Die leidige Kanonfrage


Literatur findet ihre Leser

Kanon ist Bildung durch Weglassen. Doch wer entscheidet, was entbehrlich ist? In der Theorie die Kanon-Verfasser, in der Praxis jedoch jeder Einzelne. Die Vorstellung, dass jeder alles gelesen haben muss, was angeblich zur Allgemeinbildung gehört, ist nicht nur ein sonderbarer Irrtum, sondern auch eine ziemlich verlogene Taktik. Bei den heutigen Kanon-Debatten geht es nämlich nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner und das ist bei Reich-Ranicki die größtmögliche Verkäuflichkeit. Die alten Knochen, die er uns in seinen Kassetten hinwirft, täuschen darüber hinweg, dass die Literatur längst woanders angekommen ist und dass jede Kanondiskussion am Publikum vorbei geht. Das haben wir sehr gut bei der ZDF-Aktion "Das große Lesen" sehen können: Platz 3 "Die Säulen der Erde" von Ken Follet, ein 1000-Seiten-Bildungsprogramm über die Kunst der Kathedralen, ebenso kenntnisreich wie spannend geschrieben und längst ein Klassiker; Platz 2 die Bibel und Platz 1 ihr Gegenstück: Tolkiens "Herr der Ringe". Wer will da noch behaupten, dass bei uns anspruchsvolle Literatur keine Chance hat? Goethes "Faust" landete auf Platz 15, noch viel zu gut, aber wenigstens vier Plätze hinter Cornelia Funkes "Tintenherz" – auch dies ein großer Roman, der sich sein Publikum erobert hat ohne die gekauften Stimmen der Literaturkritiker. In diesen vom Publikum gewählten Büchern werden Welten entworfen, Ideen diskutiert und Schicksale verfolgt, die mit unserer heutigen Lebensrealität scheinbar überhaupt nichts zu tun haben – aber sie fesseln durch die Magie der Imagination und der Sprache. Und genau das erhebt sie über jeden professoral verordneten Kanon. Die Literatur sucht sich ihre Leser selbst, und sie findet sie.


In der Kürze liegt die Würze

Wenn wir also die Klassiker der Literatur vor dem Verstummen bewahren wollen, müssen wir ihnen die Gelegenheit geben, zu einem breiten Publikum sprechen zu können. In der Musik machen wir das schon lange: Niemand verlangt von uns, dass wir uns eine ganze Oper anhören, wenn wir nur ihre großen Arien oder Duette genießen möchten. Selbstverständlich gibt es die Gesamtaufnahmen, aber daneben werden auch mit großem Erfolg die CDs mit den sogenannten Highlights verkauft. Es muss also in Zukunft auch gekürzte - ich meine gekürzte und nicht a la Readers Digest bearbeitete Textausgaben der großen Romane geben, herausgegeben von kompetenten Fachleuten, die einen umfangreichen Text auf seine wichtigsten Kapitel beschränken und mit Überleitungen versehen. Ja, ich weiß: Das klingt schmerzhaft in einem Land, in dem man "gute" Bücher grundsätzlich zu Ende lesen soll, auch wenn sie einen tödlich langweilen (...) So heuchelt man sich durch den Kanon durch und hat irgendwie doch ein schlechtes Gewissen. Ich sage Ihnen ganz wertfrei: Es wird Tolstois "Krieg und Frieden" in einem Band von 300 Seiten geben, oder der Roman wird ausgelöscht im kulturellen Gedächtnis, vergessen wie Musils "Mann ohne Eigenschaften", Gutzkows "Ritter vom Geist", Jean Pauls "Titan", Goethes "Wilhelm Meister".


Qualifizierte Lesefähigkeit

Vor vierzig Jahren wurde vor dem Medium Fernsehen gewarnt, weil es angeblich das Lesen verdrängt. Seit der Erfindung der Eisenbahn ging für die deutschen Volkspädagogen mit jeder neuen Technik die Welt unter, allerdings nur ihre eigene. Die schlichte Wahrheit ist: Die Nutzungszeiten sind parallel zur Verkürzung der Arbeitszeit für alle Medien gleichmäßig gestiegen. Auch das Internet bedeutet selbstverständlich nicht den prophezeiten Kollaps der Gutenberg-Galaxie. Im Gegenteil kann das Netz ja nur dann optimal genutzt werden, wenn der Anwender über eine qualifizierte Lesefähigkeit verfügt, d. h. wenn er die angebotenen Informationen sinnvoll ordnen und bewerten kann. Lesen und Rechnen muss man schon können, sonst kommt man bei Ebay zu gar nichts.


Mühsame Bücher meiden?

"Heute ist Lesen in den Hintergrund eher gruppenorientierter Freizeitangebote getreten. Lesen hat sich verändert zu einer zielgerichteten Beschäftigung; niemand liest mehr, weil er "belesen" sein möchte, sondern um informiert zu sein oder um unterhalten zu werden. Wer sich aber von einem Buch eine Stunde lang täglich unterhalten lassen möchte, wird kaum zu Musils "Mann ohne Eigenschaften" greifen: Er kann sich nämlich ausrechnen, wie lange er für diese fast 2000 Seiten brauchen würde. Jede mühsame Seite von James Joyce oder Thomas Mann macht uns heute dümmer, weil ihre langsame Lektüre uns von vielen anderen klugen Büchern abhält. Man sollte keine Bücher lesen, die man nicht versteht – nur, weil sie in irgendeinem Kanon auftauchen. und man sollte auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn man ein Buch, das einem nichts sagt, nach 50 Seiten einfach weglegt – Bücher unbedingt zu Ende lesen zu müssen ist eine deutsche Krankheit, die es in anderen Ländern nie gegeben hat. In seinem Essay "über die Bücher" schrieb der große Montaigne: "Wenn ich beim Lesen auf Schwierigkeiten stoße, beiße ich mir an ihnen nicht die Zähne aus... Was ich nicht beim erstenmal durchschaue, das durchschaue ich auch nicht, wenn ich mir mehr Mühe gebe. Bin ich des einen Buches überdrüssig, dann nehme ich ein anderes zur Hand."


Altbekannte Klage

Damals schon nörgelte der Autor Friedrich Schlögl: "Wozu und weshalb plagen wir uns denn überhaupt mit dieser schwierigen und eigentlich unlösbaren Bücherfrage? Wenn das leidige Zeitungswesen so fortmacht, in seinem ungezügelten Wachstum, in seiner kolossalen Ausdehnung, in seiner unabsehbaren Verbreitung und in seiner vermeintlichen Unentbehrlichkeit, dann hat die lesende Menschheit bald ohnehin keine Zeit und keine Muße mehr für die Bücher."


Werner Fuld: Musil: Ja! Bill Gates: Nein! Warum uns der Bildungskanon nicht weiterhilft



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