Das Beste aus schlechten Büchern


von Ulrich Goerdten

Schärfer als Klopstock und Schiller, die auch den Mächtigen Unverstand in Sachen Kunst nachsagten, hat Lessing das Mißbehagen am damals alles beherrschenden höfischen Geschmack ausgedrückt. Der sich kunstsinnig dünkende 'Verbraucher' seiner Zeit, "der Regent, ernährt eine Menge schöner Geister, und braucht sie des Abends, wenn er sich von den Sorgen des Staats durch Schwänke erholen will, zu seinen lustigen Räten." Man kennt sie heute kaum noch dem Namen nach, die gut bezahlten, Schwänke ersinnenden Hofpoeten. Was Lessing selbst an 'moderner Literatur' gegen das Schlechte in die Welt gesetzt hat, ist mittlerweile klassisch geworden. Gutes fand er aber auch in den Schriften der Mitlebenden. Hier freilich oft nur im Verborgenen, spurhaft und verschüttet unter dem breiten Sandstrom des Mäßigen und Zeitgemäßen. Aus diesen Verhältnissen leitet sich wohl auch die Idee zu einer Zeitschrift her, die den Titel "Das Beste aus schlechten Büchern" tragen sollte, in der Lessing dieses verschüttete Beste ans Licht ziehen und für seine kunst- und geschmackspädagogischen Absichten einsetzen wollte. In einer späten Notiz und in Briefen an Moses Mendelssohn und Elise Reimarus taucht der Titel auf, der Leipziger Ostermeßkatalog von 1755 kündigt ihn sogar schon als Neuheit auf dem Markt an, erschienen aber ist das Blatt nie. Über den geplanten Inhalt kann man nur spekulieren, weil nichts zu ermitteln ist. Nur das Antithetisch-Witzige des Titels läßt vermuten, daß auch ein wenig Ironie hätte mitspielen sollen.

Wendet man nun den oben zitierten Satz aus Lessings Ode "An Mäcen" ins Gegenwärtige, setzt man für den "Regenten" die heute Mächtigen im Reiche der Literatur, Verleger, Kritiker und das bücherkaufende Publikum, für den "Staat" die Sorgen des Verdienens und der Alltagsgeschäfte und für die "lustigen Räte" unsere Ent-Spanner, kurzweiligen Schöngeister und Bestsellerverfertiger, so kann man ihn als Ausdruck eines zeitlosen und darum auch aktuellen Problems erkennen: Das wirklich Neue und Gute hat es auch heute schwer, sich durchzusetzen gegen die Übermacht des von allen Seiten erwünschten und geförderten Mäßigen und Zeitgemäßen. Es sei hier an den schon zehn Jahre alten Skandal erinnert, daß Christoph Meckel seine "Balladen des Thomas Balkan" unter falschem Namen, also als Namenloser, renommierten Literatur-Verlagen angeboten und sie von ausnahmslos allen mit wohlstilisierten Begleitschreiben zurückbekommen hat. Keiner wollte ein geschäftliches Risiko eingehen. Das Buch erschien dann in einem Berliner Ein-Mann-Verlag. "Das Hamburger Modell zur Literaturförderung, für das in diesem Jahr insgesamt 140.000 Mark zur Verfügung stehen, soll die Veröffentlichung von Manuskripten Hamburger Autoren in solchen Fällen erleichtern, in denen der literarische Wert außer Zweifel steht, der Verkaufserfolg aber fraglich erscheint." Die Meldung des "Börsenblatttes" von 21.3.80 macht die Lage in ganz kommentarerübrigender Weise deutlich. Denn, so muß man sich doch fragen, was wird aus ihren Manuskripten, wenn von "solchen Fällen" Autorinnen und Autoren betroffen werden, die unglücklicherweise in Wiesbaden oder Itzehoe den ersten Wohnsitz haben? Antwort, mit verstellter Stimme: Sollen sie doch gefälligst lesbare Bücher verfassen, deren Verkaufserfolg hinreichend gesichert erscheint.

