Wer nicht liest, ist doof


von Elke Heidenreich

Als Kinder haben wir mit Kreide auf die Hauswände gemalt: "Wer das liest ist doof". Ach, und diese Freude dann, wenn es Eltern und Lehrer lasen, die Doofen! Heute möchte ich manchmal - gibt es überhaupt noch Kreide? - Kreide nehmen und beschwörend ganz groß auf alle Wände schreiben: "Wer nicht liest, ist doof". Es gibt eine Menge Leute, die nicht lesen. Und jetzt werden Sie sagen, na, die können dafür sicher prima Fußball spielen und Computer bedienen oder haben mächtig viel Herzenswärme oder Charakter oder sind erfolgreiche Manager. Und ich sage Ihnen: Wer nicht liest, ist trotzdem doof, zum Teufel dann auch mit der Herzenswärme. Die Lust an der Literatur ist auch die Lust am Leben. Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. Das setzt natürlich den Willen voraus, sich auf Geschichten einzulassen, sich aktiv ins Buch hineinzubegeben, sich bewußt von den Zertreuungen anderer Medien abzuwenden. Dann kann es eine wunderbare ewige Liebesgeschichte werden - die zwischen einem Buch und einem leidenschaftlichen Leser. Und sie die nicht blöde, die der Liebe ausweichen, wenn sie uns begegnet? Wir sind allein miteinander: das Buch, die Lampe und ich, und wir haben Geheimnisse miteinander - denn das Buch erzählt mir unter Umständen mein eigenes Leben. "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst", schreibt Macel Proust im letzten Band seiner Suche nach der verlorenen Zeit. "Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können." Ich kannte aus den Büchern gewisse Gefühle und Leidenschaften, ehe ich die realen Küsse dazu kannte, las darüber "mit der ängstlichen Nüchterheit der Süchtigen" (Jean-Paul-Sarte, Die Wörter). Was wir erlesen, übersteigt bei weitem das, was wir erleben, das Leben hält nur mühsam Schritt mit der Fülle der Geschichten, die uns entgegenströmen, wenn wir uns ihnen öffnen. Wenn. "Das Chaos in mir von unausgegorenen Sehnsüchten, von romantischen Verstiegenheiten, von Ängsten und wilden Abenteurerträumen wurde aus unzähligen Spiegeln auf mich zurückgeworfen, ich bevorzugte das Anrüchige, Zweideutige, Düstere, suchte nach Schilderungen des Geschlechtlichen, verschlang die Geschichten von Kurtisanen und Hellsehern, von Vampiren, Verbrechern und Phantasten und lauschte ihnen in meiner Zerissenheit und Melancholie" (Peter Weiss in "Erste Lese-Erlebnisse").

Ich wußte als junges Mädchen noch nichts von Männern und Leidenschaften, aber ich spürte sehr wohl, daß da etwas Unerhörtes vor sich ging, wenn Rhett Butler auf seinen starken Armen Scarlett O'Hara die Treppe hochtrug. Daß "Vom Winde verweht" in erster Linie ein Roman über einen grausamen Bürgerkrieg und über die Sklavenbefreiung im amerikanischen Süden ist, das habe ich erst dreißg Jahre später begriffen. Macht nichts. Mit fünfzehn war eben etwas anderes wichtig. Und Proust mit achtzehn ist so falsch wie die Häschenschule mit vierzig. Bücher haben ihre richtige und ihre falsche Zeit für unser Leben. In diesen Zeiten prägen sie uns. Und doch, es ist tatsächlich so: nicht jeder kann lesen. Man muß für das Lesen eine Begabung haben wie für das Malen und das Klavierspielen - sonst wird nichts Rechtes daraus. Es gibt Menschen, die macht die stille Konfrontation mit dem Buch kribbelig. Ihnen fehlt das innere Ohr, das auf Geschichten hören kann, wie sie leise nur ein Buch erzählt. Wir können diese Menschen ein wenig bedauern, wir möchten auch nicht unbedingt lange Abende mit ihnen verbringen, wir müssen sie aber nicht verachten. Verachtenswert hingegen sind die Bildungskoketteure, die in ihrer Kindheit gelesen haben und jetzt seufzen: "Ach wie ich Sie beneide, weil Sie so viel lesen! Das möchte ich auch, aber ich komme einfach nicht mehr dazu." Und auf die, nur auf die, trifft die Behauptung zu, daß, wer nicht (mehr) liest, auch irgendwie doof ist - deshalb heißt es hier: rote Karte, Platzverweis, Liebesentzug. Sie kommen, Verehrteste(r), zum Friseurbesuch, zum Stadtbummel, zum Autowaschen, Sie strampeln für Ihre Karriere, Sie verbringen lange Abende über Hirschragout an Preiselbeerschaum oder mit der Bohrmaschine im Bastelkeller, Sie trainieren sich fit und sitzen vorm Fernseher, um das Literarische Quartett zu ertragen, und dann kaufen Sie die dort wie auch immer besprochenen Bücher, stapeln sie auf Ihrem Nachttisch, aber zum Lesen kommen Sie nicht? Wer es braucht, tut's auch, so einfach ist das. Wer es nicht braucht, tut's nicht und ist und bleibt - naja: ziemlich doof.

