffentlichten Romans von Thomas Hardy. (...) schreibt 1867 im Alter von siebenundzwanzig Jahren 'The Poor Man and the Lady' (...) Hardy hat das Buch als eine "dramatische Satire auf den Landadel" beschrieben, mit einer "sozialistischen, wenn nicht gar revolutionären Tendenz". (...) warnte ihn der Verlagslektor, der Romancier George Meredith, der Inhalt sei explosiv und könne seiner Karriere schaden. Aus Angst vor den Folgen zog er daraufhin das Buch zurück. (...) Später in seiner Karriere setzte sich Hardy dann in Tess von den d’Urbervilles und Herzen in Aufruhr doch noch mutig mit der viktorianischen Moral auseinander, war aber von den aggressiven Rezensionen, die er dafür bekam, so mitgenommen, dass er sich entschloss, gar keine Romane mehr zu schreiben, sondern nur noch Gedichte, was wesentlich sicherer war. "Keine Romane mehr", verkündete er. "Nur ein Narr würde absichtlich immer wieder aufstehen, um sich abschießen zu lassen."


Bewußtheitsstrom

  Im zwanzigsten Jahrhundert vermischt sich dieses monströs verstärkte Bewusstsein mit dem anschwellenden Hintergrundlärm des modernen Lebens, und es entfaltet sich der erbarmungslose Mitteilungsdrang der literarischen Moderne. Es ist, als sei der Bewusstseinsstrom erfunden worden, damit sich der Schmerz einer Psyche, deren Geplapper außer Kontrolle geraten ist, in eine neue, seltsame Schönheit verwandeln kann, die dann die eine Tat einschließt, die dem festgefahrenen Ich noch zur Verfügung steht: Selbstmord. Wie diese ästhetische Tröstung konstruiert ist, wechselt im Verlauf des Jahrhunderts dauernd. (...) Langsam hat man das Gefühl, dass nur seelisches Leiden und Ausweglosigkeit Würde und Adel verleihen. Unser Autor des zwanzigsten Jahrhunderts ist schlicht an keiner Psyche interessiert, die nicht leidet – und das zumeist in überkomplexer Syntax –, ebenso wenig daran, das traumatische Ereignis selbst zu dramatisieren; ihn interessiert nur, das festgefahrene und leidende Bewusstsein wiederzugeben, das hinterher darüber brütet.


Der nicht neutrale Leser

  Leser verhalten sich dazu nicht neutral in dem Sinne, dass sie sich darauf beschränken würden, schöne Prosa und eine gut komponierte Erzählung rein ästhetisch zu genießen. Wie weit die Handlung auch von ihrer eigenen Erfahrung entfernt sein mag, die Geschichte greift doch in ihr Leben ein: sie kann beruhigend, niederschmetternd, langweilig, aufregend, herausfordernd, unglaubwürdig sein; sie kann ungeduldig machen; und sie kann hilfreich oder auch nicht hilfreich sein. Genau aus diesem Grund, eben weil die Erzählung die Macht hat, unsere Ansichten zu verändern oder sie wenigstens zu hinterfragen, uns aus der Bahn zu werfen, gibt es Zeiten, in denen man bestimmte Bücher meiden sollte, weil sie nicht hilfreich sind. Ebenso wenig, wie man einen Pessimisten um Rat fragen würde, wenn man einen Karrieresprung vorhat, wäre es schlau, der Person, der man gerade einen Heiratsantrag gemacht hat, einen Band mit Kurzgeschichten von Tschechow zu schenken.


Literaturgeschmack & polarisierte Werte

  "Einer zentralen Annahme der Systemischen Psychologie zufolge entwickelt sich jede Persönlichkeit im Kräftefeld einer Herkunftsgemeinschaft. (...) Nach dieser Theorie versucht jedes heranwachsende Familienmitglied, zwischen den polarisierten Werten, um die es in der Familie vor allem geht, eine eigene feste Position zu finden. (...) Die italienische Psychologin Valeria Ugazio weist außerdem darauf hin, dass in einem solchen "Familien- System" auch "semantische Polaritäten" wirksam sind, was heißt, dass sich bei den Gesprächen innerhalb der Familie Kriterien herausbilden, nach denen Familienmitglieder und Familienfremde gelobt oder getadelt werden und es so zur Dominanz eines bestimmten Themas oder Problems kommt. (...) Positionentheoretiker (...) haben herausgefunden, dass Menschen die Position, die sie in der Familie einnehmen, immer in das größere soziale Umfeld mitnehmen. (...) Könnte nicht eine ähnliche Dissonanz zweier Psychen auch zwischen Schriftstellern und Lesern vorkommen? Oder anders herum: Könnten nicht die Psyche des Autors und die des Lesers allzu sehr übereinstimmen, aber eher im Disput als in Harmonie? (...) Was ich hiermit sagen will, ist, dass die Art, wie wir auf Romane reagieren, vor allem etwas mit der Art von "System" oder "Gesprächen" zu tun haben könnte, mit denen wir aufwuchsen und innerhalb derer wir uns eine Position suchen und eine Identität aufbauen mussten. (...) Wenige Werke der Kunst können universellen Reiz ausüben.


