Bücher als Mobiliar


von Joseph Brodsky

Wir lebten zu dritt in diesen unseren eineinhalb Zimmer: mein Vater, meine Mutter und ich. Eine Familie, in der damaligen Zeit eine typisch russische Familie. Es war die Zeit nach dem Krieg, und wenige Leute konnten sich mehr als ein Kind leisten. Einige konnten sich nicht mal ihren Vater leisten, als Lebenden oder Anwesenden. Gewaltige Schrecken und Krieg suchten ihre Opfer in den großen Städten, in meiner Vaterstadt besonders. Also hätten wir uns glücklich schätzen müssen, zumal wir Juden waren. [...] Unsere eineinhalb Zimmer waren Teil eines riesigen Komplexes, ein Drittel eines Blocks, ander Nordseite eines sechsstöckigen Gebäudes, das drei Straßen und einem Platz gegenüber lag. Das Gebäude war eines dieser Trumms von Torten im sogenannten maurischen Stil, In Nordeuropa Kennzeichen der Jahrhundertwende. Baujahr 1903, Geburtsjahr meines Vaters, und es galt als die architektonische Sensation in dem St. Petersburg jener Zeit, und die Achmatowa hat mir einmal erzählt, daß ihre Eltern sie in eine Kutsche gepackt haben, um dieses Wunderwerk zu betrachten. An der Westseite, die an einem der berühmtesten Boulevards der russischen Literatur lag, dem Liteiny Prospekt, hatte Alexander Blok einmal eine Wohnung. Und in unserem Komplex wohnte ein Paar, das die vorrevolutionäre russische Literaturszene und auch später in den zwanziger und dreißiger Jahren das intellektuelle Klima der russischen Emigranten von Paris bestimmten: Dimitri Merezhovsky und Zinaida Gippius. Und vom Balkon unserer eineinhalb Zimmer hat die larvenhafte Zinka den revolutionären Matrosen Beschimpfungen an die Köpfe gedonnert. Nach der Revolution, gemäß der Politik des "Dichtmachens" der Bourgeoisie, wurde der Komplex in Stücke aufgeteilt, pro Zimmer eine Familie. Wände wurden zwischen den Zimmern eingezogen, zunächst aus Sperrholz, später, im Laufe der Jahre, haben Bretter, Backsteine und Stuck diese Trennwände in den Status architektonischer Norm erhoben. Sollte es eine Unendlichkeitsvorstellung von Raum geben, dann ist es nicht die seiner Expansion, sondern seiner Reduktion. Schon allein darum, weil die Reduktion des Raumes, seltsam genug, immer kohärenter ist. Sie ist besser strukturiert und hat mehr Namen: Zelle, Wandschrank, Grab. Ausdehnungen haben nur einen großspurigen Gestus.

Meine Hälfte war mit ihrem Zimmer durch zwei große Bögen, fast Deckenhöhe, verbunden, die ich ständig mit verschiedenen Kombinationen von Bücherregalen und Koffern zu füllen versuchte, um einen gewissen Grad an Privatheit zu schaffen. Man kann nur von Graden reden, weil Höhe und Breite dieser beiden Bögen, mitsamt der maurischen Ausgestaltung des oberen Randes, jeden Gedanken an vollkommenen Erfolg ausschlossen. Natürlich hätte man sie mit Backsteinen ausfüllen oder mit Brettern verkleiden können. Aber das war gesetzwidrig, denn es wäre darauf hinausgelaufen, daß wir zwei statt der eineinhalb Zimmer gehabt hätten, zu denen wir laut Bezirkswohnungsamtsweisung nicht berechtigt waren. Abgesehen von den ziemlich häufigen Kontrollen durch unseren Gebäudwart, hätten uns die Nachbarn, ganz gleich, wie gut wir miteinander auskamen, im Nu den zuständigen Behörden gemeldet. Man mußte eine Lösung entwerfen, und damit war ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr beschäftigt. Ich habe alles Sorten von schwachsinnigen Arrangements ausprobiert und habe einmal sogar erwogen, ein vier Meter hohes Aquarium einzubauen, mit einer Tür in der Mitte, die meine Hälfte mit dem Zimmer verbinden sollte. Versteht sich, diese architektonische Meisterleistung überstieg meinen Horizont. Die Lösung war dann, immer mehr Bücherregale auf meiner Seite und mehr und dazu dickere Schichten von Vorhängen auf der Seite meiner Eltern. Selbstverständlich hat ihnen weder die Lösung noch die Art des Problems an sich gefallen. Mädchen und Freunde nahmen zahlenmäßig langsamer zu als die Bücher: Außerdem, Bücher waren da, um zu bleiben. Wir hatten zwei Schränke mit lebensgroßen, in die Türen eingebauten Spiegeln. Ansonsten waren die Schränke durchschnittlich. Aber ziemlich groß waren sie und haben schon mal die Hälfte ihrer Aufgabe erledigt; um sie herum und darüber habe ich die Regale gebaut und nur eine enge Lücke freigelassen, durch die meine Eltern sich in meiner Hälfte zwängen konnten und umgekehrt.