Das Lesen, sagt Daniel Pennac, ist eine Seinsweise - es geht nicht darum, ob ich Zeit dazu habe, sondern ob ich mir das Glück leiste, zu lesen. Das ist wie mit der Liebe - keine Zeit dazu? Auch keine Zeit zu atmen? Lesen ist wie atmen, schreibt Alberto Manguel. Und da haben wir beinahe schon alles, was wir über das Lesen wissen müssen. Und noch dies: daß das Lesen keine sichere Bank ist. Daß die Welt nicht so ist wie in Büchern, daß uns aber die Gegenwart der Bücher hilft, die reale Welt besser zu begreifen. Der wahre Zugewinn des Lesens ist eine radikale Destabilisierung der Welt, daß heißt: Lesen ist fast immer auch Konflikt, Auseinandersetzung. Und wenn man das einmal weiß, geht es gar nicht mehr ohne - dann, nur dann, ist lesen wie atmen. Ich lese, also begreife ich, also bin ich bzw. kann ich sein. Aber Vorsicht: "Ich habe die Welt in Büchern kennengelernt: dort war sie assimiliert; und ich habe die Unordnung meiner Erfahrungen mit Büchern verwechselt mit dem zufälligen Ablauf wirklicher Ereignisse. Hier entsprang jener Idealismus, den ich erst nach dreißig Jahren von mir abtun konnte" (Jean- Paul-Sartre, Die Wörter). Natürlich ist Lesen auch Bildung. Zuerst kommt das Sprechen, dann kommt das Lesen, dann kommt alles Elektronische - ohne Lesen auch keine Internet. Aber die Literatur ist kein Vorzeigestück zum Angeben, was man alles weiß - sie ist eine Methode, um die Welt kennenzulernen, eine Mischung aus Lust und geistiger Disziplin. Sie will, sagt der italienische Kritiker Roberto Cotroneo, "mit Demut, aber auch mit Entschlossenheit angepackt werden" (Roberto Cotroneo, Wenn ein Kind an einem Sommermorgen). Gehen wir zurück zu den Anfängen - wie waren die denn? Am Anfang war die Häschenschule! Grauenvolle Bilder (von Fritz Koch-Gotha), entsetzliche Verse (von Albert Sixtus), aber die Häschenschule begleitete mich durch mein ganzes Leben, das war die Initialzündung. Denn genauso war sie, unsere Jugend in den fünziger Jahren: "In die Ecke muß er nun. Ei, da kann er Buße tun!" Autoritäre Eltern, mütterliche, strenge Ordnung zu Hause, in der Schule hauten einen die Lehrer auf die Pfoten, und im Feld, sprich in der Stadt, lauerten die Gefahren. "Wär' ich nicht ein Kindelein, möcht' ich gleich ein Häschen sein!" - so endet dieses Schreckensbuch, und genau das waren wir - arme Häschen, im Fronturlaub gezeugt, unter unwürdigen Umständen widerwillig geboren, "falls Heinz doch nicht aus Rußland zurückkehrt", ungeliebt durch die Wiederaufbaujahre gezerrt als lästiger Klotz am Bein. Es gab nie Stille, Frieden, Ruhe im Hause, wir auch bei Familie Hase nicht: da war sie, unsere Welt, eins zu eins.

