Vorlesung an und für den Leser


von Jean Paul

Ich beschneide die Stunde, lieber Leser, denn wozu eine besondere Vorlesung für dich, da ja eigentlich jedes Buch und jede Bibliothek für niemand anders auf der ganzen Erde geschrieben wird, als für deine Person. Doch in der Zahlwoche und Buchhändlerwoche gedenkt man noch auf eigene Weise an dich, was dir deine Ausgaben wohl leicht beweisen. Denn kein Mensch in der Welt - nicht einmal die Orientfürsten, zu denen man noch weniger ohne Geschenke kommen darf, als zu Landrichtern - wird von so vielen, jedes Standes und Geschlechts, sogar von Fürsten und Damen und Dachstubenschreibern beschenkt, als du, oder das sogenannte Publikum -; und dies zwar so oft - jedes Jahr in den beiden Leipziger Messen - und zwar so reichlich - wie ich denn allein dir ein Geschenk von 60 bis 64 Bänden gemacht -: so hast du, guter Leser, wahrlich das Deinige zu bezahlen und in deinen Beutel zu greifen, weil wir Autoren, dem römischen Rechte zufolge, jedem Geschenke den Schein eines Verkaufs geben, und folglich von dir etwas nehmen müssen, was der Buchhändler einkassiert unter dem herkömmlichen Titel: Buchpreis. Aber, mein Leser, diese kostbaren Geschenke ordentlich zu verwenden, fehlt es dir ganz und gar an einer Anweisung und Schule; und wenn du durch Vor- und Nachschule, durch Philosophen und Fürstenschulen hindurch gezogen, und durch Sing-, Tanz- und Fechtschulen: immer wurde dir keine Leseschule aufgemacht. Noch schlimmer steht's mir dir, teure Leserin, und käme sie eben aus Töchter- und Näh- und Spinnschulen her - es ist aber wahrlich ein starkes Elend, und ein Schreiber sollte weinen.

Stehe doch nie ein Dichter dabei und könnt' es sehen, wie, wo, wann er gelesen wird; bester Leser - mitten im Warten auf einen Besuch oder auf frische Pferde - unter dem Ankleiden - unter dem Essen oder später, da, wo Dr. Semmler die Goldmacherei trieb - oder eilfertigst, um keinen neuen Lese-Torgroschen zu zahlen - oder des herausgefallenen Lesezeichens wegen irgendwo, wie es der Teufel will - oder mitten im höchsten Verdruß - oder auch im höchsten Jubel, ohne auf das Buch besonders zu merken - oder mitten in einem ergreifenden Auftritt oder Kapitel, aus dessen Anfange der Leser vor acht Tagen sprang, und zu dessen Ende er nach acht Tagen wiederkommen will, so daß während dieses Zwischenraumes die ganze Springflut des Dichters in ihm verlaufen ist - oder endlich kurz vor dem Einschlafen. Letztes jedoch tadl' ich an sich selber gar nicht; die Buchbenutzung, zu lesen, um zu schlafen; wäre an sich gerade die zweckmäßigste und sehr wünschenswert; und es hat mehr Schein als Grund, wenn man fragt, ob also ein Schriftsteller seine besten Kräfte und feurigsten Augenblicke zusammendränge, um an dem Leser nichts in Feuer zu setzen, als dessen Nachtmütze und Bettvorhang, und ihn durch alle Glut, statt zu begeistern, bloß einzuschläfern, wie in Südamerika gerade die höchste Sonnenwärme (nach Humboldt) das Krododil und die großen Schlangen in Winterschlaf und Schlamm einsenkt - denn die beste Antwort auf alles ist die Forderung, daß man den Schlaf nicht verachte, den ja Dichter und andere Werke als den Eroberer des so poetischen Traumreiches, als den täglichen Magnetiseur für das geistige Hellsehen nicht oft genug vermählen können mit ihren Schönheiten, so wie die Juno mit der schönsten Charitin, mit Pasithea, den Gott des Schlummers verband. Aber, worauf ich zurückzukommen habe, der große Fehler und Jammer ist, daß der Leser und der Dichter, zum Beispiel Homer, selten zur nämlichen, meistens in verschiedener Zeit einschlafen.

