Aus zu großer Nähe

Wie ich mich von einigen Büchern befreite


von Orhan Pamuk

Während der letzten beiden großen Erdbeben vor kurzem, im November, mit dem Epizentrum in Bolu, hat eine Flügel meiner Bücherwände plötzlich pochende Laute von sich gegeben und ausführlich vor sich hin geächzt. Währenddessen lag ich im Hintergrund auf meinem Bett und sah, mit einem Buch in der Hand, dem Schwingen der nackten Glühbirne zu. Daß meine Bibliothek sich der Wut des Erdbebens anschloß, daß sie sich zum Sprecher der Erschütterung aufwarf, daß sie rebellierte, hat mich zum einen erschreckt, zum anderen wütend gemacht, weil es mit irgendwie das Gefühl gab, verraten worden zu sein. Bei früheren Nachbeben war daselbe geschehen. Ich entschloß mich, meine Bibliothek zu bestrafen.

So wählte ich in kurzer Zeit mit einer seltsamen Unbekümmertheit 250 Bücher aus und warf sie fort. Ich suchte diese Bücher ohne Zögern aus - wie ein Sultan, der hastig durch eine Menschenmenge streift und dabei Untertanen zur Abstrafung bestimmt, oder wie ein Kapitalist, der mit dem Finger Angestellte auswählt, die dann entlassen werden. Was ich bestrafte, war meine eigene Vergangenheit, war die Arbeit, die ich mir bei der Suche, Auswahl, Kauf, Transport nach Hause, Aufbewahrung und Lektüre gemacht hatte, waren schließlich die Illusionen darüber, was ich bei zukünftigen Lektüren empfinden würde. Wie ich später spürte, entledigte ich mich dieser Auswahl mehr mit dem Gefühl der Befreiung als der Ausübung von Strafe. Dieses Glücksgefühl ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Beschreibung meines Verhältnisses zu Büchern und zu meiner Bibliothek. Denn ich möchte gerne etwas über meine Bücher sagen, aber dabei vermeiden, mit mir selbst anzugeben, wie das die tun, die deutlich machen, wie besonders, wie kultiviert und exklusiv sie sind, wenn sie von ihrer Liebe zum Buch reden, oder auch die, die erzählen, wie sie diese oder jene Rarität in Prag bei einem Antiquar in einer kleinen Nebenstraße aufgetan haben. Dabei weckt die Selbstbeweihräucherung, die Zwanghaftigkeit und der Exhibitionismus dieser hand voll von Bibliophilen und Sammlern neben unserem täglichen abgeschmackten Mittelmaß eigentlich nur Respekt in mir. Schließlich lebe ich in einem Land, in dem nicht das Nichtlesen von Büchern, sondern das Lesen als sonderbar, ja als Anzeichen von Krankheit und Glücksunfähigkeit gilt.

Aber mir kommt es nicht darauf an zu erzählen, wie sehr ich die Bücher meiner Bibliothek liebe, sondern daß ich sie nicht liebe. Der kürzeste Weg, diese Wut zu einer Geschichte zu machen, ist, mich daran zu erinnern, wie und warum ich mich von Büchern befreie. Wir stellen ja unterem unsere Bücher dazu in unsere Bibliothek zur Schau, daß Freunde, die wir beeindrucken wollen, sie sehen. Deswegen ist es ein durch und durch vernünftiger Weg aufzuräumen, einige Bücher zu verstecken und zu entfernen, von denen wir auf keinen Fall wollen, daß sie bei uns entdeckt werden. Wir werfen eine Menge Bücher weg, damit niemand mitbekommt, daß wir diesen Unsinn einmal ernst genommen haben. So ein Eifer flammt vor allem beim Übergang von der Kindheit zur Pubertät und von der Pubertät zum Erwachsensein auf. Mein älterer Bruder gab mir immer seine Kinderbücher, wenn er sich schämte, sie einst gelesen zu haben, und die gebundenen Sammlungen von Fußballzeitschriften (Bände der Vereinszeitschrift von Fenerbahce), wenn ich sie immer noch wichtig fand. Auf dieser Weise schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe.

Ich selbst habe mich so von zahlreichen türkischen Romanen befreit, von furchtbaren lyrischen und soziologischen Bänden, sowjetischen Romanen, mittelmäßigen Werken der Dorfliteratur und Zeitschriften kleiner Gruppen der linken Szene, die ich gesammelt hatte wie ein Archivar aus meinem "Schwarzen Buch". Auch was ich manchmal einfach kaufen und lesen muß: populärwissenschaftliche Bücher, Selbstanpreisungen der Art "Mein Weg zum Erfolg" und edelpornografische Werke ohne Illustrationen habe ich aus diesen Bedenken heraus erst in versteckte Ecken meiner Bibliothek verbannt und dann weggeworfen. Es sitzen tiefe, nicht gleich sichtbare Leiden hinter der oberflächlichen Freude an der Herabwürdigung, die wir spüren, wenn wir uns entschließen, ein Buch wegzuwerfen. Was wir da herabwürdigen, ist ja eigentlich nicht das Buch, dessen Anwesenheit in unserer Bibliothek uns stört - das politische Bekenntnis, die schlechte Übersetzung, die Moderomane, Gedichte, die alle einander und vielen anderen gleichen, Es ist die Bedeutung, die wir einmal diesem Buch zugemesssen haben und die ausreichte, Geld auszugeben, um es zu kaufen, jahrelang in unserer Bibliothek aufzuheben und sogar ein wenig darin zu lesen. Wir schämen uns nicht für das Buch, sondern eigentlich für uns, die wir es so ernst genommen haben.

