Die Leser auf der Stör


von Hermann Burger

Die Leser kommen auf Bestellung, wie die Klavierstimmer. Sie besuchen die herrschaftlichen Häuser, in denen es ein Bibliothekszimmer gibt. Sie tragen die Uniform des Leseinstituts "Legissima", ein weißes Hemd mit offenem Kragen und ein gelbseidenes, schwarzgetupftes Halstuch. Im Köfferchen führten sie die Lesebrillen mit sich. Zu den Aufgaben der Leser gehört es, die Bibliotheken zu stimmen, alte Bücher mit ihren Augen aufzufrischen und die neuen Bücher zu lesen. Sie kommen frühmorgens, wenn die Kinder noch bei der Ovomaltine sitzen. Für kleinere Bürogestelle genügt ein Leser, die Bibliotheken erfordern eine Lesermannschaft. In Filzpantoffeln schleichen sie durch den Flur ins Bücherzimmer. Der Oberleser klopft dreimal kurz an die Eßzimmertür, worauf die Mutter ihre Kinder zur Ruhe ermahnt. "Wir haben die Leser auf der Stör", flüstert sie. Die Leser packen ihre Brillen aus und machen sich an die Arbeit. Der Oberleser stimmt nach der neuesten Epocheneinteilung der Literaturgeschichten die Bibliothek. Je nachdem ob Hölderlin zu den Klassikern oder zu den Romantikern gezählt wird, reiht er ihn nach Schiller oder vor Novalis ein. Einmal beginnt die Moderne bei Büchner, ein andermal schon beim Sturm und Drang. Der Oberleser kontrolliert auch alle Bücher auf ihre Vollständigkeit. Die Kapitel werden nachgezählt, ihre Reihenfolge überprüft. Dann verteilt der Oberleser die Lesezeichen. Alle modischen Bücher werden mit einem Lesezeichen versehen, an beliebiger Stelle. Als Lesezeichen dienen gelbe Papierstreifen mit schwarzen Tupfer und einem großen L. Die kontrollierten Bücher werden auf der ersten Seite abgestempelt. Auf besonderen Wunsch des Hausherrn liest der Oberleser verstaubte Bücher aus allen Epochen, natürlich im Schnellleseverfahren. Für den Wilhelm Meister benötigt er drei Stunden. Die aufgefrischten Bücher erhalten einen Sonderstempel.

Eine Gruppe von Lesern liest die Neuerscheinungen durch. Die Bücher sind nach Verlagshäusern gestapelt. Jeder Leser ist auf einen Verlag spezialisiert. Viele Laute kaufen sämtliche Neuerscheinungen. In diesen Häusern bleiben die Leser tagelang, wochenlang auf der Stör. Jeweils zum schwarzen Kaffee erscheint ein Delegierter im Speisezimmer und berichtet dem Hausherrn von der Lektüre. In kurzen, prägnanten Formeln erfaßt er jedes Buch, bringt es auf einen Nenner. Der Hausherr notiert sich die Nenner in ein kleines Notizbuch, das die Frau aus dem Smoking holt und nach der Konferenz wieder in der Brusttasche verstaut. Dann kommen auch die Lücken der Bibliothek zur Sprache. Der Hausherr gewährt den Kredit, und einer der Leser sitzt am andern Morgen am Telephon, gibt die Bestellungen auf. Da die Neuerscheinungen im Bücherzimmer kaum zu bewältigen sind, werden die fehlenden Büchern "schon gelesen" bestellt. Auch die Buchhandlungen beschäftigen Berufsleser, welche an einem Stehpult im Ladenraum für jene Kunden lesen, die sich gelesene Bücher leisten können. Sie kommen deshalb teurer zu stehen, weil sie mit Nennern geliefert werden. Aber der Hausherr zeigt Verständnis für das überlastete Leserteam. Nach diesem Tischgespräch zieht sich der Delegierte wieder zurück. Alle Leser werden im Bücherzimmer verpflegt. Die Hausfrauen haben ihre Leser-Menüs: Schinkengipfel oder Siedfleischplatte. Nach dem Essen werden Simultankontraste an die Wand projiziert zur Erfrischung der Augen. Am späten Nachmittag empfängt der Oberleser die Schüler und Studenten des Hauses und informiert sie über die Neuerscheinungen. Manchmal kommt es vor, daß ein Schüler in seinem jugendlichen Idealismus zu einem Buch greifen will. "Nicht doch", sagt dann der Oberleser wie ein gut erzogener Kellner, der dem ungeduldigen Gast den Schöpflöffel sanft aus der Hand nimmt, "nicht doch!" Und er liest dem Schüler die gewünschte Stelle vor.

