Ein alter Herr


von Gerhard Köpf

Doch die Frau taugte nichts. Jedenfalls fand der alte Herr, seinerzeit ein junger Gelehrter, mühselig und unter Schmerzen heraus, daß sie ihn gar nicht liebte, sondern lediglich eine bequeme Altersversorgung suchte und ihn außerdem betrog. Sie war launisch, unzuverlässig und hatte eine zwanghafte Neigung zum Nasebohren, wenn sie nervös war. Und sie war oft nervös. Doch das alles hätte der alte Herr noch übersehen, wenn sie sich nur für Bücher begeistert hätte. Letztlich war diese unglückselige Verbindung nämlich daran gescheitert, daß sich diese Frau nicht fürs Lesen interessierte. Dabei hörte sie auf den schönen Vornamen Charlotte, woraus er geschlossen hatte, ihre Eltern müßten wohl irgendwann Goethes "Wahlverwandtschaften" gelesen haben. Du mit deinen Büchern und der ewigen Leserei, hatte sie ihm immer wieder keifend vor Eifersucht vorgehalten. Stinklangweilig ist das. Und das soll mein Leben sein? Alles hat bei dir mit Büchern zu tun, mit dieser anderen Welt, die es gar nicht gibt. Ich verkümmere, weil du diese blöden Bücher mehr liebst als mich.

Nicht ich betrüge dich, sondern du betrügst mich ununterbrochen mit deinen Büchern. Ich halte das nicht mehr aus, ich gehe. Daraufhin war er in seine Bibliothek gestürzt und hatte auf seine mit Zetteln gespickten Lieblingswerke gewiesen und gerufen: Charlotte! Was stammt nicht aus den Büchern? Hat es denn, ehe es Bücher, Erzählungen, Berichte, ehe es Worte gab - hat es denn da überhaupt etwas gegeben? Und wird denn, wenn das Denken aufhört, noch etwas übrig bleiben? Bücher! Was ist nicht Sache der Bücher! Die Vergangenheit lebt von neuem auf, die Erinnerungen kehren ins Leben zurück und erschaffen sich noch einmal. Die Wirklichkeit. Die andere Welt und das andere Leben, wie du das nennst, finden sich in dieser Welt und in diesem Leben. (...) Weil Charlotte keine Ahnung vom Lesen hatte, verstand sie auch nichts von der Liebe. Sie hatte einfach keine Phantasie. Hätte sie mehr gelesen, so hätte sie damit auch ihre Vorstellungskraft ausgebildet und wäre nicht im Bett herumgelegen wie eine Maschine, die nur mit allerlei törichten Turnerei beschäftigt werden wollte.

Der junge Gelehrte zog seinerzeit die einzige Konsequenz aus dieser Affäre, blieb künftig allein und nahm von nun an statt einer Frau lieber ein Buch ins Bett. Lange Zeit bewohnte er ein winziges Einzimmerappartement, in dem er immer weniger Platz hatte, weil die Zahl der Bücher unaufhörlich wuchs. Sein ganzes Geld legte er in Bücher an, kaufte, was ihm gefiel oder interessant schien, erwarb Bücher wegen ihres Einbandes oder wegen ihrer Illustrationen, erstand sie wegen ihres Formates, wurde vom Leser allmählich zum Sammler. Zuletzt hortete er Bücher wegen ihres Geruches. Eines Tages hielt es der alte Herr nicht mehr aus. Es wurde ihm zu viel. Er stellte sich die Frage, welche drei Bücher er wohl mit auf die berühmte einsame Insel nehmen würde. Es dauerte Wochen, bis er die Antwort fand. Es sollten drei Blindbände sein, in die er seine eigenen Erfahrungen und Gedanken schreiben würde. Das könnte mein Wunschbuch werden, das ich gerne läse im Alter, sagte sich der alte Herr. Es begönne weit vor mir, und es ginge darin um Kopf und Kragen. Darin könnte ich meine Hoffnungen begraben und mir erzählend die Aufwartung machen. Hinter dieser Barrikade könnte ich lügen wie gedruckt und wissen: solange ich lese, gibt es mich noch.