Ein distanzierter Blick auf unsere Buchkultur verlängert die Perspektive ins Allgmeine: Einerseits die Form der Produktion, die ganz unverfroren-offensichtlich auf schnellen Umschlag und Verbrauch hin konzipiert ist, das wimmelnde Taschenbuch-Kleinzeug, das myriadenhaft-monatlich den Füllhörnern unserer Verleger entkreucht, gedruckt auf frisch drauflos gilbendem Holzpapier, hinten schlecht verklebt, mit grellem Cover vorndrauf, Erzeugnisse, die nach spätestens zehn Jahren nicht mehr benutzbar sind. Auf der anderen Seite die dickleibigen Umsatzbringer, Drei-Sterne-Bücher für literarische Feinschmecker, die großen Romanüberraschungen des Monats, das Schönste und Originellste von und über, so dicht, so sprechend nah . . . (Hier wurde zitiert: die Gebrauchstexte der Börsenblatt-Anpreisungen sprechen auch eine deutliche Sprache.) Die stehen dann, breitschultrig-solide, fadengeheftet im festen Leineneinband wie für die Ewigkeit gemacht in den Regalen und bergen doch den Verschrottungseffekt an anderer Stelle, im einmal gelesen gleich nichtssagend gewordenen Inhalt. Dazwischen die Ausnahmen, gewiß, die aber jeder Verständige in ihrem Ausnahmecharakter erkennen wird. Denn die können nicht die Wahrheit des Satzes schmälern: Wirkliche Literatur, Form und Ausdruck gewordene originäre Bewußtseins-Erfahrung, hat hierzulande kaum einen Markt. Der Kommerz macht die Literatur kaputt. Was zu Lessings Zeiten erst hoffnungsvoll keimte, der freie Autorenstand, ein leistungsfähiges Verlagswesen, ein breites Lesepublikum, ist heute zu einem vielschichtigen Interessensystem verholzt, das vom Profitstreben und dem Bedürfnis nach kurzweiliger Freizeitausfüllung in einem Anschein von Leben erhalten wird.

Der Versuch, "das Beste aus schlechten Büchern" zu ziehen, müßte heute wohl darauf hinauslaufen, Spuren des Besseren im Sandigen und Seichten zu verfolgen: im Zeitgemäßen und Gängigen das aufzuspüren, was zeitungemäß ist, weil es immer schon weiter voraus ist; im Getümmel der Edelschinken und Lumbeck-Pockets das hochzuhalten, was in zweihundert Jahren zur Literatur unserer Zeit geworden sein könnte. Schlecht hin, gut her, bei der heutigen materialistisch - sozialwissenschaftlichen Ausweitung des Literaturbegriffes, der "schöne" Literatur und Gebrauchstexte gleichermaßen umfassen soll, sind Wertungen ohnehin so fragwürdig geworden, daß sie nur noch ambivalent-ironisch zu verwenden sind. Das ins Gegenwärtige transponierte Zeitschriftenpojekt Lessings müßte, der Ironie des Titels folgend, vielleicht die zeitcharakteristischen Züge von Umsatz-Literatur attackieren, die pomphafte Hülle einmal durchsichtig machen, die das ärmliche Skelettchen klappriger Mittelmäßigkeit verdeckt, das der Kern unseres hektisch Lebendigkeit vortäuschenden Literaturbetriebes ist. Vielleicht auch könnte die unter dem kommerziellen Diktat von Umsatz und Profit immer schlechter werdende äußere Qualität der Bücher einen Anhaltspunkt liefern, wo im schäbigeren Gewand (von Gut und Schlecht, wie gesagt, ganz abgesehen,) das Bessere zu suchen sei . . . Ende letzten Jahres ist im offenbar neu gegründeten Hövelborn Verlag zu Siegburg ein Buch erschienen, an dessen Materialqualitäten und äußerem Erscheinungsbild allerlei zu bemäkeln wäre: Ernst-Jürgen Dreyers Roman "Die Spaltung". Es ist seinem Äußeren anzumerken, daß es zu den ungeförderten Büchern von zweifelsfreier Qualität und fraglichem Verkaufserfolg gehört: es ist von einer Schreibmaschinen-Vorlage im Offsetverfahren vervielfältigt, und der Text, der hier auf 483 Seiten zusammengedrängt steht, würde im normalen Buchdruck einen Umfang von 800 bis 900 Seiten ergeben, worauf heute kein Verleger einen Pfennig investieren würde. Die Seiten sind randvoll getippt, und beim Lesen muß man den Text bis in den Bundsteg hinein verfolgen, was seine Schwierigkeiten hat, da man das Buch nicht plan aufschlagen kann: die 1,2 mm starke Leimung zieht die Seiten mit unwiderstehlicher Kraft in den Zusammenklapp-Zustand zurück. Ein flexibler, leinenbezogener Karton, wie für kurzlebigste Gebrauchsliteratur, hält das Ganze zusammen, auch dieser randvoll mit Informationen bedruckt, vorn mit Titel und Umschlagbild, hinten mit Porträt und Kurzbiographie des Autors, der auf den Innendeckeln noch eine Leseanleitung liefert.

