Ein Wunderbuch


von Gerhard Köpf

Einmal geschah ein kleines Wunder. Während des langweiligen Auf- und Zuziehens sämtlicher Schubläden, sämtlicher Kästen, Kommoden und Wandschränke, die es in dieser lautlosen Wohnung gab, die kalt war wie ein Eisberg - da hatte ich auf einmal ein Buch gefunden. Es lag unter abgelegten Schals und war zuerst gar nicht richtig als Buch erkennbar. Obwohl ich bis dahin nie besonders viel gelesen hatte, vor allem, weil ich die meisten Lesebuchgeschichten fürchtete, begann ich dennoch wie unter Zwang, mich sofort für diese Buch zu interessieren. Allein, daß ich es gefunden hatte, versetzte mich so sehr in einen Rausch der Begeisterung, daß ich vergaß, die Schublade mit den Schals und den Handschuhen wieder in Ordnung zu bringen und zu schließen. Ich nahm das Buch und setzte mich in dien Nähstuhl am Fenster, schaltete Music in the Air ein und sah, ehe ich es genauer untersuchte, hinaus in den Abend, hinunter zu den Haselnussstauden. So saß ich eine ganze Weile und wurde sehr ruhig. Das Buch lag wunderbar in der Hand. Es war eine Lust, es einfach anzufassen.

Es hatte ungefähr die Größe eines Gebetbuches, war aber dünner als der Schott mit den bunten Lesebändchen, den mein Vater an hohen Feiertagen mit in die Kirche nahm. Besonders fasziniert hat mich der Einband des Buches: er war braun, ledrig, weich und fühlte sich so angenehm an wie Haut. Das Buch hatte kein Titelblatt und auch keine Abbildungen. Bald stellte ich fest, daß die ersten und die letzten Seiten fehlten. Vielleicht gehörte es in eine lange Reihe von Bänden, vielleicht war es erst der Anfang einer wundersam verschlungenen Geschichte voll merkwürdiger Ereignisse, gefährlicher Abenteuer und verborgener Schätze. Oder es war ein Glied mitten aus einer solchen Kette, und ich kannte weder Anfang noch Fortsetzung noch Ende, sondern nur diesen einen Teil. Jedenfalls lag es anschmiegsam, federleicht und weich wie Haut in meiner Hand. Es hatte gelblich fette, abgegriffene Seiten, an denen ich sofort roch und deren rauchiges, gegen die Mitte hin ein wenig feucht-gräbeliges Aroma ich gierig einsog. Und mir war, als hätte ich damit schon die Hälfte gelesen. Ich wiegte es hin und her, betastete es, ich glaube, ich streichelte es. Der Rücken bestand aus einem teilweise klebrigen, teilweise knochenbleichen drahtigen Gestrüpp aus Fäden, Nähten und verkrustetem Leim.

Es war ein Wunderbuch. Wie war es überhaupt in unsere Wohnung gekommen? [...] Endlich begann ich, darin zu lesen. Und siehe da, neben diesem magischen Buch aus der Schublade für Handschuhe und Schals wurde das Lesebuch mit seinen scheußlichen Geschichten immer dünner und kleiner, bis es fast ganz verschwand. Ich vergaß alle Fotografien von Brigitte Bardot und ihrem trotzigen Mund. An diesem Abend hörte ich nicht einmal mehr, wie Music in the Air zu Ende ging. Ich saß im Nähstuhl meiner Mutter am Fenster und merkte gar nicht, daß es draußen längst vollkommen schwarze Nacht geworden war. Ich stellte mir vor, der Schlaf komme aus dem Wald, und dann las ich nur noch. (...) Seit ich (...) den ersten Satz gelesen hatte, waren Wohnung und halbverfallener Bauernhof oberhalb der Ortschaft, eingebettet in Viehweiden, von Haselnussstauden bekränzt, nicht länger von gusseiserner Angst gezeichnet, sondern friedfertig und sanft. Dachboden und Keller und alle halsbrecherischen Stiegen der Welt leuchteten wie mit Ofenrohsilber angestrichen. Das Buch in der Hosentasche, traute ich mich auch auf die Straße hinaus zum Friedhof. Von meinem Buch habe ich jedoch nie jemandem auch nur ein Sterbenswörtchen gesagt. Ich las und las, und dabei verschwanden alle grausamen Lesebuchgeschichten in einem tiefen Brunnen, und alle stickigen Postsäcke und alle schwarzen, fledermausartigen Umhangmäntel verbrannten lodernd in einem mächtigen, glühenden Kachelofen.


Quelle: Gerhard Köpf: Der Weg nach Eden. München/Zürich: Piper, 1994


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