Das Buch als BeuteEine fiktive Plaudereivon Ulrich Goerdten Goethe - um seiner auch hier zuerst zu gedenken - übersetzt in den "Maximen und Reflexionen": "Auch Bücher haben ihr Erlebtes." Vor dem "habent sua fata libelli" stehen allerdings im Urtext des Terentianus Maurus noch die Worte "pro captu lectoris", und gerade dieser zumeist unterdrückte Teil des beliebten Zitats erweist sich als besonders sinnträchtig, wenn mann die Goethesche Freiheit des Weglassens einmal umkehrt in einen Drang zur Wörtlichkeit, der das "captu" nicht nach der klassischen Tradition als geistiges Fassungsvermögen, sondern nach dem semantischen Grundgehalt des Verbums "capere" als Zupacken, Raub, Beute begreift. So manchem Buch wird nämlich ein oftmals ergreifendes Schicksal zuteil. Fast jeder kennt die milderen Formen der Jagdlust, die den Betrachter von Buchhandelsschaufenstern befallen können. Die aufreizend ausgebreiteten teuren Neuerscheinungen mit ihren knalligen Aufmacherbildchen, die steifgraue Unscheinbarkeit wissenschaftlicher Publikationen, die ärmlichen Schmuddelkinder in den Grabbelkisten, sie alle wecken eine unklare Lust aus Hingrabschen und Beschnuppern, mit der Folge, daß, sobald man das Buch in der Hand hat, darin geblättert und einen Halbsatz gelesen hat, ein weitläufiges Phantasiegebilde zusammenschießt, in dessen Mittelpunkt das liebe Selbst in edler Haltung der Leselust obliegend vom angenehmsten Licht umflossen erscheint. Wer dem Zugriff-Impuls dann nachgibt, sei es, daß er der bürgerlichen Ordnung gemäß (erwirb es, um es zu besitzen - um auch Goethe einmals das verkürzte Zitiertwerden angedeihen zu lassen), sei es, daß er krass kriminell sich des Buches bemächtigt, der kann es erleben, daß ihm das begehrte Stück daheim plötzlich seines Phantasieschmuckes entledigt gänzlich wertlos erscheint; es verschwindet ungelesen im Regal, steht nur noch so als Trophäe herum, wird höchstens von einem Besucher entdeckt, der von verwandtem Wahne befallen das Buch ausleiht und es nun selbst wieder ungelesen wegstellt, vergißt und nie zurückerstattet. Ein mehr oder minder großer Teil jeder Privatbibliothek wird aus solchen Phantomgebilden bestehen, die nicht für konkrete und aktuelle Lese- und Arbeitsbedürfnisse angeschafft wurden, sondern ihrem Besitzer "irgendwie" zu eigen geworden sind. Ein erfahrener Menschenkenner wäre gewiß imstande, aus der Menge, der äußeren Gestalt und der Titelstruktur dieser Bücher ein Psychogramm ihres Erwerbers abzuleiten. Eine Art Grunderkenntnis ergibt sich aber schon hier: Das magisch Verlockende an den Büchern, das die Besitzgier weckt, ist ihre äußere Materialität nicht allein, sondern vielmehr ein Inwendiges im Begehrenden selbst, das nur auf das Objekt projiziert wird; und die Behauptung erscheint mir nicht abwegig, daß die Fata der Bücher auch von der Seelenstruktur ihrer Erwerber und Besitzer bestimmt werden. Solche Gedanken, wie ich sie hier einleitend vortrage, sind Früchte diskussionsgesättigter Abende, bei denen gelegentlich die krasseste Form des Bucherwerbs, der Bücherraub, das thematische Zentrum bildet. Ein pflichteifriger Bibliothekar - wir wollen ihn zur Tarnung Egon Ludericht nennen - pflegt dann sein übervolles Herz vor uns auszuschütten, indem er eine aus seinem Berufsalltag geschöpfte, absurd klingende Binsenwahrheit formuliert: Je rigoroser ein Buch geschützt und der freien Benutzbarkeit entzogen wird, um so größer wird die Gefahr, daß es durch Diebstahl verloren geht. Da wir erstaunt dreinblicken, fährt