Sentimentale Bücher



von Kazuo Ishiguro

"Ich frage mich, was Sie da wohl lesen, Mr. Stevens." "Einfach ein Buch, Miss Kenton." "Das sehe ich, Mr. Stevens. Aber was für ein Buch - das ist es, was mich interessiert." Als ich aufblickte, sah ich, daß Miss Kenton auf mich zukam. Ich klappte das Buch zu, preßte es an mich und stand auf. "Wirklich, Miss Kenton", sagte ich, "ich muß Sie doch bitten, meine Privatsphäre zu respektieren." "Aber weshalb tun Sie so geheimnisvoll mit Ihrem Buch, Mr. Stevens? Ich muß ja annehmen, es ist etwas Gewagtes." "Es ist kaum anzunehmen, Miss Kenton, daß etwas 'Gewagtes', wie Sie es ausdrücken, in den Bücherregalen seiner Lordschaft zu finden wäre." "Ich habe mir sagen lassen, daß in vielen gelehrten Büchern die gewagtesten Abschnitte vorkommen, aber ich hatte noch nie den Mut, mich davon zu überzeugen. Jetzt lassen Sie mich doch bitte einmal sehen, was Sie da lesen, Mr. Stevens." "Miss Kenton, ich muß Sie bitten, mich in Ruhe zu klassen.

Es geht einfach nicht an, daß Sie mich während der wenigen Minuten freier Zeit, die ich habe, in dieser Weise verfolgen." Aber Miss Kenton kam noch etwas näher, und ich muß sagen, daß ich mir nicht ganz klar darüber war, wie ich am besten reagieren sollte. Ich war versucht, das Buch noch immer an die Brust gepreßt. "Bitte, zeigen Sie mir doch das Buch, das Sie da in der hand halten, Mr. Stevens", sagte Miss Kento, während sie weiter auf mich zukam, "und ich überlasse Sie den Freuden Ihrer Lektüre. Was kann das nur für ein Buch sein, daß Sie es mir nicht zeigen wollen?" "Miss Kenton, ob Sie den Titel dieses Buches erfahren oder nicht, ist an sich völlig unwichtig. Aber aus Prinzip dulde ich es nicht, daß Sie so einfach hier erscheinen und in meine Privatsphäre eindringen." "ich frage mich, ist das ein anständiges Buch, Mr. Stevens, oder wollen Sie mich wirklich vor seinen schädlichen Einflüssen schützen?" Dann stand sie vor mir, und auf einmal ging mit der Atmossphäre eine merkwürdige Veränderung vor - fast so, als wären wir beide plötzlich auf irgendeine völlig andere Seinsebene geschleudert worden. Ich fürchte, es ist nicht leicht zu beschreiben, was ich genau meine.

Ich kann nur sagen, daß es um uns her plötzlich sehr still wurde; ich hatte den Eindruck, daß sich auch Miss Kentons Gebaren jäh veränderte; ihr Ausdruck hatte etwas eigenartig Ernstes, und sie schien fast erschrocken auszusehen. "Bitte, Mr. Stevens, lassen Sie mich Ihr Buch sehen." Sie streckte die Hand aus und begann, mir das Buch sanft zu entwinden. Ich hielt es für das beste, zur Seite zu schauen, während sie dies tat, aber da sie unmittelbar vor mir stand, war das nur zu bewerkstelligen, indem ich den Kopf in einem unnatürlichen Winkel verdrehte. Miss Kenton befreite weiter behutsam das Buch aus meinem Griff, indem sie einen Finger nach dem anderen davon löste. Der Vorgang schien sehr lang zu dauern - es gelang mir, während der ganzen Zeit meine Positur unverändert beuzubehalten -, bis ich sie schließlich sagen hörte: "Du liebe Güte, Mr. Steven, das ist ja gar nichts Skandalöses. Nur ein sentimentaler Liebesroman." Ich glaube, dies war der Zeitpunkt, an dem ich mir sagte, daß ich ein solches Verhalten nicht weiter zu dulden brauche.. Ich weiß nicht mehr genau, was ich sagte, aber ich erinnere mich, Miss Kenton sehr energisch aus dem Zimmer gewiesen und damit die Episode zum Abschluß gebracht zu haben.

Ich sollte vielleicht hier ein paar Worte über das Buch sagen, um das sich dieser Vorfall drehte. Nun, es war in der Tat das, was man einen 'sentimentalen Roman' nennen könnte - einer von der ganzen Reihe, wie sie in der Bibliothek und auch, zur Unterhaltung weiblicher Besucher, in einigen der Gästezimmer zu finden waren. Daß ich angefangen hatte, solche Bücher zu lesen, hatte einen einfachen Grund: Es war ein sehr gutes Mittel zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Ausdrucksfähigkeit im Englischen. Meiner Ansicht nach - ich weiß nicht, ob man mir beipflichtet - wurde, was unsere generation betrifft, in unserem Beruf zuviel Wert aug guten Akzent und Sprachbeherrschung gelegt; und dies bisweilen zu Lasten wichtigerer beruflicher Qualitäten. Dennoch habe ich nie den Stadnpunkt vertreten, daß eine gute Aussprache und einwadnfreie Beherrschung der Sprache keine reizvollen Attribute seien, und ich habe es stets für meine Pflicht gehalten, sie so gut auszubilden, wie ich konnte. Ein einfaches Mittel, dies zu erreichen, ist die Lektüre eines gut geschriebenen Buches, wann immer man ein paar freie Minuten hat. So hatte ich es bereits seit einigen Jahren gehalten, und meine Wahl fiel oft auf ein Buch der Art, wie ich eines las, als Miss Kenton damals in mein Zimmer kam, einfach deshalb, weil solche Werke durchweg in einem guten Englisch geschrieben sind, mit reichlich gepflegtem Dialog, der für mich von besonderer Wichtigkeit ist.

Ein anspruchsvolleres Buch - sagen wir, eine wissenschaftliche Abhandlung - wäre, obschon von höherem allgemeinen Bildungswert. wohl in einer Sprache abgefaßt, die im üblichen sprachlichen Umgang mit Damen und Herren der Gesellschaft von geringerem Nutzen ist. Ich hatte selten die Zeit oder das Verlangen, einen dieser Romane von Anfang bis Ende zu lesen, aber soweit ich dies beurteilen konnte, war ihre Handlung unweigerlich lächerlich - eben sentimental -, und ich hätte keine Sekunde Zeit an sie verschwendet, wäre der vorerwähnte Nutzen nicht gewesen. Nachdem ich dies festgestellt habe, gebe ich aber heute gerne zu - und sehe darin auch keinen Grund, mich zu schämen -, daß ich bisweilen aus diesen Geschichten eine Art von zufälligem Vergnügen zog. Ich gestand mir das damals selbst vielleicht nicht ein, aber, wie gesagt, warum sollte ich mich dessen schämen? Warum sollte man nicht in einer zwanglosen Weise Geschichten von Personen genießen, die sich verlieben und, oft in den gepflegtesten Redewenungen, ihre Gefühle füreinander ausdrücken?


Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch, 1998. ISBN 3-499-13150-1, S. 194f.


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