Wir lasen um die Wette


von Oskar Maria Graf

Auch dieser schwere Sommer verging wie jeder andere. Anfang Herbst kam der Maurus, der ausgelernt hatte, aus Karlsruhe nach Hause. Die Herrschaften waren fort. Der Maxl ging ins Holz oder fuhr Mist auf die Felder und überließ dem Maurus die wenige Konditorarbeit. Er sah ihn nicht gern, redete wenig mit ihm, die beiden wichen einander, so gut es ging, aus, doch sie stritten wenigstens nie. Nun gab es ruhigere Zeiten für mich. Ich brauchte dem Maurus nicht viel zu helfen, aber ich tat es gern. Jetzt konnte ich ja oft bis nach Mitternacht schlafen, ehe wir das Backen anfingen. Der Maurus hatte viele Bücher mitgebracht. Er las Goethe und Heine ebenso eifrig wie Flaubert, Balzac, Stendhal, Maupassant und Zola. Ibsen, Björnson und Strindberg, die damals in Deutschland berühmt wurden, lagen ihm näher als Dostojewski und Gogol, und Gorki mochte er lieber als Tolstoi. Er verstieg sich bis Leibnitz, Spinoza, zu Fichte, Kant und Schopenhauer, aus deren Schriften er ganze Hefte voll tiefsinniger Sentenzen abschrieb. In diesen Heften standen auch Gedichte von Klassikern und solche, die er in Zeitungen oder Zeitschriften gelesen hatte. Jede Seite schmückte er mit einer hübschen, selbstgezeichneten Vignette, die er immer wieder verbesserte. Maurus suchte mich beständig für seine Bücher zu interessieren und gab sich alle Mühe, mir das Gelesene begreiflich zu machen. Ich konnte aber vieles nicht erfassen und wurde schnell müde dabei. Dann wurde er ärgerlich und schlug mich, und es war seltsam, wie er sich dabei erregen konnte. Er war dem Weinen nahe vor Wut und redete in einem fort auf mich ein: "Ja, verstehst du's denn wirklich noch nicht? ... Noch nicht? ... Das ist doch schön! Da muß man doch lachen! Begreif doch, du Aff, du blöder! Warum weinst du denn, du Esel? ... Paß doch besser auf, dann wirst du schon dahinterkommen, wie wunderschön das ist."

Ich wußte mir zuletzt nicht mehr anders zu helfen, wischte meine Tränen ab, nickte und versuchte, gefroren zu lachen oder beflissen zuzustimmen. Nach einiger Zeit aber lasen wir geradezu um die Wette und freuten uns über die Begeisterung, in die uns die Bücher versetzten. Ich erinnere mich noch der Spaziergänge an den Sonntagnachmittagen, die wir, mit irgendeinem Buch in der Tasche, gemeinsam machten. Wir hockten uns auf einen stillen Wiesenabhang und schwärmten. Wir lasen damals den "Vater" von Strindberg. Mein Gott, und wir verstiegen uns sogar so weit, die Ehe unseres Vaters und unserer Mutter mit diesem strindbergschen Ehedrama zu vergleichen, und da war doch alles, alles ganz, ganz anders gewesen. Aber der Mensch, der zum erstenmal ganz hingegeben liest, dem scheint alles Gelesene Leben zu werden, Leben der nächsten Menschen, die er kennt! Maurus blieb aber leider nicht lange daheim und suchte sich auswärts eine Stellung. Der Maxl war sehr zufrieden damit. Er hatte sich heimlich dessen Backrezepte abgeschrieben. Für Anna und mich war die abenteuerlichste Zeit, wo wir mit andern Schulkameraden gewildert hatten, längst vorüber. Der Lenz war einmal dagewesen, hatte von einer Polizeistrafe, die er absitzen sollte, erzählt und gesagt: "Mich erwischen die nie! Ich geh' einfach zum Eugen nach Amerika!" Er nahm die Gewehre mit und verkaufte sie in München. Wir hörten nichts mehr von ihm. Maurus hatte die Bücher mitgenommen. Ich aber konnte das Lesen nicht mehr missen. Wieder sprach ich mit dem Schuster Lang. Er willigte ein, und ich ließ mir eine Menge neuer Bücher an seine Adresse schicken. Niemand als Anna wußte es. Ich las ihr manchmal während des Brotaustragens Gedichte vor, und wir wurden schwärmerisch, ja beseligt, bis wir wieder daheim ankamen.


© Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter, München: dtv, 1984


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