Mein Vater war entschieden gegen dieses Arrangement, zumal er seine Dunkelkammer am hintersten Ende meiner Hälfte eingerichtet hatte, wo er entwickelte und Abzüge machte, das heißt, wo der große Teil unseres Lebensunterhaltes herkam. An diesem Ende meiner Hälfte war eine Tür. Wenn mein Vater nicht in seiner Dunkelkammer arbeitete, benutzte ich die Tür zum Kommen und Gehen. "Um euch nicht zu stören", sagte ich meinen Eltern, aber eigentlich wollte ich ihrer Musterung entkommen und der Unumgänglickeit, ihnen meine Gäste vorstellen zu müssen oder umgekehrt. Zur Verschleierung dieser Art von Besuchen hatte ich ein elektronische Grammophon, und ganz allmählich wuchs der Haß meiner Eltern auf J.S. Bach. Viel später, als Bücher und das Bedürfnis nach Privatleben aufregend zunahmen, teilte ich meine Hälfte weiter auf, und ich platzierte jene Schränke so, daß sie mein Bett und meinen Schreibtisch von der Dunkelkammer trennten. Zwischen die beiden zwängte ich einen dritten Schrank, der sich im Gang rumtrieb. Die Rückwand riß ich heraus, die Tür ließ´ich unangetastet. Das Ergebnis war, daß ein Gast meinen "Lebensraum" durch zwei Türen und einen Vorhang betreten mußte. Die erste Tür war die, die auf den Korridor führte, dann war man in die Dunkelkammer meines Vaters versetzt und mußte den Vorhang wegschieben; daraufhin hatte man die Tür des ehemaligen Schranks zu öffnen. Oben auf den Schränken stapelte ich sämtlich Koffer, die wir besaßen. Es waren viele, doch reichten sie nie bis an die Decke. Der Endeffekt glich einer Barrikade; dahinter aber fühlte sich der Gassenjunge sicher, und eine Marianne konnte mehr als nur ihre Brust entblößen.

Der düstere Blick, den meine Mutter und meine Vater auf diese Umgestaltung warfen, hellte sich etwas auf, als sie das Geklapper meiner Schreibmaschine hinter der Barrikade zu hören begannen. Die Vorhänge dämpften es beträchtlich, aber nicht vollständig. Die Schreibmaschine mit russischer Tastatur gehörte auch zur China-Beute meines Vaters, aber er hatte kaum damit gerechnet, daß sein Sohn sie benutzen würde. Sie stand auf meinem Schreibtisch, in die Nische geklemmt, die durch die Tür, die einmal unsere eineinhalb Zimmer mit dem übrigen Komplex verbunden hatte, aus Backsteinen entstanden war. Damals kamen mir die zusätzlichen dreißig Zentimeter sehr zustatten: Da meine Nachbarn ihr Klavier auf der anderen Seite der Tür aufgestellt hatten, mußte auf meiner Seite gegen die Klimperei der Tochter ein Hängeregal als Befestigung dienen, das auf meinem Schreibtisch aufsaß und genau in die Nische paßte. Zwei Spiegelschränke und dazwischen ein Durchgang, auf der anderen Seite das hohe, zugehängte Fenster mit dem Fensterbrett, genau sechzig Zentimeter über meiner ziemlich geräumigen braunen kissenlosen Couch; der Bogen dahinter bis zum maurischen Rand mit Bücherregalen gefüllt; das nischenerfüllende Bücherregal und mein Schreibtisch mit der "Royal Underwood" vor der Nase - das war meine "Lebensraum". Meine Mutter hielt ihn sauber, mein Vater durchquerte ihn, wenn er in seine Dunkelkammer ging oder von da zurückwollte; ab und zu kamen sie herein, um nach einem verbalen Scharmützel in meinem abgewetzten, aber tiefen Sessel Zuflucht zu suchen. Im übrigen aber gehörten diese zehn Quadratmeter mir, und sie waren die besten zehn Quadratmeter, die ich überhaupt gekannt habe. Wenn Raum seine spezifische Vorstellungskraft und seine eigene Ausstrahlung hat, so besteht die Chance, daß einige dieser Quadratmeter sich liebevoll an mich erinnern. Jetzt besonders, unter anderen Füßen.


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]