Zeno und die Bücher


von Marcel Möring

Nach seiner Krankheit, als er die Bücherschränke ausgelesen hatte, die Enzyklopädie auswendig kannte und Englisch sprach, begann er um Geld zu betteln. Er wollte sogar, daß Sophie ein Auto kaufte, damit er es waschen konnte. Weil er auch keine Kohlen schleppen durfte beim Kokshändler auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dachte er sich etwas anderes aus. Es dauerte eine Weile, bis wir dahinterkamen, was es war. Eines Tages ging Sophie nach oben, um die Dore-Bibel zu suchen, die normalerweise in dem Bücherschrank in ihrem Arbeitszimmer stand. Wenn sie da nicht war und sie sie auch nirgendwo sonst finden konnte, mußte sie bei Zeno sein. Wir waren alle Büchernarren, aber Zeno war der einzige, der soviel und so viele unterschiedliche Bücher las, daß man ohne nachzudenken davon ausging, ein Buch, das man nicht finden konnte, stehe bei ihm.

Zeno verbrachte den größten Teil seiner Freizeit ihn seinem Zimmer und ließ keinen herein. Die einzige, die es gelegentlich betrat, war die Putzfrau, doch sie hatte er, wie wir später merkten, bestochen. Wir wohnten in einem großen Eckhaus in der Innenstadt, das an einer ruhigen Gracht lag. Bevor wir dort einzogen, hatte es aus zwei Wohnungen bestanden, was man noch im dritten Stock erkennen: ein langgestrecktes Wohnzimmer mit hohen Fenstern und dahinter eine große altmodische Küche sowie eine einfache Waschgelegenheit. Das Wohnzimmer wurde, als meine Mutter das Haus kaufte, in zwei Schlafräume aufgeteilt. Ich bekam den Teil auf der vorderen Seite des Hauses, einen Raum, der mit seinem großen Glaserker einem Schiffsbug glich, und dahinter lag Zenos Zimmer, das Fenster an der Seitenwand und einen großen grünen Marmorkamin an der Rückwand hatte. Von diesen Fenstern war, als Sophie das Zimmer betrat, wenig zu sehen: auf den Fensterbänken stapelten sich die Bücher. In den Kamin hatte er Regale gebaut. Der Fußboden sah noch am ehesten wie ein Miniaturlabyrinth aus.

Zenos Bett war nirgends zu entdecken. Erst als sie sich an den niedrigen Bücherwänden vorbeigezwängt hatte - im Zimmer standen auch mannshohe Stapel, die sanft hin und her schwankten, wenn man vorbeiging - und in die Nähe des früheren Kamins kam, sah sie eine Matratze. Sie lag auf einer etwa halbmeterdicken Unterlage aus Büchern. Die Dore- Bibel fand sie nicht; nach einer halben Stunde, die sie, auf das unwirkliche Schauspiel um sie herum starrend, auf einem Bücherstapel verbracht hatte, klopfte sie an meine Tür. Als ich öffnete, sagte sie nichts. Sie starrte mich eine Weile an, winkte mir mit dem Kopf und ging den Flur hinunter. Selbst Jahre später, wenn ich die Geschichte auf Zodes und Zeldas Bitte noch einmal erzählte, konnte ich nicht beschreiben, was mir durch den Kopf ging, als meine Mutter die Tür zu Zenos Zimmer auftieß. Sie hatte mir eine Minute Ruhe gegönnt und schließlich gesagt: "Für dich ist das also auch neu." Ich brachte kein Wort heraus. Wir standen nebeneinander auf dem kleinen freien Raum, der es der Tür ermöglichte aufzuschwingen. "Wo ... Wo hat er das her? Hat er das gestohlen? Wie kommt das hier ins Haus, ohne daß ich je etwas davon gemerkt habe?" Fragen der Verwunderung und der Wut und der Selbstvorwürfe, die meine Mutter sich und mir stellte.