Andere Bücher schufen eine Luftblase, in der man überleben konnte. Einerseits sahen es die Eltern gern, wenn das Kind las, es sollte ja mal was Besseres werden und es wurde auch durch die Höhere Schule geprügelt. Andererseits wurde jede Lektüre begleitet mit Sätzen wie "Du verdirbst dir noch die Augen", "Das ist noch nichts für dich" oder "Draußen scheint die Sonne". Ich habe mir die Augen verdorben, es war noch nichts für mich, und die Sonne schien in meinem Kopf und rettete mich vor Kleinkariertheit, Armut und Enge, vor den Komplexen und Ängsten einer Heranwachsenden. Fand ich mich dumm und häßlich: die Herzogin in "Alice im Wunderland" war dümmer und häßlicher als ich, war ich todunglücklich verliebt: Anna Karenina und Emma Bovary waren allemal unglücklicher als ich; und fühlte ich mich schlecht, weil ich in einem Laden Lippenstift geklaut hatte, wußte ich: Raskolnikoff war schlechter, der hatte nur mal eben so gemordet, weil es sich gerade ergab. Kam mir zuhause alles eng und klein vor und ich sehnte mich nach Schönheit, dann saß ich mit Mick aus "Das Herz ist eine einsamer Jäger" von Carson McCullers unter den Fenstern reicher Leute und hörte Mozart. Und wenn ich gar keinen Sinn mehr im Leben sah, dachte ich an Niels Lyhne, der alles falsch gemacht hatte und wenigstens sterben wollte - eine bedenkenswerte Möglichkeit zum Heldentum noch ganz am Schluß. "Wenn man einmal den Zauber und den Trost großer Literatur gekostet hat, möchte man immer mehr davon haben - andere lächerliche Geschichten und weise Parabeln, vieldeutige Märchen und seltsame Abenteuer. Und so fängt man an, für sich selbst zu lesen" (Klaus Mann, Der Wendepunkt). Kurzum: das Lesen hatte und hat nicht nur für mich immer eine lebensklärende, ja lebensrettende Funktion. Wie kommen Nichtleser überhaupt lebend über die Runden? "In den Büchern trat mir das Leben entgegen, das die Schule mir verborgen hatte. In den Büchern zeigte sich mir eine andere Realität als die, in die meine Eltern und Lehrer mich pressen wollten. Die Stimmen der Büchern forderten mein Mittun, die Stimmen der Bücher forderten, daß ich mich öffnete und auf mich selbst besann." (Peter Weiss, a.a.O.)