Ich könnte in dem Buch leben, aus dem ich nicht mehr herausfinden will. Lesend könnte ich mich erfinden und mein Leben lesen, anstatt es mühselig hakenschlagend leben zu müssen. Lesend erführe ich das Heutige in zukünftiger Erinnerung: Und wär' es eines Toren Fabel nur voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar. Lesend gefröre mir das Blut in den Adern. Lesend bewahrte ich mir, was alles zerrinnt zwischen den Fingern. Lesend hielte ich mir den Tod vom Leib, die Einsamkeit und alles Endgültige. Lesend träumte ich das Unfaßliche. Es würde für mich anschaulich. Mit diesem Gedanken schlief der alte Herr in seinem Lesesessel im Wintergarten ein. (..) Dem alten Herr träumte im Wintergarten, er müsse seine Bücherregale ausräumen. Hinweg damit. Nur drei Blindbände sollten bleiben. Er packte einen Wäschekorb voller Bücher und ging damit zur Mülltonne. Nachts, damit ihn niemand sah. Er schämte sich. Bücher wegwerfen? War das nicht in höchstem Grade unmoralisch? Nein, sein Entschluß stand fest.

Doch kaum hatte er die Mülltonne vor dem Haus geöffnet, stand seine Haushälterin Dragana hinter ihm und leuchtete ihm mit ihrer grellen Taschenlampe ins Gesicht: Was machen Sie denn da? Sie wissen doch, daß das verboten ist! Papier gehört in den Papiercontainer! Beschämt schleppte der alte Herr seinen Korb wieder in seine damals winzige Wohnung. Anderentags fuhr er zum Papiercontainer. Doch kaum wollte er seine Bücher in dessen Schlund verschwinden lassen, als ihn Kinder umringten, die mit herumliegenden zerfetzten Comics spielten und in seinem Wäschekorb zu wühlen begannen. Die Kinder waren noch klein, konnten also noch nicht lesen, doch übten die Bücher auf sie offensichtlich eine derartige Faszination aus, daß sie nicht mehr von ihnen lassen konnten. Und wieder brachte es der alte Herr nicht übers Herz, die Bücher wegzuwerfen. Wieder lud er sie ein und fuhr damit zurück. Ständig hatte er dabei die kleinen Hände vor Augen, wie sie vorsichtig die Seiten umblätterten, ständig sah er die Kinderaugen, die etwas sahen, was sie noch nicht deuten konnten und doch schon so taten, als läsen sie. Sie sahen dabei sehr glücklich aus. Endlich kam ihm die rettenden Idee. Er setzte eine Annonce in die Zeitung. Bücher kostenlos abzugeben! Tel. 432698.

Als sich niemand meldete, ließ er die Annonce noch einmal drucken. Einen Monat ging das so, doch niemand rührte sich. Der alte Herr blieb auf einen Büchern sitzen. Jetzt schrieb er Rundbriefe an Schulen, Altersheime, Krankenhäuser, Pfarrbibliotheken, Jugendzentren, Studentenwohnheime, Universitäten. Immer dasselbe: kein Interesse, kein Platz... Der alte Herr fuhr mit seinen Büchern in der Straßenbahn kreuz und quer durch die Stadt, doch jedesmal, wenn er ein Buch liegenlassen wollte, machte ihn ein freundlicher Mensch darauf aufmerksam und sagte: Vergessen Sie aber Ihre Bücher nicht! Zuletzt kaufte er sich eine Netzkarte der Bundesbahn und fuhr mit allen möglichen Zügen durch die Lande. In jedem Eisenbahnabteil ließ er einige Bücher liegen. Doch alle Bücher kamen per Post wieder an ihn zurück. Er hatte vergessen, die Seite mit dem Stempel seiner Adresse herauszureißen. Zahlreiche Finder verlangten außerdem den gesetzlichen Postbote, der unter der Last der Bücherpakete stöhnte, hörte von Stund' an auf, den alten Herrn zu grüßen. Die letzte Eisenbahnreise endete in einem Fiasko. Wieder ließ er eine Plastiktüte voll Bücher im Abteil zurück.

