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Die Kunst des Bücherliebens
von Umberto Eco
Befragung eines Buches
Wenn wir jedoch ein Buch vor uns haben, suchen wir nach
einer Person, einer individuellen Sicht der Dinge. Wir
versuchen es nicht bloß zu entziffern, sondern suchen
auch einen Gedanken zu interpretieren, eine Absicht.
Und wenn man nach einer Absicht sucht, befragt man
einen Text, von dem es auch mehrere Lesarten geben
kann. Die Lesart wird zu einem Dialog, aber zu einem -
und dies ist das Paradox des Buches - mit jemandem, der
nicht anwesend ist, der vielleicht schon seit
Jahrhunderten tot und nur als Schrift präsent ist. Es
gibt eine Befragung der Bücher, die man Hermeneutik
nennt, und wo es Hermeneutik gibt, da gibt es auch
einen Kult des Buches. Die drei großen monotheistischen
Religionen, das Judentum, das Christentum und der
Islam, entwickeln sich als permanente Befragung eines
heiligen Buches. Das Buch wird in solchem Maß zum
Symbol der Wahrheit, die es hütet und nur demjenigen
offenbart, der es zu befragen weiß, daß man, um eine
Diskussion zu beenden, eine These zu bekräftigen oder
einen Gegner zu vernichten, einfach sagt: "Es steht
hier geschrieben!" Wir haben immer Zweifel an unserem
animalischen Gedächtnis ("mir scheint, ich erinnere
mich, aber ich bin mir nicht sicher..."), doch auf das
pflanzliche Gedächtnis pochen wir gern und benutzen es,
um alle Zweifel auszuräumen: "Wasser ist wirklich H2O,
Napoleon ist tatsächlich auf Sankt Helena gestorben, so
steht es im Lexikon!" (S. 14)
Lesen & Physiologie
Es ist einige tausend Jahre her, daß die Menschheit
sich an das Lesen gewöhnt hat. Das Auge liest, und der
ganze Körper macht mit. Lesen heißt auch, eine richtige
Position zu finden, es bezieht den Hals, die
Wirbelsäule, die Gesäßmuskeln mit ein. Und die Form des
Buches, die jahrhundertelang studiert und ergonomisch
verbessert wurde, ist die Form, die dieser Gegenstand
haben muß, um in die Hand genommen und in der richtigen
Entfernung vom Auge gehalten zu werden. Lesen
hat auch mit unserer Physiologie zu tun. (Umberto
Eco: Die Kunst des Bücherliebens, S. 28)
Leser : Analphabet = 1 : 0
Wir machen es uns nicht bewußt, aber unser Reichtum
gegenüber dem Analphabeten (oder dem, der zwar lesen
gelernt hat, aber nicht liest) besteht darin, daß er
nur sein eigenes Leben lebt und leben wird, während wir
sehr viele Leben gelebt haben werden. Der große
Verleger Valentino Bompiani erfand einmal den
Werbespruch: "Ein Mensch, der liest, gilt für zwei."
Tatsächlich gilt er für tausend. Durch das pflanzliche
Gedächtnis der Bücher können wir uns zugleich mit
unseren eigenen Kinderspielen auch die von Proust in
Erinnerung rufen, zugleich mit unseren eigenen
Adoleszenzträumen auch die von Jim Hawkins auf der
Suche nach der Schatzinsel, und außer aus unseren
eignen Fehlern können wir auch Lehren aus den Fehlern
von Pinocchio oder von Hannibal bei Capua ziehen; wir
haben nicht nur schmachtend unsere eigenen
Liebesgeschichten durchlebt, sondern auch die der
Angelica bei Ariost - oder, wenn wir bescheidener sein
wollen, die der Angelique bei Anne Golon; wir haben
etwas von der Weisheit Solons assimliert, es hat uns
wegen gewisser windiger Nächte auf Sankt Helena
geschaudert, und wir wiederholen zusammen mit den
Märchen, die uns Großmutter erzählt hat, auch jene, die
Scheherazade erzählt hat. Auf manche (zum Beispiel auf
Nietzsche) hat dies alles den Eindruck gemacht, als
seien wir, kaum geboren, schon unerträglich gealtert.
Aber noch altersschwächer ist der Analphabet (der
primäre oder sekundäre), der seit Kindheit an
Verkalkung leidet und sich nicht erinnert (weil er
nicht liest), was an den Iden des März geschehen ist.
Natürlich können die Bücher uns auch dazu bringen, an
viele Lügen zu glauben, aber sie haben immerhin die
Tugend, sich untereinander zu widersprechen, und sie
lehren uns, die Informationen, die sie uns geben,
kritisch zu bewerten. Lesen hilft auch, den Büchern
nicht zu glauben. Der Analphabet, der nicht weiß, wo
die anderen im Unrecht sind, kennt auch seine eigenen
Rechte nicht. (S. 14)
Wertschätzung
Der Bibliomane stiehlt Bücher. Auch der Bibliophile
könnte das tun, wenn ihn die Armut dazu treibt, aber
gewöhnlich ist er der Ansicht, daß man, wenn man für
den Besitz eines Buches kein Opfer gebracht hat, an
seinem Erwerb keine Freude hat (der Unterschied ist ein
bißchen wie der, eine Frau zu erobern, weil man sie
bezaubert hat oder weil man sie vergewaltigt hat). Im
übrigen wird von einem großen Antiquar berichtet, der
gesagt haben soll: "Wenn du es nicht schaffst, ein Buch
zu verkaufen, dann verdopple seinen Preis im nächsten
Katalog." (Umberto Eco: Die Kunst des Bücherliebens, S.