Lesen ist gefährlich. Es hat eine unterwandernde Wirkung, es trägt uns weg aus dem gewohnten Umfeld, es stellt Lebensumstände in Frage, weckt Sehnsüchte, schürt Aufstand und Widerstand. Nicht umsonst verbieten und verbrennen Diktatoren zuerst die Bücher, sperren die Dichter ein und bringen die Sänger zum Verstummen. "Es gibt die schöne Geschichte vom Buben auf dem Lande, dem ein Lehrer oder Pfarrer ein Buch gibt und dem sich die Welt der Phantasie eröffnet. Der Bub liest und liest, wird gescheiter und gescheiter, und eines Tages wird er, der arme Bub vom Lande, Lehrer oder Professor oder Pfarrer. Die Geschichte ist als Biografie denkbar, auch meine gleicht ihr im Ungefähren, und doch ist sie eine Illusion: sie verschweigt, weil sie von der glücklich machenden Moral des Aufsteigens ausgeht, den Preis, den dieser Aufstieg kostet. Sie unterschlägt die andere Geschichte, die unter der schönen liegt, die Geschichte der Entfremdung von seiner Umgebung, den Verlust sozialer Wirklichkeit, die Einsamkeit des Aufsteigenden, des Lesenden." (Peter Turrini, Biographie des Lesens). Das lesendes Kind ist immer auch das schwierige Kind. Es kapselt sich ab von der Welt, in der es lebt, und das sieht diese Welt nicht gern. Das Leben wird vor dem Hintergrund der Bücher manchmal unerträglich. Man stößt auf Goldadern, die man nicht teilen kann oder will. Das Buch stillt eine Sehnsucht, die es zunächst selbst erschafft.. Nabokov stellt sich das Paradies vor als einen Ort, an dem ein schlafloser Nachbar beim Licht einer ewigen Kerze in einem endlosen Buch liest. So gesehen: der Leser lebt im Paradies, in einem Paradies der Phantasie. "Vielleicht wird sich wieder herausstellen, was man früher schon gewußt, dann aber offenbar verdrängt hat: daß Phantasie keine minderwertige Form der Erkenntnis ist, vielmehr gleichen Ranges mit der Vernunft. (Heinz Piontek, Das Handwerk des Lesens). In jedem (guten!) Buch finden die Zusammenstöße nicht nur zwischen den Figuren, sondern zwischen dem Autor und der Welt statt, und ich darf teilhaben und mir meinem Platz im Getümmel suchen. Die Literatur ist auch ein Spiel. Wer das nicht weiß, wird so rechthaberisch- bissig, wie eben Literatur"päpste" werden. Spiel ist mit Lust verbunden. Wer keine Lust am Lesen hat, soll es halt lassen. Er kann ja trotzdem ein fabelhafter Elektronikspezialist sein, er kann Herzen verpflanzen oder zum Mond fliegen. Ein bißchen doof ist er aber doch - schon weil er auf Lust verzichtet.

Lesestoff ist auch Ballast - welche Figuren schleppt man nicht mir durchs Leben! Und doch, ich finde nicht, daß es schadet, die Nibelungen, Hiob und König Ödipus kennengelernt zu haben, denn wir kommen in Situationen in unserem Leben, wo wir merken: Gott spielt mit gezinkten Karten, er hat schon Hiob an der Nase herumgeführt, und jetzt bin ich eben dran. Es tut nicht so weh, wenn man nicht der Einzige ist, dem eine Menge Scheußlichkeiten widerfährt. Nach jedem Buch ist man ein anderer als zuvor. Auf irgendeiner Postkarte stand mal: "Lesen ist für die Seele, was Gymnastik für den Körper ist." Es ist wie ein Dialog mit sich selbst: Lesen macht nicht unbedingt glücklicher, aber man lernt sich besser kennen, und irgendwie kann das auch eine Art von Glück sein. Lesen ist auch die Erfahrung von Differenz - ich sehe, daß zu anderen Zeiten Menschen anders gelebt haben oder an anderen Orten unter anderen Umständen anders leben als ich. Und ich kann mich einordnen - wo ist mein Platz in all dem? Zunächst hier, vor dem Buch. Ich habe vorhin den fatalen Begriff vom "guten" Buch eingeführt und mich darum gedrückt, zu erkären, was denn das ist: ein gutes Buch. Ich denke, es ist die richtig erzählte Geschichte zur richtigen Zeit, und wenn man sich beim Lesen keinen Moment fragt: ist das auch gut?, sondern einfach weiterliest - ja, dann ist das gut. Beim guten Buch stellt sich die Frage nach dem guten Buch nicht. So gesehen kann auch eine Trivialgeschichte gut sein, denn wir lesen ja anfangs alles, die Kriterien zur Beurteilung bilden sich erst nach und nach heraus. (Es war Emma Bovarys Verhängnis, daß sie nie über die Schundromane hinauskam!) Ein Buch muß fesseln, alles andere zählt nicht. Fast hat mir die Germanistik damals das Lesen so verleidet, wie manche Kritiker versuchen, es mir zu verleiden. Da werden Geschichten zu "Texten", und die Texte werden "dekonstruiert", bis ihre Bedeutung verdampft und die Leselust gleich mit. Wunderbar schrieb Ulrich Greiner im März 1997 in der "Zeit" über die heutigen Germanistikprofessoren: "Die enttäuschten 68er, die bildungsfeindlichen Linken, die verbeamteten Solipsisten... brüten auf ihren Planstellen, und das Feuer der Begeisterung für Literatur und ihre Lehre scheint seit langem erloschen."