Kleinere Notate

  • Bedeutet der One-World, One-Culture-Gedanke, dass wir alle zu den gleichen Büchern greifen – und wenn ja, wie viele Schriftsteller kann es dann noch geben? Oder ist dann jeder ein Schriftsteller, nur ohne dafür bezahlt zu werden? Niemand komme ohne den Anschein der Unsterblichkeit aus, hat Emil Cioran bemerkt. Seit der Tod als das absolute Ende gesehen werde, schreibe ein jeder.
  • ...dass die Welt ungeheuer kompliziert geworden ist und die komplexen Geschichten von Romanen helfen, sich in ihr zurechtzufinden und sich einen Weg durch die zunehmend fragmentierte und unübersichtlich gewordene soziale Umwelt zu bahnen, in der wir uns bewegen.
  • ... eine starke nostalgische Sehnsucht nach den literarischen Mythen der Vergangenheit, den Giganten wie Dickens und Joyce, Hemingway und Faulkner. Ein heutiger Schriftsteller kann von einer solchen Aura nur noch träumen. Dennoch ist es diese Sehnsucht, die den gesamten Literaturbetrieb befeuert. Und das verzweifelte Bestreben der Verleger, einen Bestseller zu fabrizieren, damit die Rechnungen bezahlt werden können.
  • Es gibt eine Spannung zwischen Leser und Text, die der Übersetzer in besonderer Weise erfährt, weil er, wenn er den Text in seiner eigenen Sprache umschreibt, diese Spannung ein zweites Mal für einen neuen Leserkreis aufbauen muss. Sich bewusst zu machen, dass man vielleicht einen Text instinktiv verändert und die Spannung beseitigt, heißt, das Buch besser zu verstehen und zugleich etwas über sich selbst zu verstehen.
  • Heute sind eher Autoren unterwegs, die in Seminaren lernen, wie man ein Produkt von universellem Interesse schafft, etwas, das im Weltenmix schwimmen kann, statt die unmittelbare Welterfahrung der Menschen in der eigenen Kultur zu nähren.
  • Der Campus, auf dem ich unterrichte, ist jedenfalls voller junger Leute, die sich oft in den Armen liegen und meistens viel zu sehr mit dem Leben beschäftigt sind, um sich mit Literatur abzugeben. Das Einzige, was hier muffig riecht, sind die Magazine der Bibliothek.
  • Angesichts unserer heutigen Verlagskultur wäre die Annahme, dass ein Prozess des allmählichen Aussiebens noch einen glaubhaften Kanon hervorbringen könnte, wie er uns aus der Vergangenheit überliefert worden ist, blanker Unsinn. Was in der Zukunft als Kanon unserer Zeit gelten wird, dürfte sich hauptsächlich guter Werbung, kluger Selbstvermarktung und dem reinen Zufall verdanken.
  • Arnon Grünberg, Hollands wohl erfolgreichster Romanautor, hat auf seine Seite eine Weltkarte gestellt, auf der nur die Länder mit Namen bezeichnet werden, in denen seine Werke erschienen sind. Das sind allerdings viele. Klickt man auf Ägypten, Estland oder Japan, kann man sehen, was er dort veröffentlicht hat. Grünberg bloggt auf Englisch und ist eindeutig auf ein Weltpublikum aus. Genau wie ich übrigens. Denn was ist heutzutage schon der Erfolg wert ohne ein weltweites Publikum?
  • ....könnte man sogar die Tröstungen der Literatur als eine der Kräfte auffassen, die ein destruktives Kulturmuster am Leben halten. So sehr genießen wir unsere Fähigkeit, unser Unglücklichsein zu beschreiben und auszukosten, dass es kaum noch zu lohnen scheint, es anders zu versuchen.


© Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen. München: Antje Kunstmann Verlag, 2016. 234 S. ISBN: 978-3-95614-130-0.


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