So erfährt man, wer er ist: ein Musikwissenschaftler, derzeit Sprachlehrer für Spätaussiedler, der vierzehn Jahre an dem Roman gearbeitet und weitere Jahre ans Kürzen und Umarbeiten gewendet hat. Und zum Besten ist denn auch geraten, was in diesem schlechten Buche steht. Hauptort der Handlung und des sprachlichen Geschehens ist das Leipzig des Jahres 1959. Ein DDR-Buch also. Aber was für eins! Der Staat, das Land, die Stadt sind als ein Panorama der Bewußtseinszustände ihrer Bewohner dargestellt. Traum, Tagtraum und vom Ich als absonderlich empfundene Bewußtseinsformen sind Teile der Roman-Realität, die in allen heute verfügbaren Organisationsformen des literarischen Textes die Spaltung eines Landes, eines Paares und eines Bewußtseins gestaltet. Die Sprache ist ein Deutsch, das in einer Fülle von Varianten durchgespielt wird. Hauptelement ist das Sächsische, ein leider etwas diskreditierter Dialekt, dessen Ausdrucksmöglichkeiten hier aber bis zum Äußersten ausgeschöpft sind und von der rüpelhaftesten Schimpfkanonade über den Slang der DDR-Intellektuellen bis zum Vopo-Genuschel reichen. Die finstere Geschichte ist mit drastischer Komik durchwürzt, doch auch die Witze und Scherze sind so durchmischt mit düsteren Tinten, daß einem beim genaueren Hinsehen das lachen im Halse ersterben kann.

So bei jenem okkult zu nennenden Erlebnis, das einem Volksplizisten widerfährt, der im Zuge eines routinemäßigen Dienstganges in die Bereiche der zum Aussterben verurteilten Bourgeoisie gerät, in das Zimmer einer Frau nämlich, ". . . du, ich sage dir, da hab ich plötzlich begriffen, was Guldur ist." . . . "Das war alles, wenn ich so sagen darf, Glasse." Dort geschieht ihm Unfaßbares, etwas das an Unerforschliche streift: "Ich hab geredet, Mensch über Gott und die Welt hab ich mich unterhalten mit der Frau, und der Ausdruck, der floß mir nur so zu. Mensch ich konnte auf einmal konnt ich sogar Noten lesen. Nee das nich. Ich hab se gebeten, mir was vorzuspielen. Nun, sie hats nicht getan, und ich weiß auch gar nicht obs den Komponist überhaupt gibt dem seine Noten da auf dem Klavier standen. Ja, das isses ja, Gut, du nennst es okkult, aber das isses ja eben. Schopen hieß der. Schopen. Ich hab ins Lexikon gekuckt und ich hab mich wer weiß wo erkundigt: Ich hab Schopenhauer gefunden und Gott weiß was, aber Schopen - einen Kopmponist der wo Schopen heißt, den gibts nicht. Und ich hab es doch mit eigenen Augen hab ich es doch gesehen, ich seh die Hefte vor mir: so groß ungefähr, so bräunlich-gelb, und darauf mit russischer Schrift: Schopen. Nun, es war so." (S.267) Das Lachen vergeht einem spätestens 122 Seiten später, wo dieselbe Episode, von der Frau erlebt und beschrieben, in wohlbegründetem Mißverstehen als gefährliche Bedrohung empfunden wird.

Daß ein solches Buch, ein Stück Literatur der obersten Qualität, nicht in einem unserer Großverlage erschienen ist, - wen wundert's noch angesichts der oben umrissenen "Lage". Der Verkaufserfolg steht, auf lange Sicht, ganz außer Frage. Im kurzatmigen Jahresrhythmus unserer Buchproduktion allerdings, wo im nächsten Jahr das neue Drei-Sterne-Buch das vorjährig veraltete aus den Schaufenstern drängen und die erneuerten Stapel bei der Kasse füllen muß, damit Umsatzstatistik und Jahresbilanzen stimmen, hat so ein Werk keine Chance. Es bringt nämlich weder Unterhaltung noch Entspannung, lenkt nicht von den "Sorgen des Staats" ab. Vielmehr vermehrt es diese beträchtlich, indem es in all seiner Vielschichtigkeit und Komplizierthiet in wochenlanger Mühsal regelrecht erarbeitet werden muß. Es stellt den Leser, zumal den ohne profunde Kenntnisse des sächsischen Dialekts, vor außerordentliche Verständnisschwierigkeiten. Für diese Mühsal, die auf sich zu nehmen nur dringlichst empfohlen werden kann, liegen Entschädigungen der schönsten Form bereit. So etwa, wie ich es in den vorstehenden Abschnitten versucht habe, könnte man Lessings Projekt ins Gegenwärtige wenden und fortführen. An Beispielen und Anlässen besteht kein Mangel. Schon Karl Gotthelf Lessing, der Bruder, berichtet: "Einen ziemlichen Vorrath dazu hatte der letztere [Moses Mendelssohn] schon gesammelt; allein, es fand sich kein Verleger, weil man glaubte, (welche sonderbare Einbildung!) das gebe ein unendliches Werk." Wie viele Bücherleser wüßten nicht aus eigener Erfahrung reiches Material beizubringen und anschaulich auszubreiten, mit schräg-ironischem Blick ausgewählt und zum Zweck des Aneckens etwas verkantet hingestellt. LITFASS - von sonderbaren Einbildungen frei - hat sich vorgenommen, dergleichen einem geneigten Publico in Auszügen und beygefügten Meynungen inskünftig fortlaufend zu annoncieren. (1980)


© Ulrich Goerdten


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