Damit sind wir beim eigentlichen Thema: Meine Bibliothek ist für mich keine Quelle des Stolzes, sondern der Beklemmung und des Grolls. Sicher überlasse auch ich mich ab und an dem Behagen, die Bücher anzusehen, durchzublättern, einen Teil zu lesen, gerade so wie die Leute, die stolz auf ihre Bildung sind. In meiner Jugend habe ich mir ausgemalt, wie ich später als Schriftsteller vor meinen Büchern psoieren würde. Jetzt bin ich unglücklich, weil mich das Gefühl, Leben und Geld in all diese Bände gesteckt, sie wie ein Lastträger von Buchhändlern weggeschleppt und aufbewahrt zu haben, bedrückt. Noch viel wichtiger, es lastet auf mir, von ihnen "abhängig" zu sein Ich zöge es vor, das Gefühl "zuhause zu sein", das mir meine Bibliothek gibt, mit weitaus weniger Büchern erleben zu können. Mag sein, daß ich mit zunehmendem Alter Bücher wegwerfe, weil ich mich selbst glauben machen will, die Weisheit erreicht zu haben, die man von dem Besitzer einer Bibliothek erwarten kann, die aus gelesenen Büchern besteht. Aber immer noch kaufe ich deutlich mehr Bücher, als ich wegwerfe. Wenn eine der entwickelten Bibliotheken der reichen westlichen Welt für mich leicht erreichbar wäre, wäre meine eigene Bibliothek kleiner. Für mich ist das Problem nicht, gute Bücher zu besitzen, sondern in der Lage zu sein, gute Bücher zu schreiben.

Das hat sicher damit zu tun, an gute Bücher kommen zu können, wenn man sie braucht. Nur besteht wahres Lesen nicht daraus, daß der Mensch seine Augen und seinen Verstand allmählich und aufmerksam über den Text führt, sondern daraus, daß er aus voller Seele sich ihm ganz überläßt. Deswegen verlieben wir uns im Leben nur in eine begrenzte Zahl von Büchern. Die beste persönliche Bibliothek bestünde aus dieser beschränkten Zahl wahrer, aufeinander eifersüchtiger Bücher. Die Eifersucht zwischen ihnen versorgte den kreativen Schriftsteller mit einer Art Spannung. Flaubert sagt zu Recht, daß ein Mensch, der zehn Bücher mit großer Aufmerksamkeit läse, ein großer Gelehrter würde. Weil die Leute nicht einmal so viel schaffen, sammeln sie Bücher und sind stolz auf ihre Bibliothek. Weil ich in einem Land ohne Bücher und ohne Bibliothek lebe, kann ich wenigstens eine Entschuldigung vorbringen: Die zwöltausend Bände in meiner Bibliothek sind die unumgänglich nötigen Quellen und Referenzen meiner Arbeit.

Unter ihnen liebe ich vielleicht zehn oder fünfzehn Bücher, aber verliebt in meine Bibliothek bin ich wirklich nicht. Als Anblick, als Einrichtungsgegenstand, als Ansammlung von Staub und als materielle Last verspüre ich keinerlei Zuneigung zu ihr. Was mich (eigentlich) beglückt, ist, daß der Inhalt dieser Bücher für mich erreichbar ist, daß ich sei jederzeit lesen kann - sie sind wie de Frauen, die sogar als Vorstellung uns so glücklich machen, weil sie jederzeit bereit sind, uns zu lieben.

Weil ich mich vor dieser Abhängigkeit gerade so wie vor der Liebe fürchte, macht mich jeder einsehbare Grund, den ich finde, um mich von ihnen (den Büchern natürlich) zu befreien, glücklich. In den letzten zehn Jahren ist einer dazugekommen, an den ich in meiner Jugend nie gedacht hätte. Eine ganze Reihe von Autoren fortgeschrittenen Alters, deren Werke ich in meiner Jugend gekauft, gesammelt, ja sogar gelesen habe, weil sie nun mal "Literaten meines Landes" sind, haben in den letzten Jahren einen Teil ihrer Energie darauf verwendet zu beweisen, wie schlecht die von mir geschriebenen Büchern sind. Zuerst habe ich mich gefreut, daß sie mich so wichtig nehmen. Jetzt bin ich erfreut, für die Entleerung meiner Bibliothek eine Begründung zu haben, die liebenswerter ist als ein Erdbeben. So vermindern sich in den Regalen, die in meiner Bibliothek für die türkische Literatur vorgesehen sind, in großer Geschwindigkeit die Bücher von Schriftstellern des Alters zwischen fünfzig und siebzig mit von Geburt an verfehltem Leben, die halb erfolgreich, halb einfältig, mittelmäßig, männlich und kahlköpfig sind.


© F.A.Z, 15.4.00


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