er erläuternd fort: Mit einschränkenden Schutzmaßnahmen wird einer sinnvollen Grundgegebenheit zuwider gehandelt. Büchersammlungen erfüllen den Zweck ihres Daseins einzig dadurch, daß sie ihre Schätze so öffentlich wie möglich zugänglich machen. Tun die Bibliothekare das Gegenteil, begrenzen sie das Mögliche auf eine zu enge Wirklichkeit, legen sie (bildlich gesprochen) ihre Bücher an Ketten, so mißachten sie, mit wieviel Recht auch immer, das Zugänglichkeitsprinzip. Sie handeln in Hybris, wie die Frevler der antiken Mythologie, die subjektiv arglos und im Einklang mit ihrer Menschenordnung doch gegen göttliche Normen verstießen, den Grimm der Olympier herausforderten und drob mit gräßlichen Strafen belegt wurden, günstigstenfalls noch mit der Aussicht, an das Himmelsgewölbe versetzt zu werden, um künftigen Geschlechtern mahnend zu leuchten. Zu unserer Zeit sucht Nemesis die restriktiv handelnden Bibliotheken ungesäumt heim in der Gestalt von Fledderern und Fladerfetzern, die mit gewetzten Klingen Seiten und Lagen herausschneiden, ganze Bücher unter der Überkleidung verschwinden lassen, oder, wie jüngst geschehen, ein teures entliehenes Buch als verloren melden in der Erwartung, daß die Ersatzkosten für Kopie und Einband sich in mäßigen Grenzen halten werden. So erlitten denn heutigentags die Bücher ihre Fata unter dem Verhängnis einer Antinomie, die zwischen den Erfordernissen des Kulturgut-Schutzes und der allgemeinen und öffentlichen Zugänglichkeit waltet. Mal angenommen - pflegt er zu sagen -, es gäbe eine Art Gegenteil von nackter (und damit für den Betreffenden schämenswerter, weil vieles sonst sorgsam Verhüllte entblößender) Habgier, ein ins Hochgeistige veredeltes Begehren, daß einer etwas auch richtig haben will, was er zu stiller, in langgedehnten Zeiten oft erneuerter konzentrierter Versenkung benötigt, um sich einzuschwingen in einen fremden Gedankenkreis, der dem eigenen Sinnen und Trachten brüderlich verwandt erscheint, und angenommen, das unverzichtbar benötigte Geistesgut ließe sich auf überhaupt keine andere Weise beschaffen - dann, ja dann allenfalls wäre eine schwache Regung des mitleidigen Verständnisses mit dem Bücherdieb nicht durchaus gänzlich fehl am Platze. Dieser Typus des Aneigners scheint aber nur selten ergreifend tätig zu werden, und er ist es dann auch vermutlich, der nach Arbeitsabschluß, zur Entlastung seines nagenden Gewissens, das geraubte Gut auf verstohlenen Umwegen dem Besitzer wieder zukommen läßt. (Hier folgt dann die Anekdote vom Geistlichen, der unter Wahrung des Beichtgeheimnisses die Bücherbeute eines reuigen Schäfleins zurückerstattete.) Im Normalfalle aber - fährt er dann fort -, wo mit schamlosem Griff einem wohlgefügten Sammlungsorganismus Teilstücke entrissen, Wunden geschlagen werden, die selbst in Jahren bemühtesten Heilungswirkens kaum mehr vernarben, wo, kaltsinnig, geltende Gesetze und durch Stempel markierte Besitzverhältnisse mißachtet, wo, tückisch, in berechnendem Eigennutz die alte Regel des vorgehenden Gemeinnutzes gebrochen wird? Da - schreit er - hilft manchmal nur, in ohnmächtigem Ingrimm die leeren Fäuste gegen ein Fatum zu schütteln, das ungerührt Widriges über die Welt verstreut, das jeden Frevel geschehen läßt und nicht augenblicks die begangene Tat mit einem niederschmetternden Schlag sühnt, der den Unhold keilförmig durch den Nadelfilz in den Betonfußboden der Bibliothek eintreibt. Nein - sagt er düster -, eigentlich helfen könnten auch die geschütteltsten Fäuste