32)
Die Schwierigeit einer Wahl
Manche behaupten, heutzutage werde weniger gelesen, die
Jüngeren läsen überhaupt nicht mehr und wir seien, wie
ein amerikanischer Kritiker einmal gesagt hat, ins
Zeitalter des 'Decline of Literacy' eingetreten. Ich
weiß nicht, sicher wird heutzutage viel Zeit vor dem
Fernseher verbracht, und es gibt Risikofreaks, die
nichts anderes tun als Fernsehen gucken, so wie es
Risikofreaks gibt, denen es Spaß macht, sich tödliche
Substanzen in die Venen zu spritzen; wahr ist aber
auch, daß noch nie soviel gedruckt worden ist wie in
unserer Epoche und daß noch nie zuvor so viele
Großbuchhandlungen florierten, die wie Diskotheken
anmuten, voll von Jugendlichen, die vielleicht nicht
viel kaufen, aber stundenlang blättern, betrachten,
sich informieren. Das Problem ist eher, auch für die
Bücher, der Überfluß, die Schwierigkeit einer Wahl, die
Gefahr, nicht mehr unterscheiden zu können. Das ist
kein Wunder, die Verbreitung des pflanzlichen
Gedächtnisses hat alle Defekte der Demokratie, einer
Herrschaftsform, in der man, damit alle reden können,
auch die Dummköpfe reden lassen muß und sogar die
Schurken. Die Frage ist, wie man sich dazu erzieht,
eine Wahl zu treffen, gewiß, auch weil man, wenn man es
nicht lernt, Gefahr läuft, vor den Büchern so hilflos
zu stehen wie Fines vor seinen unendlichen
Wahrnehmungen: Wo alles erinnernswert erscheint, ist
nicht mehr wertvoll, und man möchte am liebsten alles
vergessen. (S. 16)
Sich von Büchern scheiden lassen
Wie erzieht man sich dazu, eine Wahl zu treffen?
Beispielsweise indem man sich fragt, ob das Buch, das
man gerade in die Hand nehmen will, eines von denen
ist, die man nach der Lektüre wegwerfen wird. Sie
werden sagen, das könne man doch nicht wissen, bevor
man es gelesen hat. Aber wenn wir nach zwei oder drei
gelesenen Büchern merken, daß wir eigentlich keine Lust
haben, sie zu behalten, sollten wir unsere
Auswahlkriterien überdenken. Ein Buch wegzuwerfen,
nachdem man es gelesen hat, ist, wie wenn man eine
Person nicht wiedersehen will, mit der man gerade ein
sexuelles Verhältnis gehabt hat. Wenn das passiert, hat
es sich nur um ein körperliches Bedürfnis gehandelt,
nicht um Liebe. Es sollte jedoch gelingen, ein
Liebesverhältnis zu den Büchern unseres Lebens zu
entwickeln. Wo das gelingt, bedeutet es, daß es sich um
Bücher handelt, die sich zu einer intensiven Befragung
anbieten, bei der wir entdecken, daß sie uns bei jedem
Lesen etwas Neues enthüllen. Es handelt sich wirklich
um ein Liebesverhältnis, denn es ist ja das Stadium der
Verliebtheit, in dem die Verliebten mit Freude
entdecken, daß es jedesmal so ist, als ob es das erste
Mal wäre. Wenn man entdeckt, daß es jedesmal so ist,
als ob es das zweite Mal wäre, dann ist man reif zur
Scheidung oder, bei Büchern, zum Wegwerfen. (S. 17)
Perverse Bibliophile
Perverse Bibliophile lassen sich von der Liebe zu
diesen visuellen und taktilen Komponenten überwältigen,
so daß sie die Bücher, die sie sammeln, nicht lesen und
sie sogar, wenn sie noch unaufgeschnitten sind, nicht
aufschneiden, um ihren kommerziellen Wert nicht zu
mindern. Aber jede Leidenschaft erzeugt ihre eigenen
Formen von Fetischismus. Richtig ist jedoch, daß der
Bücherliebhaber den Wunsch haben kann, drei
verschiedene Ausgaben desselben Buches zu besitzen, und
manchmal beeinflußt die Verschiedenheit der Ausgaben
auch die Art, wie wir an die Lektüre herangehen.
(S. 17f.)