Heute rückst du deinen Lesetisch mit der Nachtlampe und dem Sonnenkörper des Phöbus, das heißt mit dem poetischen Buche ans Bett, doch das Buch wirft immer hellere Strahlen, je länger du hineinsiehst, und der Schlaf wird immer weiter zurückgejagt, je näher er kommen sollte - zu was hilft da Nachtmütze und Kopfkissen? Morgen hingegen schlägst du das Buch gerade bei dem Eintritte der poetischen Sonnenfinsternis auf, und du bist vor Langeweile nicht imstande, die Augen so lange offen zu behalten, bis du deine gewöhnliche Leseportion vor dem Einschlafen eingenommen. Eben so schlecht fährst du und schläfst du, wenn der Schreiber blitzt im Werke und Wetterleuchten und Nachtwolken gegen einander springen läßt; wie soll da Schlaf einwurzeln? Aber warum wird nicht Rat geschafft? Warum teilt der Schreiber nicht sein Werk nach Ähnlichkeit der Leiden-Stationen ab, und bezeichnet genauer die Stellen, wo er als abnehmender Mond aufgeht und durch ein geschickt fortgesetztes Vierteilen und diminuendo sich zu einem Grassichelrücken abstumpft, bis er ganz neu und sichtbar wird, zugleich mit dem Geist des Lesers. Guten Poeten fehlen dergleichen Stellen nie; nur sind sie für den schlaflustigen Leser im Bette nicht genug abgeteilt oder besonders angezeigt. Was vollends deine Teuerste anlangt, lieber Leser, nämlich die Leserin, so sind ihre Lesarten noch zehnmal ärger, aber noch huntermal unheilbarer; wir wollen sie also lieber machen lassen, was sie will - das Seidenläppchen oder der Seidenfaden kann aus dem Buche fallen - oder dieses von ihr aufgeschlagene auf den Bauch hingelegt werden, von andern umgekrht und zugeklappt, so daß sie in beiden Fällen nicht weiß, wo sie blieb - oder sie mag der Geschichte wegen hinten anfangen, von der Offenbarung Johannis an, und dann überall fortfahren bis zur Genesis und Schöpfung zurück: - sie bringt doch ihr Buch zu Ende, und dies genüge jedem. Ja sie vollendet es noch eher, als der Leser, da sie sich durch keine Sätze, geschweige Wörter, die sie nicht versteht, aufhalten läßt, sondern, sich mehr ans Ganze haltend, immer weiter dringt; eine treffliche Gewohnheit, welche sie zum Teil den Sprachzimmern der Männer verdankt, wo vor ihr täglich hundert juristische, medizinische und andere Kunstwörter, die ihr kein Mensch erklärt, vorüberrauschen.

Wahrscheinlich, geneigter Leser, wirst du auch meinem Buche die nächste Stelle an deiner Bettstelle geben, und diese Bücherschau zugleich mit deinem Augen zumachen wollen, um im Schlafe statt meiner zu reden. Ich wünsche herzlich, dich so spät in der Nacht nicht zu wecken, sondern zu wiegen - und es haben allerdings manche Schreiber Vorzüge - und Philosophen mit ihren Windmühlen, von den Luftarten der Systeme getrieben, bewegen eben so gut Wiegen statt der Herzen, als die Dichter mit ihren donnernden Wasserfällen von Redensarten, und keiner von beiden ist zu vergessen und auszulassen, so wie nicht nur die Leinweben in Schmiedeberg in Schlesien die Wiegen ihrer Kinder durch kleine Wasserfälle schütteln lassen, als Bergleute an manchen Orten die ihrigen durch Windmühlen. Und der Zuckerstoff, welchen die Chemiker Braconnat in Nancy, wie nach ihm Dr. Vogel in Münschen, durch konzentrierte Holzsäure aus Druckpapier auszuziehen versteht, bleibt immer nur ein körperlicher gegen den ähnlichen geistigen, den ein Minister aus dem Druckpapier der elendsten politischen Lobredner und Ministerialzeitungsschreiber zu extrahieren weiß, ja aus Lumpen selber, aber aus tragenden, wie der Chemiker aus getragenen für Papier. Und die Interpunktionszeichen der deutsche Reichts- Geschichte sind die Kaiser und die Könige, und die vielen Kommata sind die kleinen Fürsten, und dabei laufen die herrlichen Päpste als lange Gedankenstriche und Durchstriche hindurch - und in den Büchern der Griechen und Römer hingen die Sätze ohne Unterscheidzeichen an einander, bloß durch Geist gesondert. Und jeder Schluß, wenn denn nun dies alles so, und nicht anders ist und sein kann, ergibt und macht sich auf die erhabene und ehrende Stelung unserer Zeit samt ihren Zeiten und Zeitläuften. Und Südamerika samt Nordamerika, und Griechenland samt England vergewissern, vervollkommnen, vervollständigen, verwirklichen, berücksichtigen, bewahrheiten, bewerkhaben, bewerkstelligen ... - Jetzt schnarcht er, der Leser.


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