nichts. Und das Wort Normalfall verrät schon was Weniges von der Resignation, deren auch der des feineren Gefühls noch Fähige, der im gleichförmigen Lauf der Jahrzehnte schon manches erduldet, sich nicht wird erwehren können. Hier wird er zumeist von einem stummen, nach innen verschluckten Schluchzen geschüttelt, das dem Fortgange seiner Rede ein Ende setzt. Dies nun ist der geeignete Moment, in dem unser dritter Diskutant - ein Psychologe der angelsächsichen Schule, den wir O`Redgent nennen wollen - in therapeutischer Absicht einige mäßigende Betrachtungen einflicht, die etwa so lauten: Deine Emotionen, lieber Egon, in allen Ehren, aber ein wenig zu heftig erscheinen sie mir doch. Sie legen beinahe die Vermutung nahe, Deine Verletzlichkeit in diesem Punkte habe eine tiefere Ursache. Laß uns doch einmal ganz leidenschaftslos die Motive des Bücherraubs ergründen. Da hörten wir etwas vom Walten des Schicksals. Nun, ich will gestehen, daß mich die Statistiken, die Du zuweilen anzuführen liebst, mehr interessiesren. Sie sagen zum Beispiel deutlich, daß allgemein in den Bibliotheken überwiegend die Juristen als Faustrechtler der Bücherbeschaffung in Erscheinung treten. Dieser merkwürdige Umstand ist doch wohl nur aus einer psychischen Disposition zu erklären, die offensichtlich davon herzuleiten ist, daß in diesem Studiengang weniger ein starres Normendenken als vielmehr eine gewisse Flexibilität im Umgang mit der Dialektik grundlegender Rechtsbegriffe eingeübt wird. Die übrigen Fächer halten sich, wie Du sagst, ohne feste Rangfolge in einigem Abstand. Mal sind es die emsigen Philologen - hier ruht sein Blick strenge auf mir -, mal die Mediziner, ja selbst die Theologen, die den zweiten Platz behaupten. Die Psychologen (ich darf das mit einem kleinen Gefühl freudigen Stolzes sagen) wirst Du in Deiner Statistik vergeblich suchen, und die zeitweilig hohen Verluste an Sigmund-Freud-Ausgaben magst Du getrost den Sozialpsychologen, Psycholinguisten, Literaturpsychologen und ähnlich bucklig angeheirateter Verwandtschaft anlasten. Die Kenntnisse der Psychologen von den tieferen Motivationen des Bücherwahns dürften bremsend auf ihren Zugriffsantrieb wirken. Otto Rank etwa hat in Fortsetzung von Freuds grundlegendem Aufsatz "Charakter und Analerotik" bemerkt, daß die Sammelwut nicht selten Gegenstände von unzweifelhaft sexualsymbolischer Bedeutung betrifft, was als Gegenstück zur Kleptomanie, die sich ja häufig bei leidenschaftlichen Sammlern findet, Hervorhebung verdient. Du ahnst, lieber Egon, aus welchen Abgründen der Menschenseele die Triebkraft herstammt, die den süchtigen Büchernarren antreibt. Ein Triebtäter wie jener am 6.5.82 im Tagesspiegel erwähnte Mann, der aus westdeutschen Bibliotheken alte und seltene Bücher im Werte von 1,5 Millionen Mark gestohlen haben soll, ist ja kein Einzelfall und gegen die Monstrositäten, von denen die Historie zu berichten weiß, nur vom mittleren Kaliber eines Halbweltergewichts. Da alle schweigen, hebe ich ungesäumt an zu berichten vom Magister Tinius, der am Anfang des vorigen Jahrhunderts aus unstillbarer Büchersucht zum Mörder wurde; von Arno Schmidts Kurzroman Das steinerne Herz, in dem - mit Bezug auf Tinius - minuziös beschrieben wird, wie ein manisch-süchtiger Sammler direkt unter den Augen des Bibliothekspersonals ein statistisches Handbuch des Königreichs Hannover aus der Ost-Berliner Staatsbibliothek entwendet. Von Jamnitzki, Heber, Boulard und ihren Narrheiten berichte ich; wenns wohlgerät, zitiere