In Reichweite vieler Geldbeutel
Vielleicht wissen nicht alle, daß einige Ausgaben aus
dem sechszehnten Jahrhundert noch für den Gegenwert von
zwei Restaurantessen oder zwei Stangen Zigaretten zu
haben sind. Nicht immer ist es das Alter, das die
Bücher teuer macht, es gibt auch Liebhaberausgaben, die
vor zwanzig Jahren gedruckt worden sind und ein
Vermögen kosten, aber für den Preis eines Paars
Timberland-Stiefel kann man sich das Vergnügen leisten,
einen schönen Folioband im eigenen Bücherregal zu
haben, seinen Pergamenteinband zu betasten, die
Konsistenz seines Papiers zu befühlen, sogar den
Verlauf der Zeit und das Einwirken äußerer Kräfte zu
verfolgen anhand der Stockflecken, der
Feuchtigkeitsspuren, des Treibens der Würmer, die
manchmal lange gewundene Gänge durch Hunderte von
Seiten graben, deren Formen von großer Schönheit sein
können, ähnlich der Schönheit von Schneekristallen.
Auch verstümmelte oder beschädigte Exemplare können uns
oft dramatische Geschichten erzählen - der Name des
Verlegers getilgt, um den Härten der Zensur zu
entgehen, Stellen oder ganze Seiten von prüden Lesern
oder Bibliothekaren zensiert, bräunlich verfärbtes
Papier, weil die Ausgabe im Untergrund mit billigem
Material gedruckt worden ist, Zeichen einer langen
Lagerung womöglich in Klosterkellern, Signaturen,
Anmerkungen, Unterstreichungen, die von verschiedenen
Besitzern in mehreren Jahrhunderten künden... Aber man
kann auch, ohne von antiquarischen Kostbarkeiten zu
träumen, Bücher aus den zwei letzten Jahrhunderten
sammeln, indem man sich bei den Bouquinisten auf die
Suche macht, an den Bücherständen auf der Straße oder
auf einschlägigen Trödelmärkten, wo immer wieder auch
unaufgeschnittene Erstausgaben zu finden sind. Hier
liegt das Spiel in Reichweite vieler Geldbeutel, und
das Vergnügen besteht nicht nur in der Begeisterung
über die Trouvaille, sondern schon in der Suche selbst,
im Stöbern und Wühlen, im Klettern auf wackligen
Leitern, um zu sehen, was der Trödler auf jenem
obersten Regalbrett hat, wo seit Jahren nicht mehr
Staub gewischt worden ist. (S. 19)
Wider den Zeitgeschmack
Die Praxis der Neudrucke bietet somit keine Garantie,
wenn sie dem Markt überlassen bleibt. Aber noch
schlimmer wäre es, wenn eine Kommission von Weisen
entscheiden müßte, welche Bücher durch Neudruck vor dem
Vergessen gerettet und welche zum endgültigen Aus
verurteilt werden sollen. Wenn man sagt, daß der
Zeitgeschmack sich im Wert eines Buches häufig irrt,
muß man auch die Irrtümer der Weisen in Rechnung
stellen, das heißt die der Kritik. Hätten wir im
achtzehnten Jahrhundert auf Saverio Bettinelli gehört,
wäre Dante eingestampft worden. (Umberto Eco: Die Kunst
des Bücherliebens, S. 21)
Man fängt mit den Büchern an
Aber die Bücher sterben nicht nur von sich aus.
Manchmal werden sie auch zerstört. In den dreißiger
Jahren sind Bücher auf Scheiterhaufen verbrannt worden,
nachdem sie von den Nazis als "entartet" erklärt worden
waren. Gewiß war das eine symbolische Geste, denn nicht
einmal die Nazis hätten das gesamte Büchererbe ihres
Landes zerstören wollen. Aber symbolische Gesten sind
das, was zählt. Fürchtet diejenigen, die Bücher
zerstören, zensieren, verbieten: sie wollen unser
Gedächtnis zerstören oder zensieren. Wer meint, die
Bücher seien zu zahlreich und zu unkontrollierbar und
das pflanzliche Gedächtnis bleibe eine Bedrohung, der
zerstört am Ende animalische Gedächtnisse, Gehirne und
menschliche Körper. Man fängt immer mit Büchern an und
endet mit Gaskammern. (Umberto Eco: Die Kunst des
Bücherliebens, S. 23)
Stützende Schrift
Die Schrift hat das Gedächtnis nicht nur nicht
überflüssig gemacht, sondern sogar noch potenziert. Es
ist eine Schrift des Gedächtnisses und ein Gedächtnis
der Schriften entstanden. Unser Gedächtnis stärkt sich
dadurch, daß es sich an Bücher erinnert und sie
miteinander ins Gespräch bringt. Ein Buch ist nicht
eine Maschine zur Blockierung der Gedanken, die es in
sich aufnimmt. Es ist eine Maschine zur Erzeugung von
Interpretationen, also zur Hervorbringung neuer
Gedanken. (Umberto Eco: Die Kunst des Bücherliebens, S.
25)
Umberto Eco: Die Kunst des Bücherliebens. München: Carl Hanser, 2009. 200 S. ISBN: 3-446-23293-1
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