Jaja, ich habe auch all das kluge Zeug gelernt - daß der Mensch der Aufklärung durch Literatur erzogen wurde; daß die Literatur der Romantik auf die Nachtseiten, auf das Unkodierte hinweist; daß die realistische Literatur die Komplexität unseres Daseins abbildet; daß die Moderne so modern ist, daß es nichts geben darf, was es woanders schon gegeben hat; daß die Dekonstruktion so lange die inneren Widersprüche eines Textes (!) sucht, bis sich die Lektüre gegen die Struktur des Textes selbst richtet, und spätestens da macht nun alles keinen Spaß mehr. Aber dann greifen wir eben einfach zu Tolstois "Krieg und Frieden" und lesen den ersten Satz: "Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich." Und vergessen ist die Literaturtheorie. (Ach, man müßte einmal eine Abhandlung über "erste Sätze" schreiben!) Es gibt Weltmeister der ersten Sätze, Hunderte von Seiten bleiben wir dabei wegen eines ersten Satzes wie "Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen" (Gabriel Garcia Marquez, Hundert Jahre Einsamkeit). Zum Teufel mit den Literaturtheorien und ihren Langweilern auf Universitäten, Bildschirmen und in Zeitungen. Die Schriftsteller - die guten - scheren sich ohnehin nicht um Theorien, sie erzählen eine Geschichte. Die anderen setzen, statt zu erzählen, dann eben eine Theorie um - geschenkt. Wenn ich sage: man muß lesen, dann meine ich ja nicht: man muß jedes Buch lesen. Man muß Bücher mit guten Geschichten lesen, die großen Konzeptdenker scheinen gerade das verhindern zu wollen. "Aber wir, die gelesen haben und angeblich die Liebe zum Buch verbreiten wollen, betätigen uns statt dessen allzuoft als Kommentatoren, Interpretatoren, Analytiker, Kritiker, Biographen, Exegeten von Werken, die durch unser pietätvolles Zeugnis von ihrer Größe stumm geworden sind. In die Festung unserer Sachkenntnis eingeschlossen, wird die Stimme der Bücher von unserer Stimme übertönt. Anstatt den Geist des Textes aus unserem Mund sprechen zu lassen, verlassen wir uns auf unseren eigenen Geist und sprechen über den Text. Wir sind nicht die Geheimboten des Buches, sondern die vereidigten Wächter eines Tempels, dessen Schätze wir mit Worten preisen, die seine Türen verschließen: 'Man muß lesen! Man muß lesen!'" (Daniel Pennac, Wie ein Roman).

Nein. Muß man nicht. Und, auch das sei eingestanden, Schriftsteller können mitunter ebensolche Psychopathen sein wir wir selbst, Roßtäuscher, Falschmünzer, beschränkte Deppen, die uns aufs Glatteis führen. Und auch das gibt es: Böse Menschen können gute, gute Menschen todlangweilige Bücher schreiben. Was tut der Leser? Er vertraut auf sein Gefühl. Er pickt sich jeweils heraus, was er braucht. Im übrigen gilt: Man muß genauso wenig mit jedem Buch Freundschaft schließen wie mit jedem Menschen. Nur: offen für die Möglichkeit sollte man schon bleiben. "Ich habe mein Leben begonnen, wie ich es zweifellos beenden werde: inmitten von Büchern." (Jean Paul Sartre, Die Wörter). Lesen führt zur Identifikation, lesend sind wir unser eigener Held und unser Erlöser. Ist also nicht wirklich der, der all das nicht wahrhaben will - nun ja: doof?


© Elke Heidenreich: Wer nicht liest, ist doof, in: Kursbuch. Das Buch. Heft 133, Berlin: Rowohlt, 1998. ISBN 3-87134-133-9


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