Bücher im Ostrogg


von Fedor M. Dostoervskij

In dieser letzten Zeit hatte ich größere Vergünstigungen als in all den anderen Jahren. In der Stadt waren unter den Offizieren Bekannte von mir, sogar alte Schulkameraden, mit denen ich wieder in Beziehung trat. Durch sie konnte ich jetzt auch in den Besitz von mehr Geld gelangen, konnte Briefe in die Heimat schicken und sogar Bücher erhalten. Mehrere Jahre schon hatte ich kein Buch gelesen. Es dürfte wohl jedem, der so etwas nicht selbst durchgemacht hat, schwer sein, sich vorzustellen, einen wie eigenartigen Eindruck das erste, im Ostrogg gelesene Buch auf mich machte. Ich begann am Abend zu lesen, nachdem man unsere Kaserne bereits geschlossen hatte, ich las die ganze Nacht bis zum Sonnenaufgang. Es war nur eine Nummer einer Zeitschrift. Wie eine Nachricht aus dem Jenseits kam sie mir vor. Das war ja doch mein ganzes frühere Leben, das sich jetzt klar und grell vor mir erhob, und ich bemühte mich, aus dem Gelesenen zu erraten, um wieviel ich zurückgeblieben war. Hatten sie viel dort ohne mich durchlebt? Was regt dort jetzt die Gemüter auf? Mit welchen Fragen beschäftigen sie sich jetzt? Ich dachte über jedes Wort nach, ich las zwischen den Zeilen, ich vermutete in jedem Satz einen geheimnisvollen Sinn, Anspielungen auf Früheres.

Ich suchte die Spuren von all dem, was früher, zu meiner Zeit, die Geister erregt hatte, und es tat mir so weh, an dieser Wirklichkeit sehen zu müssen, in welchem Maße ich in dem dortigen neuen Leben ein Fremder geworden war, ein abgeschnittenes, vergessenes Stück Leben. Jetzt mußte man sich an das Neue gewöhnen, sich mit der neuen Generation bekannt machen. Gierig las ich einen Artikel, unter dem ich den Namen eines meiner Bekannten fand, eines Mannes, der mir früher nahe gestanden hatte... Aber schon stieß ich auf neue Namen: es waren neue Größen erschienen. Fieberhaft wollte ich mehr von ihnen erfahren, sie näher kennenlernen, und es ärgerte mich entsetzlich, daß ich so wenig Bücher erhalten konnte, daß es so schwer war, sich welche zu verschaffen. Früher, unter den "Achtäugigen", wäre es sogar gefährlich gewesen, Bücher im Ostrogg zu haben. Bei einer Durchsuchung wären sie ihm unfehlbar in die Hände gefallen, und dann hätte er ohne weiteres gefragt: "Woher hast du die Bücher? Von wem? Du unterhälst hier also Beziehungen? ..." Was aber hätte ich auf diese Fragen antworten können? Und so vertiefte ich mich, da ich ohne Bücher leben mußte, in mich selbst, stellte mir Fragen, versuchte sie zu lösen, quälte mich bisweilen mit ihnen... Doch wer kann das alle wiedergeben!


Auszug aus: Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Piper 1996, S. 427f.


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