Die Kunst des Lesens

Aus der Lese-Autobiografie von Henry Miller


"Eine solche Selbstprüfung - denn darauf läuft das Schreiben dieses Buches hinaus - führt unter anderem zu der festen Überzeugung, man solle sowenig wie möglich lesen und nicht soviel wie möglich. Ein Blick in den Anhang läßt erkennen, daß ich nicht annähernd soviel gelesen habe wie etwa ein Gelehrter, ein Bücherwurm oder slbst ein "Gebildeter" - dennoch habe ich ganz sicher hundertmal mehr gelesen, als ich zu meinem eigenen Nutzen hätte lesen sollen. In Amerika ist angeblich nur jeder fünfte ein 'Bücher'- Leser. Doch auch diese wenigen lesen meist viel zu viel. Selten lebt man klug oder lebensgerecht."

Bücher gehören zu den wenigen Dingen, zu denen man eine tiefe Zuneigung faßt. Und je mehr der einzelne ist, um so bereitwilliger wird er sich auch von teuersten Besitztümern trennen. Ein Buch, das unnütz auf einem Bücherbrett herumliegt, ist nasses Pulver. Wie Geld sollten Bücher ständig im Umlauf gehalten werden . Leih und borge soviel wir nur möglich - beides, Bücher und Geld! Besonders jedoch Bücher, denn sie sind unendlich viel wichtiger als Geld. Ein Buch ist nicht nur ein Freund, es schafft einem Freunde. Hat man von einem Buch mit Geist und Seele Besitz ergriffen, ist man bereichert. Dreifach reicher ist man, wenn man es an andere weitergibt.


© Henry Miller: Die Kunst des Lesens. Ein Leben mit Büchern. Ausgewählt und übersetzt von Manfred Andrae. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1967. 142 S.


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