Neben diesen Gruppen von Lesern, die, in Polstersessel versunken, Neuerscheinungen aufarbeiten und sortieren, gibt es noch die Randnotare. Sie schreiben, je nach Mentalität des Hauses, mit Bleistift, Kugelschreiber oder Filzstift Notizen an den Rand der Seiten. Einige Stellen versehen sie mit Ausrufungszeichen, andere mit Fragezeichen. Sie unterstreichen ganze oder halbe Sätze, sie verteilen Zitate aus anderen Werken gleichmäßig auf die Kapitel. Sind die Randnotizen gemacht, gehen die Büchern durch die Hand des Coiffeurs, wie er in Fachkreisen genannt wird. Er bringt Eselsohren an, zerknittert ab und zu eine Seite und streicht sie wieder glatt, durchkämmt die Bücher mit groben Handschlägen, damit sie die Spuren eines durchschnittlichen Lesetempos tragen. So behandelt, kommen die Bücher wieder in die Hände des Oberlesers, der sie nach neuesten wissenschaftlichen Kriterien der Bibliothek angliedert. Daß diese Ordnungen vorläufig sind, weiß der Hausherr so gut wie das Leseinstitut "Legissima", das sich deshalb verpflichtet, außerhalb der Renovationsphasen einen Vertreter vorbeizuschicken, der die Bücher ordnungsgemäß umgruppiert. Diese Vertreter genießen bei den Hausfrauen, die ohnehin keine Zeit haben, Bücher lesen zu lassen, nicht den besten Ruf, weil sie oft ungelegen hereinschneien. Sie zeigen denn auch das unterwürfige Gebaren von Hausierern. Die Frauen sagen unter der Tür: "Könnt Ihr nicht ein andermal kommen?, worauf die Vertreter lächelnd die Achseln zucken und die weißen Handschuhe wieder von den Fingern zupfen.

Nach beendigter Stör ziehen die Leser am Abend zum letzten Mal die Filzpantoffeln aus. Der Hausherr schreitet mit dem Oberleser durch die renovierte Bibliothek und hat das Gefühl, ein geistig neuer Mensch zu sein. Während die Leser im Flur mit der Frau, deren Jüngstes am Schürzenzipfel hängt, über den Personalmangel am Leseinstitut diskutieren, zeigt der Oberleser mit dem Stolz eines Tapeziermeisters auf die renovierten Bücherwände, auf den Wald von Lesezeichen, auf die Epochen, die sich von Regal zu Regal neu verbunden die Hände reichen. Zwecks einer Stichprobe, die nicht als Kontrolle gedacht ist, sonderm vom Oberleser gefordert wird, greift der Hausherr eine Neuerscheinung heraus: das Buch zeigt keinerlei Anzeichen von Jungfräulichkeit. Rücken um Rücken strahlen die Bände die vertrauliche Autorität gelesener Bücher aus, keines beklagt sich über eine fremde Nachbarschaft. Die Klassiker sehen nicht nur gebraucht, sondern geradezu mißbraucht aus. "Wir müssen mit der Zeit dazu kommen", sagt der Oberleser nach dem Rundgang, "daß die Bücher einander selber lesen. Die Literatur ist es, die fortwährend neue Literatur produziert, sie soll sie auch konsumieren. Bald können Sie sich die Handwerker ersparen!" Der Hausherr nickt gewichtig zu dieser Sentenz, verwirft aber die Utopie mit einer freundlichen, fast kameradschaftlichen Handbewegung, so daß die Aschenraupe seiner Zigarre abfällt. Er schätze sich glücklich, finanziell in der Lage zu sein, seine Bücher noch lesen zu lassen. Beim Abschied vereinbart er mit dem Oberleser den nächsten Termin. Der Oberleser kann nichts versprechen, hofft aber in Anbetracht der zuverlässigen Kundschaft des Hausherrn, diesen unmittelbar nach den Herbstneuerscheinungen des nächsten Jahres berücksichtigen zu können.


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