Ich ging ins Zimmer, mit Slalombewegungen, Schritt für Schritt, links-rechts-links-rechts, denn anders konnte man nicht gehen. Ein Trümmerhaufen aus Papier und Leinen. Keine Romane, alles Lehrbücher, wissenschaftliche Bücher. Und als ich weiter schaute, nicht mehr gezielt, sondern nach Anhaltspunkten, nach etwas Erkennbarem suchend: Theologie, Philosophie, Anthropologie, Fotografie, Bibliographie, Biographie, Psychologie... Ich bückte mich und nahm einen in verwittertes braunes Leder gebundenen Folianten in die Hand. Ich schlug ihn auf. Eine Titelseite, die ich nicht lesen konnte. "Siebzehntes Jahrhundert!" rief ich. Ich ging weiter. Lateinisch, Hebräisch, Englisch, Deutsch, teilweise in Frakturschrift. Neue Bücher, alte Bücher, sehr alte Bücher. In dem Zimmer lag ein kleines Vermögen. Eine komplette Spezialbibliothek. Zeno kam eine Stunde später nach Hause. Er ging nach oben, trat pfeifend in sein Zimmer und zog drei, vier, fünf Bücher unter seiner Jacke heraus. Er wollte sie gerade auf die Stapel um sich verteilen, als meine Mutter und ich uns hinter einer kleinen Mauer kabbalistischer Mystik aufrichteten.

Zeno erschrak so, daß er sein Schmuggelgut auf den Boden fallen ließ. Was Bücher für ihn bedeuteten, wurde deutlich, als er sich sofort bückte und sie betrachtete. Er hob sie auf, legte sie auf den richtigen Platz (aber was ist ein richtiger Platz, dachte ich, was um Himmels willen ist in diesem Tohuwabohu der richtige Platz, um ein Buch hinzulegen?) und sah uns forschend an. "Zeno", sagte Sophie. "Was möchtest du mir sagen?" Er runzelte die Stirn. "Sagen?" "Worüber möchtest du mit mir über irgendwas sprechen", sagte er. "Verdammt noch mal!" rief keine Mutter. Es war das erste und einzige Mal, daß ich sie fluchen hörte. Ich faßte sie am Arm, denn ich glaubte, sie würde sich mitten zwischen den Büchernsäulen hindurch oder über die Büchermauern hinweg auf Zeno stürzen. "Sie möchte wissen, wie du zu diesen Büchern kommst", sagte ich. Sophie versuchte sich loszureißen. "Sie denkt..." In diesem Moment riß der Ärmel aus ihrer Bluse. Sie schoß auf Zeno zu, und ich flog durch das plötzliche Fehlen eines Gegengewichts zurück. Wir fielen weich, in die Bücher. Während ich mich aufzurappeln versuchte, sah ich eine Säule neben mir zu Boden gehen.

Ich hörte Zeno rufen und sah in seine Richtung. Dort war Sophie gerade dabei, aus einem Papierhaufen zu krabbeln, während um sie herum ein Stapel nach dem anderen, wie Dominosteine, umfiel. Es dauerte fast eine volle Minute, bis alles zur Ruhe kam, und dann standen nur noch zwei Türme. Meine Mutter saß mittlerweile mit gespreizten Beinen auf einer Unterlage aus Büchern auf dem Fußboden. Ihre Schultern zuckten leicht. "Ihr glaubt, daß ich sie gestohlen habe!" rief Zeno gekränkt. Ich hockte auf Händen und Füßen da und sah zu ihm auf. Ich versuchte, mit den Achseln zu zucken. "Ihr glaubt, daß ich das..." Es sah aus, als würde meine Mutter gleich losheulen, doch sie begann leise zu lachen. "Etwa nicht?" "Natürlich nicht!" rief Zeno. "Aber..." Zeno stakste wie ein Reiher durch den Papiersee. "Das meiste stammt von Versteigerungen, Altenheimbasaren, Märkten. Einiges aus Antiquariaten. Solche Bücher sind nicht so gefragt. Sie sind oft sehr billig." "Und was ist mit diesem hier", sagte ich und wühlte in einer erstarrten Welle aus Umschlägen. Ich zog ein handgroßes Buch heraus, gebunden in steifes braunes Leinen ohne Aufdruck.