Gerade als er aussteigen wollte, riß eine aufmerksame Benigna von Abel das Fenster herunter und rief ihm auf dem Bahnsteig nach, er habe seine Bücher vergessen. Er hörte gar nicht hin und versuchte, sich sofort aus dem Staub zu machen, doch der Bahnsteig wurde von einer Gruppe Pfadfinder blockiert. Schon hörte er erleichtert das Signal zur Abfahrt. Der Zug fuhr los, und er sah ihm verstohlen über die Schulter nach. Noch immer fuchtelte und gestikulierte Lady von Abel mit ihrem Schirm aus dem Fenster. Er hörte sie rufen: Ihre Bücher, Ihre Bücher...! Sie hatte sie samt und sonders aus dem Fenster auf den Bahnsteig geworfen. Seine Bücher aber ist der alte Herr wieder nicht losgeworden. Er gab auf. Statt der Bücher ließ er immer mehr Möbel aus der Wohnung schaffen. Im Gegensatz zu den Büchern wurde er diese sofort los. Seither schlief er auf Büchern, aß auf Büchern, seine Nudeln und Fertiggerichte zwängten sich zwischen Bücher, ebenso Bratpfannen und Kaffeetassen. Die Spüle stand zwischen Büchern, sogar die Toilettenschüssel war von Büchern umgeben. Sein Klopapier war ebenso bedruckt wie seine Hemden und sein Einkaufsbeutel. Überall stand etwas zum Lesen drauf. Die Badewanne benützte er schon lange nicht mehr, denn sie war voller Bücher.

In dieser Zeit ist der alte Herr öfter umgezogen. Die Möbelpacker wurden immer mürrischer, die Wohnungen immer größer, sein Platz darin aber immer kleiner. Bis er endlich das Haus fand, in dessen Wintergarten er jetzt schlief und unruhig diesen Traum träumte. Er war infiziert: Das Lesegift hatte erbarmungslos zugeschlagen. Doch zu jedem Gift, überlegte der alte Herr, gibt es ein Gegengift: Er reiste von nun an viel. Ständig war er unterwegs. Das war sehr kostspielig; denn er hatte wegen der Bücher immer Übergepäck. Außerdem brachte er damit die Mädchen an den Einscheckschaltern im Flughafengebäude ebenso zur Verzweiflung wie die Gepäckträger. Damit hätte er ja noch leben können, aber die Sache war weitaus komplizierter: Das Gelesene wird das Erlebte, und ohne Lektüre hat er nichts erlebt. Dieser Satz von Elias Canetti griff in sein Leben ein. Wer nämlich liest, überlegte der alte Herr, der verläßt den sicheren Boden und wagt sich hinaus, um womöglich nie mehr wiederzukehren, um vielleicht nie mehr heimzufinden.

Wir alle kennen das schreckliche Schicksal des Ritters von der traurigen Gestalt namens Don Quixote. Plötzlich denkt man beim Lesen nicht mehr nur mit dem eigenen Kopf. Die Zeit fließt anders, oder sie steht still. Ewigkeiten haben zwischen zwei Buchdeckeln Platz: ein dichtes Gewebe, ein Straße voller Fahrpläne für unendliche Fahrten, tausendmal mehr, als ein Reisender in einer Winternacht erleben kann. Doch die Gedanken des alten Herrn gingen noch weiter: Ehe unsere Altvorderen ihre Schriften lasen, so argumentierte er im Schlaf, da lasen sie in den Sternen und aus der Hand, sie lasen im Flug der Vögel und aus der Stellung des Gefieders, sie lasen im Schwefeldampf der Orakel. Noch die Mönche des Mittelalters lasen ihr Lebtag nur in einem Buch. Bald wurde jene unruhestiftende Kraft der Leküre von den Mächtigen erkannt, gefürchtet, aber vergeblich unterdrückt. Da machte der alte Herr lesend eine donnernde Entdeckung: Trotz mancher Widerwärtigkeiten lebte er zufrieden bis zu dem Tag, an dem ihm dieses Buch in die Hand fiel: ein Buch, das sein Leben veränderte.


® Gerhard Köpf: Ein alter Herr, Tübingen: Klöpfer und Meyer, 2006. 211 S. ISBN: 3-937667-82-2


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