Verrückt nach Büchern

Lebenserfahrungen von Anatole Broyard


Die letzte Zuflucht
Bücher waren unsere Kleidung
Seriell monogam


Die letzte Zuflucht

Ein dünner, intensiver junger Mann mit Schnurrbart kam in den Laden und gab mir eine Lektion in bibliophiler Etikette. In einem Buchladen, sagte er, sollte eine fast kirchliche Atmosphäre herrschen. Man sollte darin den Geruch oder den Duft ausgelöschter Kerzen, Kühle, das Ruhen eitlen Tuns, ja Zerknirschung verspüren. Er schaute auf die Regale, den Boden, die gestanzten Zinndecke. Hier ist es zu sauber, sagte er, zu heiter. Ich hatte mir ausgemalt, ich würde in meinem Laden sitzen wie der heilige Hieronymus im Gehäuse, über Bücher gebeugt, mit dem gezähmten Löwen der besiegten Ruhelosigkeit zu Füßen. Meine Kunden würden in beflissenem Schweigen kommen und gehen und nur kurz, mit abgewandtem Blick, verharren, um das Geld auf meinem Schreibtisch zu hinterlassen. Aber es kam anders. Für viele Menschen ist ein Buchladen die letzte Zuflucht, eine moralische Absteige, das hatte ich mir nicht klargemacht. Viele meiner Kunden gehörten zu der Sorte von Menschen, die erst dann in einen Buchladen gehen, wenn alle anderen Versuche, sich zu zerstreuen, fehlgeschlagen sind. Wer keine Freunde, keinen Spaß, keinen Rückhalt hatte, kam zu mir. Sie kamen, um die Schrift an der Wand, die neuesten schlechten Nachrichten zu lesen. Sie musterten die Regale wie Leute, die Namen auf einem Kriegerdenkmal studieren.

An der Art, wie eine bestimmte Person ein Buch vom Regal nahm, wie es geöffnet und beschnüffelt wurde, war etwas, was in mir den Wunsch erweckte, es dem Betreffenden aus der Hand zu reißen. Andere wieder griffen zu Büchern, die ganz offensichtlich ihr Fassungsvermögen überstiegen. Ich konnte an ihren Gesichtern, ihren Kleidern, ihren Manieren, an der Art, wie sie sich bewegten, ablesen, daß sie das Buch mißverstehen oder von ihm nichts haben würden. Oft ist die Person, die ein Buch kauft und vorgibt, es mit Genuß zu lesen, exakt der Typ, der in dem Buch karikiert oder angegriffen wird. "Wenn eine Person von durchschnittlicher Intelligenz und unzulänglicher literarischer Ausbildung eines meiner Bücher öffnet und vorgibt, seine Freude daran zu haben, muß ein Irrtum vorliegen", sagte Mallarme. "Die Dinge müssen wieder an ihren Platz." Es waren die Schwätzer, die mir den größten Ärger machten. Wie die Leute, die mir ihre Bücher verkauft hatten, wollten die Schwätzer mir ihr Leben, die Vorstellungen, die sie von sich selbst hatten, ihre Philosophien verkaufen. Sie nahmen sich ein Beispiel an den Autoren in den Regalen - vielleicht waren sie auch von ihnen angesteckt und erzählten mir von ihren Familien, ihren Liebesaffären, ihren Wunschträumen und Enttäuschungen. Ich war entrüstet. Fast hätte ich gesagt: Einen Moment! Ich habe schon genug Geschichten hier! Schauen Sie sich die Regale da an!


Bücher waren unsere Kleidung

Mir ist klar, daß die Menschen heute immer noch Bücher lesen und daß es auch noch Büchernarren gibt, aber was wir 1946 im Village für Bücher empfanden - ich spreche jetzt von mir und meinen Freunden -, ging über Liebe hinaus. Es war, als hätten wir nicht gewußt, wo Bücher anfangen und wo sie enden. Bücher waren unser Wetter, unsere Umwelt, unsere Kleidung. Wir lasen sie nicht nur; wir wurden zu Büchern. Wir nahmen sie in uns auf und formten aus ihnen unsere Geschichten. Es wäre einfacher zu sagen, wir hätten uns in die Welt der Bücher geflüchtet, aber in Wahrheit hatten die Bücher Besitz von uns ergriffen. Bücher waren für uns, was die Drogen für junge Männer in den sechziger Jahren waren. Sie zeigten uns, was möglich war. Wir hatten mit dem gelebt, was gerade zur Hand war, mit dem Gegebenen, die Bücher führten uns in weite Fernen. Wir hatten nur heimische Gefühle gekannt, und die Bücher zeigten uns, was mit Gefühlen geschieht, wenn sie heimatlos sind. Die Bücher gaben uns Halt - junge Menschen sind so unausgeglichen, daß jede Kleinigkeit sie zu Fall bringen kann. Die Bücher stabilisierten uns; es war, als trügen wir eine schwere Tasche in jeder Hand, Taschen, die uns im Gleichgewicht hielten. Sie verliehen uns Schwerkraft. Wären die Bücher nicht gewesen, wir wären dem Sex völlig ausgeliefert gewesen. Es gab kaum etwas anderes, was stark genug war, uns davon abzulenken oder abzubringen, wir wären vor Gier auf allen vieren gekrochen, wir hätten uns ununterbrochen vor Verlangen gewunden. Die Bücher ermöglichten es, uns selber als Romanfiguren zu betrachten -ja, wir waren Romanfiguren! -, und das gab uns eine gewisse Kontrolle.


Seriell monogam

Dick war in mehr als einer Hinsicht skurril. Bei seiner Lektüre zum Beispiel war er seriell monogam. Er verliebte sich in einen speziellen Autor und blieb ihm treu, indem er alles über und von ihm las. Er wurde wie dieser Autor, er sprach so wie er, dachte wie er und kleidete sich womöglich auch so. Wenn Dick herausfinden konnte, was sein aktueller Favorit gegessen und getrunken hatte, aß und trank er dies auch. Er übernahm seine politischen Überzeugungen, seine Ansichten, seine exzentrischen Gewohnheiten. An einem bestimmten Punkt seiner D.H.-Lawrence-Phase - das war nach der Yeats- Phase und auch nach der Auden-Phase - reiste Dick tatsächlich nach Mexiko und versuchte, die Fußspuren von Lawrence im Staub zu finden. Er war ein sehr rascher Leser, so daß diese Liebesaffären fast so schnell gingen, wie sie kamen. Kein Autor kann diese Form von Identifikationen längere Zeit überleben. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 30)


Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, Berlin: BvT, 2003


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