"Der Raw", sagte Zeno, "kulturhistorische Erzählung, verfaßt von einem gewissen 'Judaeus', Hermon- Verlag, Frankfurt. Wahrscheinlich um 1930 erschienen. Hab ich von einem Antiquar bekommen. Es hat nicht den Originaleinband, ist aber sonst unbeschädigt." "Bekommen..."Es gibt kaum Käufer für solche Bücher. Schon gar nicht, wenn sie neu gebunden ist." Das war der Moment, in dem ich zu meinem Schrecken folgerte, daß Zeno kein Sammler war: Er las diese Bücher. "Woher hast du das Geld?" fragte ich. "Was glaubst du, warum ich jeden Samstag Autos wasche?" Er stapelte ein paar Bücher aufeinander und setzte sich kopfschüttelnd darauf. Dann hob er die rechte Hand und begann laut zu rechnen. "Ich schaffe selber zehn Autos, und ich habe zwei Hilfskräfte, die auch je zehn machen. Dafür bekommen sie von mir fünfundsiebzig Prozent." Er rechnete uns vor, wieviel ihm das insgesamt einbrachte, und erzählte weiter, daß er manchmal auch auf ein Buch stieß, das er für fünfzig Cent auf dem Markt kaufte und für fünfzig Gulden an einen Händler weiterverkaufte.

"Letztes Jahr", sagte Zeno, "habe ich 'Ulysses' für zweifünfzig gekauft." "Eine später Ausgabe." "Nein, Olympia Press. Dafür hab ich hundertfünfundsiebzig Gulden bekommen. Lag einfach in einer Kiste mit Heimatromanen auf dem Markt." Mir wurde auf einmal klar, daß mein fünfzehnjähriger Bruder, um seinen Wissensdurst zu stillen, Hädnler geworden war und daß er es sowohl beim einen als auch beim anderen weit gebracht hatte. Meine Mutter, die auf dem Fußboden sitzend zugehört hatte, strich sich eine spröde Locke aus dem Gesicht und sah auf. "Ich habe nichts dagegen, wenn du Bücher kaufst oder verkaufst, solange du sie ganz normal bezahlst, aber ich möchte nicht, daß du zwei kleine Jungen Autos waschen läßt und für deine Vermittlung Geld nimmst. Für sein Geld muß man selbst arbeiten." Zeno öffnete den Mund. "Und außerdem", sagte sie, während sie sich aus den Büchern erhob, "möchte ich, daß du etwas über Dokumentation lernst und diesen Kram hier in ordentliche Regale stellst und ordnest. Das hier ist nicht nur eine üble Marotte, es ist beängstigend. Ich möchte nicht, daß du mit diesem ganzen Krempel durch den Fußboden krachst, und ich möchte auch nicht, daß du später ein schmuddeliger alter Mann wirst, der in zerschlissenen Pantoffeln zwischen Stapeln von schmuddeligen alten Büchern herumschlurft. Du mußt Ordnung schaffen."

"Aber ich weiß genau, wo alles steht", sagte Zeno. Er blickte sich um, auf die sich zu Eisschollen stauende weiße Fläche. Seine Schultern fielen herab. "Wußte", sagte er. Über eine von Sophie Schülerinnen, die mit einem Gefrierfleischgroßhändler verheiratet war, bekam Zeno gebrauchte Holzregale. Eine andere Schülerin war Bibliothekarin und besorgte ihm einen ehrenamtlichen Job in der örtlichen Bücherei, wo er lernen konnte, wie man mit großen Büchermengen umgeht. Mit Sophies Erlaubnis rissen Zeno und ich die unbenutzte Küche in unserem Stock ab, und ein Klempner klemmte die überflüssig gewordenen Leitungen ab. Die Wände wurden neu gestrichen, und meine Mutter ließ den Fußboden mit schwarzem Linoleum belegen. Die Regale wurden nicht gestrichen. Obwohl hier und da Blutflecke zu sehen waren, wollte Zeno sie lassen, wie sie waren. "Blut und Bücher", sagte er zu mir, "das gehört zusammen."


Marcel Möring: In Babylon, Rowohlt-Taschenbuch, S. 249-254


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