Ein sicheres Refugium


von Dieter Forte

Dem Jungen fiel das Atmen schwer. Ein Zustand, der Tag und Nacht anhielt. Er lag in einer Ecke des Kellers und las, lag in einer engen Bücherhöhle, las alle die Bücher, die die Familie für ihn gesammelt hatte, aus zerstörten Häusern und Kellern und von der Straße, auf die sie durch den Luftdruck der Bomben geflogen waren, vom Feuer versengt, vom Wasser aufgequollen, mit abgerissenem Einband. Von Tom Sawyers Abenteuer nur der Anfang, Candide ohne Ende, Robinson Crusoe mit herausgerissenem Mittelteil, Schweijk in losen Blättern, Tote Seelen auf jeder Seite mit Tinte beschmiert, Bücher mit Widmungen, die sich für den Jungen mit dem Buch verbanden, Widmungen von Menschen, die vielleicht nur noch in ihren Widmungen lebten. Der lieben Sarah zu Pessach von Moischele, München 1901. Zum 50. Geburtstag von Gretchen, Köln 1920. Zur Erinnerung an die schönen Tage in Berchtesgaden, Walter, Juni 1938. Auch mit Widmungen, die den Besitz anzeigten, als könne man Bücher auf ewig besitzen: Dieses Büchlein ist mir lieb, wer mir's stiehlt, der ist ein Dieb. Kurt bin ich getauft, dies Buch hab ich gekauft. Brink bin ich geboren, wer's find, ich hab's verloren. Lederstrumpf hatte auf dem Titelblatt eine Anschrift aus Berlin mit Datum 27.II.06 und dem Aufkleber des Ladens, in dem das Buch gekauft worden war, L. Juergens, Papierhandlung, Alexander-Platz. Der Lederstrumpf lag nach einem Luftangriff auf der Straße, und der Junge schrieb an den ehemaligen Besitzer, daß das Buch nun bei ihm sei, erhielt aber nie eine Antwort.

So verband sich der Lederstrumpf für ihn mit dem Alexander-Platz und einem Menschen in Berlin, und der Junge überlegte, ob der Inhaber das Buch selbst gekauft hat, oder ob einer das Buch gekauft hat, um es ihm zu schenken. Wie sich überhaupt die Schicksale der Menschen, die sich in den Büchern verewigt hatten, mit den Geschichten in den Büchern verbanden, der Inhalt seiner Bücher, die er auswendig kannte, mit den Geschichten der ehemaligen Besitzer, die er dazuerfand, so daß sein Lederstrumpf über den Alexander-Platz spazierte. Schlug er ein Buch auf, blieb die Zeit stehen, so wie man den Arm des Plattenspielers immer wieder auf Anfang stellen konnte, immer wieder Louis Armstrong hören konnte, immer wieder die Bilder Paul Klees in dem halbverbrannten aufgequollenen Bildband betrachten konnte, Bilder, in denen keine Zeit war, nur der Augenblick, so schlug er seine Bücher auf, die er immer wieder von vorne las, für die meisten um ihn herum unbekanntes Land, das sie nicht betreten mochten, für ihn ein sicheres Refugium, dessen Tore ihm immer offenstanden, das er unbehelligt von der Last der ihn umgebenden Realität und befreit von der Last seines Körpers jederzeit betreten konnte, herzlich begrüßt von Personen, die ihn kannten, wie er sie kannte. An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hageren Gaul und einen Windhund zum Jagen haben. In Westfalen, auf dem Schloß des Barons von Thunderdenktronckh lebte vor Zeiten ein Jüngling, ein ausnehmend sanfter und gutherziger Mensch, von der Natur liebevoll mit einem Gesicht bedacht, dem man schon von weitem sein gutes Herz ansah. Es war ein bitterkalter scharfer Dezembertag des Jahres 1793, die Sonne im Untergehen, da bewegte sich langsam ein Schlitten den gewundenen Weg hinauf, der zur Hochfläche eines jener Berge führt, die in dem Quellgebiet des Susquehannah sich nebeneinander, aneinander drängen. So war er aufgehoben in einem Raum fern der Welt, in dem die Dinge verschwanden, in einer endlosen Dauer, unerzählbare ewige Erinnerung.


Ausschnitt aus © Dieter Forte: Der Junge mit den blutigen Schuhen, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1995


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