Pater Delaura


von Gabriel Garcia Marquez

Außer der Nonne, die jeweils das Essen aufzutragen hatte, war Cayetano Delaura der einzige, der während der Mahlzeiten Zugang zu den Räumen des Bischofs hatte, und das nicht, wie es hieß, wegen seiner persönlichen Vorrechte, sondern wegen seiner Aufgabe als Vorleser. Er hatte kein bestimmtes Amt inne und keinen anderen Titel als den eines Bibliothekars, wurde aber wegen seiner Nähe zum Bischof faktisch wie ein Vikar behandelt, und niemand konnte sich vorstellen, daß der Bischof irgendeine wichtige Entscheidung ohne ihn traf. Delaura hatte seine eigene Zelle in einem angrenzenden Haus, das von innen mit dem Palast verbunden war und in dem die Schreibstuben und die Zimmer der Amtsträger der Diözese sowie des halben Dutzends Nonnen lagen, die den Haushalt des Bischofs führten. Cayetano Delaura wahres Zuhause war jedoch die Bibliothek, wo er bis zu vierzehn Stunden täglich arbeitete und las und wo er ein Feldbett aufgeschlagen hatte, auf dem er schlafen konnte, wenn ihn die Müdigkeit überkam.


Delaura war gebannt von der Menge Bücher, die sich im Raum häuften. Abrenuncio bemerkte es und führte ihn zur Hausapotheke, wo noch viel mehr Bücher in Regalen bis zur Decke standen. "Heiliger Geist!" rief Delaura aus. "das ist die Bibliothek von Petrarca." "Um etwa zweihundert Bände umfangreicher", sagte Abrenuncio. Er ließ ihn nach Lust herumstöbern. Es gab Unika, die in Spanien das Gefängnis kosten konnten. Delaura erkannte sie, blätterte verzückt darin und stellte sie mit wehem Herzen in die Regale zurück. An bevorzugtem Platz, neben dem ewigen 'Fray Gerundio', fand er den gesamten Voltaire auf französisch und eine lateinische Übersetzung der 'Philosophischen Briefe'. "Voltaire auf lateinisch, das ist fast eine Ketzerei", sagte er scherzend. Abrenuncio erzählte ihm, die Übersetzung sei von einem Mönch aus Coimbra, der sich den Luxus leistete, zur Freude der Pilger seltene Bücher herzustellen. (...)

Delaura sprach mit ihm, ohne die Durchsicht der Bibliothek zu unterbrechen. Plötzlich, wie es ihm häufig geschah, erinnerte er sich an jenes Buch, das der Rektor bei dem Zwölfjährigen konfisziert hatte und von dem er nur eine Episode behalten hatte, die er sein Leben lang jedwedem, der ihm bei der Suche hätte helfen können, wiederholte. "Erinnern Sie sich an den Titel?" fragte Abrenuncio. "Ich habe ihn nie gewußt", sagte Delaura. "Und ich gäbe alles und jedes, um das Ende zu kennen." Ohne Ankündigung legte der Arzt ihm ein Buch vor, das Delaura auf den ersten Blick erkannte. Es war eine alte sevillanische Ausgabe von den vier 'Büchern des Amadis von Gallien'. Delaura sah sie sich genau an, er zitterte und wußte, daß er kurz davor war, unrettbar verloren zu sein. Schließlich traute er sich: "Wissen Sie, daß dies Buch verboten ist?" "So wie die besten Romane dieser Jahrhunderte", sagte Abrenuncio. "Und statt dessen werden nur noch Traktate für gelehrte Männer gedruckt. Was sollten denn die Armen von heute lesen, wenn sie nicht heimlich die Ritterromane läsen?"

"Es gibt auch andere", sagte Delaura. "Hundert Exemplare von der Erstausgabe des 'Quijote' wurden hier im Erscheinungsjahr gelesen." "Nicht gelesen", sagte Abrenuncio. "Sie sind auf dem Weg in die verschiedenen Reiche durch den Zoll gegangen." Delaura achtete nicht auf ihn, hatte er doch das kostbare Exemplar des 'Amadis von Gallien" wiedererkannt. "Dieses Buch ist vor neun Jahren aus der Geheimabteilung unserer Bibliothek verschwunden, und wir haben nie eine Spur davon gefunden", sagte er. "Das hätte ich mir denken können", sagte Abrenuncio. "Aber es gibt andere Gründe, dieses Buch für ein historisches Exemplar zu halten: Über ein Jahr ist es zwischen mindestens elf Personen von Hand zu Hand gegangen, und mindestens drei davon sind gestorben. Als Opfer einer unbekannten Ausdünstung, da bin ich sicher." "Es wäre meine Pflicht, Sie beim Heiligen Offizium anzuzeigen, sagte Delaura. Abrenuncio nahm es als Scherz auf: "Habe ich etwas Ketzerisches gesagt?" "Ich sage es, weil Sie hier ein verbotenes Buch haben, das Ihnen nicht gehört und das Sie nicht gemeldet haben." "Ich habe dieses und viele andere", sagte Abrenuncio und deutete mit einem weiten Kreis des Zeigefingers auf seine überladenen Regale. "Aber wenn es darum ginge, wären Sie schon vor langem gekommen, und ich hätte Ihnen nicht die Tür geöffnet."


Gabriel Garcia Marquez: Von Liebe und anderen Dämonen, München: dtv, 1997. S. 114 und 175f.


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