Der unbelesene Bücherfreund


von Max Frisch

Ich stand mit einem Bekannten vor seinem Büchergestell. Wenn er einen Band ergriff, geschah es mit scheuer Hand, und nicht immer öffnete er das Erlangte; denn er schien äußerst sparsam, weil es wie mit Küssen ist: Wir müssen sie hüten, damit sie nicht unselten werden, nicht in Gewöhnung ersterben, alles Erleben verlangt ja viel Haltung, viel Geduld und Verzicht, viel Strenge. Ein solches Buch zum Beispiel, das man bei jeder Laune oder Langeweile aufblättert, im Gtunde gleichgültig und nicht mit jener Wunschstärke, die uns eine mühselige Pilgerfahrt ertragen ließe, ein solch entweihtes Buch wird sich in mitternächtlichen Stunden rächen, wenn wir es ergreifen wollen als letzten Halt in dieser Welt und es nicht mehr notwendend sein will. Er meinte:

"Merkwürdig, finde ich diese landläufige Sitte, bzw. Unsitte, daß ein anständiger Mensch in seiner Jugend soviel an Werken liest, an Kenntnis zusammenrafft, als es nur machnbar ist, sehen Sie, mit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren hat doch der Gebildete schon alle Spitzenwerke abendländischer Kunst beschnuppert. Oder nicht? Denn man erträgt es nicht, hanze Bereiche noch unberührt zu lassen, ganze Welten unbekannt neben sich zu dulden; man möchte drum nicht viel, sondern alles wissen. Wir ertragen nicht das Unerschöpfliche! Warum quält es mich, wenn ich vor meiner Bücherei stehe, lesefähig und doch unentschlossen, ob ich endlich mit der Göttlichen Komödie oder mit dem Zarathustra anfangen soll, oder wenn ich dann, plötzlich gelähmt, letztlich überhaupt nicht zum Lesen komme? Wir sind immer gierig, und das Grauen vor dem Unerschöpflichen, Unabsehbaren wollen sie wegtäuschen, indem sie eine Scheinvollkommenheit ihrer Kenntnis erstreben, die der Welt das Unheimliche nähme, das Grenzenlose und Unabsehbare -."

Und ans Fenster gelehnt, ein weltberühmtes und noch nicht gelesenes Buch in der Hand, lächelt er: "Ich könnte mir folgende Geschichte denken: Im Urwald lebte einmal eine Sippe, und der Horizont der nächsten Berge war ihnen Rand der Welt. Da sie aber Kunde bekamen von anderen Sippen jenseits dieser Berge, erfaßte einen Jüngling die menschliche Neugier und er zog aus! Nach wenigen Wochen erlangte er das nahe Jenseits, das keines war, und verzweifelnd weiterwandernd, immer über nächste und wieder nächste Gebirge, weitete er den Umkreis der gekannten Welt; dann kam er an ein Meer, ach, das war der Rand der Welt, der große Trost, daß der Mensch mit seinem Dasein ausreichte, um die Welt zu durchmessen. Das war selig, denke ich mir, doch war es eine Täuschung, denn jenseits des Meeres erfuhr er von neuen Ländern, von anderen Meeren, und immer wilder wurde seine Angst, daß es unumspannbar wäre, immer gieriger sein Wissensdrang. Gern wäre er zurückgekehrt und niemals ausgezogen, doch da er einmal angefangen hatte, ging er immer weiter, und vielleicht begriff er, daß es der Sündenfall gewesen ist, daß er durch sein gieriges Greifen nach einem Verbotenen aus dem Paradies gefallen war; jedenfalls dünkte er sich ausgestoßen, gnadlos gejagt von seiner eigenen Neugier, bis die Welt schließlich über alles hinausgewachsen war, was ein Mensch erwandern und ersegeln könnte in seinem Dasein. Und dann wurde seine Reise ans Ende der Welt gedanklich vorgesetzt. So erkannte er eines schönen Abends, daß die Erde eine Kugel war, ach, wieder war es geschlossen und begrenzt, wieder diese seelische Täuschung, da wir nicht im Unabsehbaren und Uferlosen irren. Denn solche Begrenzung, endlich und faßbar, sucht und braucht der Mensch, wie die vier Wände seines Hauses, damit er die Weltnacht nicht sähe und nicht wahnsinnig würde vor Angst. Aber dann wurde auch diese Kugel, die so lange tröstlicher Mittelpunkt war, durch unsern Wissendrang ins Grenzenlose geworfen, ins All, ins Ungemütliche, und rasend vergrößern sich alle Pläne, irrsinnig überbot nun eins das andere, schwindelnd stürzen alle Perspektiven -"

Er hielt inne, dann lächelnd: "Da müßte man sich doch fragen. Warum wird der Mensch nicht verrückt, wenn er das einsieht? Ich begreife die Leute, die nunmehr Raumschiffe brauen wollen, wenn es sind nur Urenkel kenes unglücklichen Jünglings, der übers Gebirge stieg und den Rand der Welt suchte. Sagen Sie mir: Warum ging nicht diese ganze Menschheit, durch Kopernikus obdachlos geworden, in die Wälder hinaus, sich aufzuknüpfen"? Er anwortete sich dann selber: "Ich könnte mir nur einen Grund denken, warum meine Geschichte vom neugierigen und besessenen Jüngling nicht wirklich ist: weil ihm zugleich eine Bescheidung kam, ein wissender Verzicht, eine rettende Einsicht, daß Sternenwelten schon im Atom enthalten sind, sehen Sie, daß alles doch in allem ist. Ich meine: Wenn man in einem fremden Lande sitzt, sehr einsam, sehr ausgestoßen, wie heimatlich und tröstlich ist es dann zu sehen, daß das Wasser auch hier und überall ganz gleichermaßen über Steine springt und rauscht: In dieser Bewegung eines Baches, oder was es immer sei, ist vielleicht unsere einzige Heimat, und ist es drum nicht ziemlich unwichtig, in welchen Vaterlande wir sie kennenlernten? Und weil wir dies erfahren, brauchen wir nicht zeitlebens umherzureisen, um unsere Erde kennenzulernen -"

Hier machte er eine Lieblingsabschweifung und dann seine Geschichte beschließend: "In einer einzigen Pflanze ist die Welt enthalten und erahnbar, wir müssen nicht gierig sein, wenn wir das erkennen, nicht alles abrupfen, was wir nur erkennen können: Und so meine ich es mit den Büchern: Man sollte auch diese Unerschöpflichkeit, die sich darin spiegelt, einsehen und ertragen zu lernen, von Anfang wissend, daß wir in Wahrheit nie zum Ende kommen und uns vor dem Unheimlichen bescheiden müssen. Wir sind so klein, wir reichen nicht weit und dürfen uns nicht zerstreuen. Aber nehmen Sie einmal einen griechischen Marmorsplitter, den ihre Hand noch fassen kann, haben Sie Geduld mit ihm und seien Sie unersättlich in dieser Geduld: Dann brauchen Sie den ganzen Tempel nicht; um seine Herrlichkeit und Wollendung zu erleben und zu glauben, sehen Sie, Vollendung ist noch im Bruchstück eines Kapitells, und der Geist des Ganzen lebt in jedem Splitter. So müssen wir, glaube ich, verweilen über den tragbaren Splittern einer unabsehbaren Welt -" Soweit sein leidenschaftliches Plädoyer! Nun, meine Leser seien seine Geschworenen.


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