ich sogar den alten Zedler von 1750: die Bücher-Sucht sey ebensowohl eine Kranckheit, als die Wassersucht; mit besonderer Weitschweifigkeit aber verweile ich beim Fall Auguste Harmand, der als Bibliotheksdirektor in Troyes seine eigene Bibliothek über dreißig Jahre hinweg skrupellos bestohlen hat, wofür er, als es herausgekommen war, mit vier Jahren Gefängnis büßte. Darauf skandiert, kaum daß ich geendigt, O`Redgent mit Nachdruck sein quod erat demonstrandum! und fährt fort, von sexualsymbolischen Reizungen zu berichten, die von der Haut, vom Bezugsstoff des Bucheinbandes auf Empfängliche auszustrahlen vermögen, von jungfräulich ungelesenen Erstausgaben, von Büchern, die um berühmter Vorbesitzer willen begehrt werden und schließlich vom Slang-Ausdruck blättern, der eine beliebte horizontale Tätigkeit umschreibt. Ja, Egon selbst erinnert sich plötzlich, daß Bücher mit Frauen zu vergleichen ein uraltes Bibliophilen-Thema sei: einige seien für alle da, die köstlichsten aber erschlössen sich nur wenigen... Und ganz wie von ungefähr lenkt nun O`REDGENT rhetorisch geschickt auf Otto Rank zurück, der den Fall eines Knaben schildert, der sich aus Sammelwut des Pinseldiebstahls schuldig machte, später aber hat sich diese Sammellust in ihrer Maßlosigkeit und Intensität bedeutend eingeschränkt, aber nicht gänzlich verloren, da sie aus der Sparsamkeits- und Ordnungskomponente der verwandelten Analerotik beständig gespeist blieb; er hat aber späterhin mehr nützliche Dinge zum Gegenstand seines sozial eingeordneten Sammelinteresses gemacht (Bibliophilie). So wüchsen denn, schaltet sich nun der Vierte im Bunde ein - ein kulturkritischer Witzbold, er möge Doegtner heißen - so wüchsen denn doch die normale Liebe zu den Büchern wie auch die krankhafte Bücherbesitzsucht auf einem Holze. Wer erinnerte sich da nicht der hin und wieder in den Zeitungen zu findenden Geschichte von einem Feuerwehrmann, der selbst Brände legte, um seine harnerotische Löschlust zu befriedigen? Bei ihm wäre die Sublimierung des kruden Triebes ins Edle und gesellschaftlich Nützliche beinahe gelungen. An Deiner Integrität, lieber Egon, ist uns natürlich nicht auch nur der Hauch eines Zweifels erlaubt. Aber bedenke, aus unseres O`Redgents Einsichten könnte auch ein mitleidiges Verständnis mit dem erwähnten Bücherdieb erwachsen, dem vielleicht eher als mit drakonischen Gefängnisstrafen mit einer entwicklungskorrigierenden Psychotherapie zu helfen wäre, in der die krass gesellschaftsschädigende Sucht eine Veredelung ins sozial Nützliche erführe, die ihn befähigen könnte, in einer Institution mit ausgeprägten Sammel-Aktivitäten (Bibliothek, Archiv) seine berufliche Zufriedenheit zu finden und Außerordentliches zu leisten. Ja, man könnte sich unter diesem Aspekt sogar zu dem Gedanken versteigen, daß Bibliothekar (oder Bibliothekarin) nur der (oder die) werden sollte, der/die mindestens einmal in seinem/ihrem Vorleben ein Buch gestohlen und damit den Beweis für die in diesem Berufe hilfreiche Triebstruktur erbracht hat. Das hieße allerdings, schon heute Wirklichkeit werden zu lassen, was einzig in einer aufgeklärten, humanen, befreiten Gesellschaft denkbar wäre. In der freilich (-pflege ich dann bedeutsam zu schließen-) stünde ohnehin jedem alles nach seinen realen Bedürfnissen zur Verfügung, und Bücherdiebstahl würde als eine Erscheinung finsterer, archaischer Zeiten nur mitleidig kopfschüttelnd noch belächelt. © Ulrich Goerdten [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |